Verhasster Klassiker

20 Jahre K.O.O.K.: Als Tocotronic die Band wurden, die mit einem Schluss gemacht hat


Linus Volkmann verreißt Klassiker der Pop- und Rockgeschichte. Heute: K.O.O.K. von Tocotronic. Ein Album, das heute, am 26. Juli 2019, seinen 20. Geburtstag feiert.

Seit Anfang 2019 schmeißt unser Autor Linus Volkmann eine Kolumne bei uns, in der er regelmäßig – seit ein paar Wochen im Wechsel mit Julia Lorenz – auf die jeweils zurückliegende Popwoche blickt. Eine der darin auftauchenden Kategorien heißt „Verhasster Klassiker“, und man raunt sich im Internet zu, dass sich die Kolumne schon (oder wahlweise nur) wegen dieses Rants gegen Platten, die angeblich jeder mag, jede Woche aufs Neue lohne. Und sei es nur, um Linus zu beleidigen!

Als Services des Hauses stellen wir die „Verhassten Klassiker“ nachträglich auch einzeln heraus. Den Anfang machte das fünfte, im September 1991 erschienene Album der Red Hot Chili Peppers, BLOOD SUGAR SEX MAGIK. Weil dieser Aufreger Eure Gemüter schon so reflexartig erhitzte, legten wir mit einer anderen vermeintlich unantastbaren Band nach: „Prätentiöse Kacke“ – so verriss Linus Volkmann ungehört das neue Tool-Album, das angeblich wirklich dieses Jahr erscheinen soll. Weiter ging es mit dem Debüt einer weltweit erfolgreichen Rockgruppe, die damals noch keine war: FOO FIGHTERS, das vom „sympathischsten Kerl im Rock’n’Roll“, Mr. Nice Guy Dave Grohl, fast im Alleingang eingespielte erste Album der Foo Fighters. Dann geschah die unglaublichste aller Unglaublichkeiten: Linus Volkmann zog über die von unserer Redaktion teilweise angeblich, teilweise aber tatsächlich verehrten Radiohead her. Über RADIOHEAD! Beim Musikexpress!! Was würde als Nächstes kommen? Oasis? Jep. Genau das kam. Es folgten die Gorillaz, ein vermeintlicher Klassiker des Deutschraps„die größte Indierockband der Welt“ (musikexpress.de), die „größte Rockband der Welt“ (ebenfalls Musikexpress), ein „Meilenstein des Stonerrock“, eine Hardrockband, deren Musik leider nichts von deren Lifestyle abgekriegt hat – und nun einen Klassiker der Hamburger Schule zu einem besonders gemeinen Anlass: K.O.O.K. von Tocotronic wird heute, am 26. Juli 2019, 20 Jahre alt. Aber was soll’s: Abgefeiert haben wir die Platte und die Band erstens dahinter ja schon oft genug. Und zweitens hat Linus hier eh eine heimliche Liebeserklärung in den Zeilen versteckt.

DER VERHASSTE KLASSIKER: Tocotronic

Tocotronic
„K.O.O.K.“
(1999)

Was musste man die frühen Tocotronic lieben, oder? Wie sie da vor unseres- beziehungsweise ihresgleichen standen, in ihren speckigen Cordhosen und den sentimentalen Trainingsjacken (eine Nummer zu klein – ist man immer perfekt angezogen). Tranken Bier und Sinalco aus der Flasche und guckten unter nachlässigen wie nachdrücklichen Scheiteln hervor.

Arne Zank war das Pin-Up einer neuen Generation linkischer Bachelor-Studis, selbst wenn es diesen Abschluss zu der Zeit noch nicht mal gab.

Herr Student, es brennt!

Ja, und zwar im Herzen. Ich will Bier aus dem Mund von Dirk von Lowtzow trinken. Er gibt mir das Gefühl, mein total banales Coming-Of-Age-Gehubere sei in Wahrheit Lo-Fi-Poesie und der scheißöde Struggle hier im Reihenhaus meiner Eltern krass dramatisch.

Tocotronic verleihen dem Hörer Bedeutung. Das macht sie heiß begehrt. Tocotronic, das war für Deutschland auch die Geburt des Nerds. Ganz vorne dabei wollte auch ich das mit dieser Band verknüpfte Versprechen einlösen: eine eigene Jugendbewegung sein. Und was für eine! Fresh, pathetisch und gebaut auf dem Fundament all der unzähligen zitierfähigen Zeilen der ersten vier Toco-Platten. Doch schon bald wurde es für uns hochsensible Bauern schwer auszublenden, wie sich der Graf von dem selbst evozierten Wir-Gefühl loszueisen suchte. Unsere kumpelige Blödheit schien ihn richtiggehend zu belasten. Ey, hätte ich da doch bloß wieder auf Metal umgeschwenkt!

Doch ich hielt fest an dieser längst toxischen Beziehung zu Tocotronic – suchte und fand immer noch Slogans auf ihren Platten. Damit würde ich schön den Moshpit im Germanistik-Grundkurs weiter anfachen können, Hörsaal 3B.

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Mit „K.O.O.K.“ machte die Band dann aber richtig zu. Ein wunderbar episches Album, aber die Cord-Crowd mit ihrer Fahne, die sollte verscheucht werden. Wie so lästige Vögel. Auf „K.O.O.K.“ war man zum Schädling statt zum Freund der besten Band Deutschlands geworden. Und „Let There Be Rock“ ist der offizielle Abgesang zu dieser Zäsur. „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“. Ja, Alter, I get it! Privat willst Du nichts mit uns zu tun haben.

Wie großartig das Werk der Typen auch danach noch werden sollte… mir scheißegal. Tocotronic werden immer die Band bleiben, die mit einem Schluss gemacht. Nicht mal persönlich, sondern mit dieser Platte. Hey, das ist ja noch schlimmer als per SMS!

– Linus Volkmann („Musikjournalist“)

Dieser Rant erschien zuerst in Folge 26 von Linus Volkmanns Popkolumne:

Schlimmes deutsches Kino und die Homofürsten des Rap: Die Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.