11 Fakten über Progressive Rock
1 Er hatte mal einen guten Namen. Progressive Rock (kurz: Progrock; für Freunde: Prog) bezeichnete in der „Goldenen Ära“ von ca. 1969 bis Mitte der 70er das Bestieben abenteuerlustiger Bands, eingefahrene Strukturen zu transzendieren und – beeinflußt von Klassik, Folk, Jazz und Avantgarde – dahin zu gehen, wo nie ein Rock zuvor gewesen war. Prog war hip.
2 Ohne Prog würden wir immer noch alle Rockabilly hören. Prog hatte seine Wurzeln bei Leuten wie den Beatles, Kinks, Who, Wilson, Hendrix, Zappa et al., die Mitte der 60er begannen, über den Tellerrand von Beat, R’n’B, Bluesrock hinauszuhorchen. Plötzlich war alles psychedelisch, dann machte einer die Kiste mit Tolkien, Kierkegaard, Miles Davis und Strawinsky auf. Viel Neuland ward erschlossen, auf dem sich heute einige unserer besten Bands tummeln. Und woher hätte Punk seine Wucht genommen, hätte es nicht den Mitte der 70er degenerierten Moloch Prog zu sprengen gegolten?
3 Prog hat auch viel Unheil angerichtet. Ende der 70er war Progrock als Synonym für aufgeblasenes Streber-Gedudel zum Schimpfwort verkommen. Durch die Greuel der Enkel in den 80/90ern sind auch die Großtaten der 70er in Verruf geraten. „Prog, geht gar nicht“, sind sich weiter viele Hipster einig.
4 Es ist Zeit für eine Rehabilitation des Prog. Finden z.B. die erklärten 70s-Prog-Fans The Mars Volta. Dafür könnten auch schwer proggende Leute wie Doves, Muse, Radiohead, Sigur Ros, Elbow, Fiery Furnaces, Billy Corgan, System Of A Down, Tool etc. eintreten. Aber man hat wohl Angst vor dem bösen Wort.
5 Prog kann lange „Songs“. Wenn er richtig loslegt, dann gern anhand durchkomponierter Suiten. Mike Oldfields „Tubular Bells“ (48:50 Min.) und Jethro Tulls „A Passion Play“ (44:50) und „Thick As A Brick“ (43:50) füllten ganze Alben. Beliebter sind (vinyl-)albumseitenlange Stücke wie Emerson, Lake &. Palmers „Tarkus“ (20:40), Pink Floyds „Echoes (23:31) und „Atom Heart Mother“ (23:44), Genesis‘ „Supper’s Ready“ (22:51) und Van der Graaf Generators „A Plague Of Lighthouse Keepers“ (23:05). Die Könige des seitenlangen Songs sind Yes: Nach „Close To The Edge“ (18:40) und vor „The Gates of Delirium“ (21.55) holten sie mit TALES FROM TOPOGRAPHIC OCEANS ’73 zum großen Schlag aus: Das 81 Minuten lange Doppelalbum umfaßt ganze vier Stücke.
6 Es ging nicht primär ums Fiedeln. Obgleich Prog für ausufernde Soli berüchtigt ist, ging es nicht zuvorderst um Virtuosität, sondern um Komplexität und stilistische Expansion. Die jungen Genesis etwa begriffen sich vor allem als Songwriter mit eher bodenständiger technischer Begabung.
7 Es ging schon auch ums Fiedeln. Prog lebte nicht zuletzt von exzentrischen Instrumentalisten. Für Yes‘ „Close To The Edge“ brachte Rick Wakeman eine ausgewachsene Kathedralenorgel ins Spiel. King-Crimson-Kopf Robert Fripp entwickelte seine eigenen Effektgeräte, die „Frippertronics“. Mike Oldfield spielte fast alle ca. 20 Instrumente auf TUBULAR BELLS selber, in 1.800 Takes. Rush-Drummer Neil „The Professor“ Pearts urwaldesk unüberschaubarer Kit gab den eigenen Bandkollegen Rätsel auf. Keith Emerson ließ sich die Synthesizer, die er live ad nauseatum zerorgelte und auch mal mit dem Messer bearbeitete, state-of-the-art-mäßig von Moog direkt bauen.
8 Prog tut gern ernst. Songs über Sex und schnelle Autos gab’s ja schon: Progger wie Yes (die frühen), King Crimson, Gentle Giant und Rush zogen Inspiration aus gravitätischer Fantasy/SciFi-Literatur, Philosophie, Mythen oder wandten sich – gern in Konzeptalben -Themen wie Existentialismus und Wahn (Floyds Dark Side Of The Moon) und der Entfremdung im Technikzeitalter (Genesis‘ Selling England By The Pound, ELPs BRAIN SALAD SURGERY) zu. Van Der Graaf Generator sangen über die Inquisition, Rick Wakeman vertonte mit Orchester Jules Vernes JOURNEY TO THE CENTER OF THE EARTH. Und The Mars Volta heute? Frag nicht nach Sonnenschein!
9 Prog hatte schräge Klamotten. Peter Gabriels Bühnenkostüme bei Genesis – von Fuchs- und Sonnenblumen-Masken bis hin zum unförmigen Kostüm des Slipperman, das es ihm fast unmöglich machte, in sein Mikro zu singen – waren seinen Bandkollegen anfangs peinlich. Rick Wakeman rodelte im wogenden Zauberer-Cape in seiner Synthi-Burg herum. Jethro Tull pflegten den „Verarmte Landedelmänner aus dem 18. Jahrhundert“-Look, und Keith Emerson lief gern im silbernen Neopren-Ritterrüstung-Anzug auf.
10 Punk haßt Prog. Nicht so sehr. John Lydon und Mark E.Smith waren Van-Der-Graaf-Fans, Lydon trug zwar sein „I Hate Pink Floyd“-T-Shirt, gestand aber später, Floyd gemocht zu haben. Heute gehen Punk/Alternative-Sensibilität und Prog- Experimentierfreude frei von Ideologie aufs schönste Hand in Hand; siehe Radiohead, The Mars Volta, Elbow etc.
11 Prog muß man probiert haben. Schnupper-Tips: Pink Floyd Dark Side Of The Moon; Genesis Foxtrot; Yes CLOSE TO THE EDGE; King Crimson IN THE COURT OFTHE CRIMSON KING; Jethro Tull Aqualung; Van der Graaf Generator Pawn Hearts; Tubular Bells von Mike Oldfield.