1991 Ein ganz besonderer Duft


Es liegt was in der Luft, ein ganz besondrer Duft. Eine schäbiger, trashiger, der so gar nichts Glamouröses an sich hat. Die herrliche Revolution, sie riecht nach billigem Mädchenparfüm.

Spätestens seit der Ankunft der Pixies 1987 ist in den USA, wo Punk immer strikt eine Sache des Untergrunds geblieben war, ein alternativer, frischer Geist im Rock auch immer mehr über diese exklusiven Zirkel hinausgeblubbert. Ein gewisses kommerzielles Potential ist längst erkannt worden, Bands wie Sonic Youth und Dinosaur Jr. haben bei Anbruch der 90er Major-Verträge, im Sommer 1991 wird das von Jane’s-Addiction-Querdenker Perry Farrell erstmals organisierte alternative „Lollapalooza“-Wanderfestival ein Überraschungserfolg in den USA.

Auf breiter Front regiert aber weiter der saturierte Schlock der 80er: Das Wildeste, was der Breitenrock der hungrigen Jugend zu bieten hat, sind Guns N‘ Roses, die innerhalb weniger Jahre von der anarchischen Kraftzelle zur dekadenten Neurorjker-Truppe degeneriert sind, die diesen Sommer zwei langatmige Doppelalben veröffentlicht und dann auf blödbombasnsche Stadion-Tour geht. Sie dürfen sich auf ihre baldige Implosion vorbereiten, denn es steht eine Zeitenwende an.

Eine neue Generation – bald schon wird ihr das Etikett „Generation X“ aufgepappt werden, geliefert von Douglas Coupland, der in seinem gleichnamigen Debütroman eine perspektivlose Jugend beschreibt, die jeglichen Halt verloren hat hat nichts zu schaffen mit verblasenem Pomp und Mainstream-Eskapismus, sie sehnt sich danach, ernst genommen, verstanden zu werden. Von etwas gepackt zu werden. Mit anderen Worten: Die USA scheinen nach all den Jahren reif für eine Art Punk-Revolution. „1991:The Year Punk Broke“ werden Sonic Youth mit einigem Sarkasmus einen Dokumentarfilm betiteln, der sie im Herbst 1991 auf Tour zeigt mit der Band, die jetzt zum Katalysator der Veränderung wird. Im September zündet in die brodelnde Atmosphäre, in der Bands wie Soundgarden, Mudhoney und die Newcomer Pearl Jam Blicke auf die eigenständige Rockszene in der verschlafenen Hafenstadt Seattle gelenkt haben, der Funke, der die Explosion auslöst: „Smells Like Teen Spirit“ die erste Single vom zweiten Album des Seattier Trios Nirvana, wird der dunkelste, rauheste, härteste Rocksong, der je in den Spitzen der US-Charts zu hören war. Kurt Cobain, ein komplexbeladener Junkie mit goldenem Händchen für Melodien, der den Indie-Geist von ihm verehrter Bands wie Sonic Youth, Pixies und Melvins jetzt in die höchsten Chartsränge trägt, wird mit seiner widersprüchlichen Verweigerungshaltung und engelsgleichen Zügen eine Integrationsfigur, der neue Typ Rockstar, der sich prima als „Sprachrohr“ wider Willen dieser Generation X stilisieren lässt. Der Erdrutsch, den das Album nevermind, von dem sich das Label Geffen realistische 100.000 Verkäufe erwartet hat und das über die nächsten Monate zum globalen Millionenseller wird, lostritt, verändert rapide die Rockwelt. Was eben noch mit Spitzen Fingern angefasster Underground-Shit war, ist jetzt als „Alternative Rock“ massentauglich und verdrängt die altvorderen Platzhirsche.

Symbolisch für die Zeitenwende, steht Ende November der Tod von Freddie Mercury, der das Ende von Queen, einem klassischen Stadion-Act der 8oer Jahre markiert. Von drei Rock-Gigantosauren, die ’91 Alben veröffentlichen, ist letztlich nur der überlebensfähig, der sich neu erfindet: Genesis und Dire Straits sind nach WE CAN’T DANCE bzw. ONEVERY STREET auf längere Sicht Auslaufmodelle. Bono und U2 haben in der kreativen Sackgasse von RATTLE AN D HuM Ende der 80er den Hauch der Pixies verspürt, sich von elektronischer Musik beeinflussen lassen und präsentieren sich auf Achtung baby als völlig neue Band.

Neue potentielle Stadion-Füller sind Bands wie R.E.M., die sich die 80er hindurch hoch gearbeitet hat, ohne ein Jota Glaubwürdigkeit preiszugeben, die einen Indie-Ethos verkörpern, den auch das recht zugängliche Album OUT of time nicht ankratzen kann, mit dem sie sich jetzt weltweit in den Charts wiederfinden. Ihre Zeit ist reif. Genau wie die der Red Hot Chili Peppers, die im zehnten Jahr ihres Bestehens über den Türöffher „Under The Bridge“mitihrem Meisterwerk bloodsugar-SEXM agik den großen Durchbruch schaffen und mit Pionieren wie Faith No More ein Genre etablieren, das die 90er mit dominieren wird: Crossover – Metal trifft HipHop und Funk. Den ondulierten Hair-Metallern läuft über Nacht die Klientel weg, in die Arme von Aggro-Monstern wie Pantera, Heimet, Rollins oder Ministry. Metallica feiern zwar mit ihrem schwarzen Album den großen Durchbruch, aber auch sie wird der neue Wind demnächst in kreative Lähmung stürzen.

Die Musikindustrie muss umdenken. Bands wie die eben gegründeten Radiohead, die noch vor Kurzem zum Verrotten in ihren Übungsräumen verdammt gewesen wären, bekommen jetzt Chancen, Plattenverträge. In England, wo nach der Madchester-Euphorie von ’89/’9o Katerstimmung eingezogen ist, wirkt sich der Grunge-Hype mithin in unerwarteter Weise förderlich aus: „Grunge warder Feind“, sagt später Dämon Albarn, der mit seiner Band Blur Anfang der 90er fleißig an einem Gegenentwurf zum röhrenden Ami-Rock feilt— der Britpop lugt bereits um die Ecke.

Hierzulande regen sich vor allem in Hamburg Gegengewichte zum dominierenden Westernhagen-Deutschrock. Das Label L’Age D’Or prosperiert, Jochen Diestelmeyer gründet Blumfeld, die zu einer inspirierenden Kraft für viele Jungbands werden; die Goldenen Zitronen mutieren in diesen Jahren, da das frisch wiedervereinte Deutschland vor eklen Rechtsrücken erbebt, zur verlässlichst großartigen und politisch relevantesten Avant-Punk-Band, die wir heute noch haben.

Und bei all dem Rock sollte man nicht vergessen, was darüber hinaus noch geht. In Bristol heben Massive Attack mit ihrem epochalen Debüt blue LINES die DJ-Musik auf eine neue Ebene und schieben Trip-Hop an, während auch in Deutschland immer gerappt wird und mit JETZT GEHT’s ab das erste Album der Fantastischen Vier erscheint. Und mit The Orb, LFO, Orbital und Nightmares On Wax legen Acts ihre Debüt-Alben vor, die in den goern elektronische Musik über die Zirkel der Dance-Szene hinaustragen werden. 1991, ein Jahr, das man sich einrahmen möchte. Obwohl es komisch riecht.