30 Jahre The Cures „DISINTEGRATION“: The Dark Side Of The Mood
Im Jahr 1988 kam Robert Smith der Gedanke, dass er nach seinem 30. Geburtstag wohl nicht mehr in der Lage sein wird, ein echtes Meisterwerk zu schaffen. Da war er 29. Dies ist die Geschichte eines legendär eigensinnigen Visionärs, der tatsächlich bekam, was er wollte.
Nimmerwiedersehen in Hook End
Um diese grundfinstere Stimmung beizubehalten, mieteten sich The Cure für ihre Albumaufnahmen Anfang Oktober 1988 auch nicht auf den Bahamas oder wieder in Südfrankreich ein, wo sich die Meute für KISS ME … 1986 quasi komplett in allerbesten Rotwein eingelegt hatte, sondern im Hook-End-Herrenhaus, mitten im grünen Nichts von Oxfordshire; 1580 gebaut für den Bischof von Reading, knapp 400 Jahre danach durch den Bluesrocker Alvin Lee (Ten Years After) zum teuren Tonstudio umfunktioniert. Später gehörte es zeitweise David Gilmour. Ja, auch Pink Floyd hatten dort aufgenommen, ebenso übrigens wie im französischen Studio Miraval, wo The Cure ihren Vorgänger eingespielt hatten. Aber wir wollen nicht wieder mit Pink Floyd anfangen …
Smith hatte Hook End ausgewählt, weil er es modrig-herbstlich und altenglisch, spooky und dunkel haben wollte (dank durchwachter Nächte sahen sie tatsächlich kaum noch die Sonne), ja, sogar ausdrücklich „unbehaglich“ sollte es sein, wie er später der Presse erklärte. Unbehaglich sieht diese Unterkunft zwar nun gar nicht aus auf den alten Bildern, schon gar nicht der riesige Kontrollraum, in dem die ganze Crew inklusive Co-Produzent, Techniker und Partnerinnen Platz fand. Aber diese Familie schaffte es dann schon bald, es sich gegenseitig zeitweise richtig ungemütlich zu machen.
Sollte eines Tages das unvermeidliche The-Cure-Biopic gedreht werden, gehören die folgenden Ereignisse sicherlich zu den Schlüsselszenen: Wie noch am Abend des ersten Tages in Hook End die altersschwache Elektrik Roberts Zimmer in Brand setzt und er mit nassen Handtüchern um Kopf und Schultern zwischen die Flammen in den Rauch steigt, um seine handgeschriebenen Songtexte zu retten. Wie Manager Chris Parry mit seinen Künstlern heftig darüber streitet, ob der supersentimentale, schlichte „Lovesong“ überhaupt mit aufs Album kommt. (Ein Jahr später wird er auf Platz 2 der US-Singlecharts stehen, als ihr größter Hit auf der anderen Seite des Atlantiks ever.)
Und wie Smith in seiner Dachkammer, in die er nach dem Brand umziehen musste, endgültig zum Einsiedlermönch mutiert, immer weiter in diese selbstgeschaffene Welt der „Desintegration“ hineinkriecht und dabei auch die Vollendung des Albums komplett an sich zieht, indem er die Gesangsaufnahmen und alle Overdubs allein mit seinem Co-Produzenten Allen erledigt. „Zum Glück hatte ich eine Band, die verstand, dass ich dafür allein gelassen werden musste“, sagte er 2010 dazu – und wer hätte ihm da noch widersprechen wollen, nach dem großen Erfolg seiner Arbeit. Roger O’Donnell berichtete später davon, wie er und seine Kollegen draußen im Kontrollraum herumalberten, während sich Smith in der Gesangskabine die Seele umstülpte. Er erinnerte sich aber auch daran, wie unglaublich er fand, was dessen unvergleichliche Stimme aus diesen Songs erst machte.
Und dann wird man aber leider auch die Szenen zeigen müssen, wie die gelangweilte Band den nahezu dauerbetrunkenen Lol Tolhurst, der so gut wie nichts mehr auf Reihe bekommt, immer schlimmer schikaniert. Sie bedrängt zudem Robert Smith massiv, seinen alten Freund endlich rauszuschmeißen. Als Tolhurst zum finalen Vorspiel von DISINTEGRATION im Rak Studio in London auch nichts weiter beizutragen hat, als die Songs maulend runterzumachen, ist es dann tatsächlich so weit: Smith schreibt Tolhurst einen Brief, in dem er ihm empfiehlt, sich erst einmal um seine Gesundheit zu kümmern – und ihm kündigt.
Never Enough
Also war die Band ab Februar 1989 offiziell zu fünft – und der junge James Murphy drüben in New York untröstlich. Als DISINTEGRATION im Mai dann erschien, waren nicht nur die Kritiker angetan, sondern auch – zur Überraschung des Labels, das in diesem todtraurigen Album einen kommerziellen Selbstmordversuch sah – die Plattenkäufer, die The Cure Top-Ten-Platzierungen quer durch ganz Europa und immerhin Platz 12 in den USA bescherten. Woran wohl auch wieder der treue Clip-Regisseur Tim Pope seinen Anteil, der der Vorabsingle „Lullaby“, die sogar ein fernes Echo auf den gerade angesagten Madchester-Beat in sich trug, ein weiteres wunderbares Tim-Burton-artiges Gruselvideo spendierte, in dem Robert Smith sich in der Doppelrolle Spinnenmann/Spinnenopfer am Ende gewissermaßen selbst verschlingt. Das war vermutlich auch ein Fest für alle Freudianer.
Das launische Genie nutzte die Öffentlichkeit außerdem, um wieder einmal das Ende von The Cure ins Spiel zu bringen, er redete in Interviews auch auffällig oft über sein fertig aufgenommenes Soloalbum (das bist heute nicht erschienen ist). Aus der anfänglichen Überlegung, zu DISINTEGRATION vielleicht gar keine Konzerte zu geben, wurde wiederum ein Triumphzug namens „The Prayer Tour“ mit Stadionkonzerten in Europa und Nordamerika. Doch gejubelt wurde wohl tatsächlich nur vor der Bühne: Hinter den Kulissen zeigte sich, dass die Band auch ohne Tolhurst ein ernsthaftes zwischenmenschliches Problem hatte (und ein zusätzliches mit Kokain).
Trotzdem gab es schon im September 1990 das nächste neue Stück Musik zu hören: eine überdrehte Hardrock-(ja, Hardrock!)-Single mit dem Titel „Never Enough“ – und dieser Titel war damit eigentlich fast genauso vielsagend wie DISINTEGRATION.