6 Gründe, warum Pearl Jam noch immer eine der größten Rockbands der Welt sind
Am heutigen Donnerstag, 25. Juni 2020, sollten Pearl Jam in der Berliner Waldbühne auftreten. Wegen Corona kommt es nicht dazu. Aus diesem Anlass erinnern wir an ihre 12. und bisher letzte Live-Show in Berlin und ihr einziges Deutschlandkonzert 2018 – in der Waldbühne. Hier unser damaliger Nachbericht.
Ihren Legendenstatus haben sie sich über die Jahre hart erspielt: Pearl Jam sind nicht nur die letzten Überlebenden der Anfang der Neunziger viel zu schnell viel zu groß gewordenen Grunge-Welle, sie gehören seit 20 Jahren auch zu den größten Rockbands der Welt. Um die Qualität ihres jeweils aktuellen Albums geht es dabei längst nicht mehr: Wenn Pearl Jam auf Tour gehen, sind die Arenen voll. Warum ist das so?
Wir waren am Donnerstag, den 5. Juli 2018, beim einzigen Deutschlandkonzert von Pearl Jam in der Berliner Waldbühne und haben Antworten gefunden. Bei den Fans und bei uns selbst:
Die Fans
Sie kommen aus Schweden, Italien oder Kuwait, sie nehmen ihren Jahresurlaub, um ihrer Lieblingsband hinterherzupilgern: Pearl-Jam-Fans gelten als die loyalsten Rockmusikfans der Welt. Vor der Waldbühne finden sich die ersten schon zur Mittagszeit (bei über 30 C° in der prallen Sonne) ein, trinken Bier, vergleichen ihre Tourshirts, fachsimplen über Setlists und Songs und sind in jeder Sekunde der folgenden Stunden vor allen Dingen: sehr entspannt und superfriedlich. Die meisten von ihnen sind zwischen 30 und 50 Jahre alt, es sind aber auch Kinder und Rentner vor Ort. Bezeichnend für die ausgelassene Stimmung: Während „Daughter“ fängt die Kamera eine Tochter ein, die auf den Schultern ihrer Eltern mitklatscht. Und während des obligatorischen „Even Flow“-Jams fliegen plötzlich hunderte Bier-Papphalter durch die Luft – bei anderen Bands wäre das Klima nun vielleicht gekippt und es wäre Gefährlicheres geworfen worden. Hier nicht. Hier sind alle eine Familie. Eine sehr sehr große.
Die Setlist
Pearl Jam haben in ihrer bisherigen 28-jährigen Karriere zehn Studioalben, vier Livealben, hunderte offizielle Live-Bootlegs, Coverversionen und Fanclubsingles aufgenommen. Ein gigantischer Backkatalog, aus dem sie schöpfen: Weil bei Pearl Jam, anders als bei anderen Rockbands dieser Größenordnung, keine Setlist einer anderen gleicht, ist keines ihrer Konzerte vorhersehbar. Statistiknerds wissen zwar, dass Klassiker wie „Alive“, „Even Flow“, „Porch“ und „Black“ fast nie fehlen – auch in der Waldbühne nicht – aber welche Überraschungen ihre Lieblingsband heute aus dem Hut zaubert, kann nur spekuliert werden. In Berlin covern sie zum Beispiel „Angie“ von den Rolling Stones, was sie zuletzt vor neun Jahren, ebenfalls in Berlin, taten. Mit „Thin Air“ eröffnen sie den Zugabenblock sitzend, „ein Song von Stone Gossard, den er offenbar selbst fast vergessen hat“, wie Sänger Eddie Vedder über seinen Rhythmusgitarristen scherzt. „Breath“ vom „Singles“-Soundtrack wiederum lässt verkraften, dass sie den Fanliebling „State Of Love And Trust“ vom gleichen Soundtrack nicht spielten – obwohl der auf der handgeschriebenen Original-Setlist stand:
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- Wash
- Sometimes
- Corduroy
- Why Go
- Save You
- Given to Fly
- Red Mosquito (mit Danny Clinch)
- In My Tree
- Even Flow
- Wishlist
- Habit
- Angie (Rolling-Stones-Cover)
- Daughter
- Deep
- Mind Your Manners
- Unthought Known
- Lukin
- Porch
Zugabe 1:
- Thin Air
- Thumbing My Way
- Breath
- Do the Evolution
- Black
- Rearviewmirror
Zugabe 2:
- Comfortably Numb (Pink-Floyd-Cover)
- Alive
- Rockin‘ in the Free World (Neil-Young-Cover, mit J Mascis)
Die richtigen Ansagen
Das verhunzte „Habit“ kündigt Vedder mit „This one is called tiny penis orange man“ an, ähnlich regierungskritisch kommen die aktuellen T-Shirts am Merchstand daher. Das Moshpit lobt Vedder, es sähe hier nicht gefährlich, sondern wie Kunst aus. Das Berliner Ramones-Museum lobt und empfiehlt er erneut: „Ich kaufe Euch ein Bier, wenn wir uns dort sehen.“ Und vor der ersten Zugabe berichtet Vedder von teilweise sehr langen und persönlichen Fanbriefen, die er und seine Band kriegen, der folgende, auf ein Ticket geschriebene sei in seiner Kürze aber einer der besten: „I went to Pearl Jam with my neighbor and came back with my wife“, schrieb ein glücklicher Absender.
Die richtigen Gäste und Danksagungen
„Even Flow“ widmet Eddie Vedder der Dinosaur-Jr-Indierocklegende J Mascis, der irgendwo im Publikum sein soll. Während der letzten Zugabe „Keep On Rockin‘ In A Free World“ stand Mascis dann als Gast-Gitarrist mit auf der Bühne und „fügte dem Klassiker eine Manie hinzu, die Pearl Jam sich bei ihrem Neil-Young-Cover bislang nicht zutrauten“, wie die Kollegen von RollingStone.de befinden. „Red Mosquito“ wird von Pearl Jams Haus-und-Hof-Filmemacher Danny Clinch an der Mundharmonika begleitet. Und „Breath“ widmet Vedder einem Musiker aus Seattle, dessen Band in den USA nie der Durchbruch beschert wurde, einzig in Belgien seien sie groß gewesen. „If you’re out here, this one is for you, Cliff Poncier“. Der Groschen fällt nicht, wie auch bei den wenigsten im Publikum? Poncier war die von Matt Dillon gespielte Hauptfigur in Cameron Crowes Grunge-Romanze „Singles“, in der auch Pearl Jam und Chris Cornell mitspielten. Chapeau!P.S.: Okay, Pearl Jam haben auch Pink Floyds „Comfortably Numb“ gecovert und Roger Waters gewidmet, der zuletzt live seinen Israel-Hass in Großbuchstaben propagierte. Aber das ist eine andere Geschichte.
„Black“
Die Gänsehaut-Ballade von ihrem wütenden Debüt TEN darf auf keinem Konzert von Pearl Jam fehlen, auch in Berlin verfehlt sie ihre Wirkung nicht: An einem an Emotionen nicht armen Rockkonzertabend ist der Trennungssong das emotionale Highlight – neben dem „Daughter“-Jam „It’s okay“ und der Ex-Freundinnen-Abrechnung „Rearviewmirror“. Und das, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war:
Vedders Deutsch
…war auch schon mal besser, möchte man sagen. In eigentlich schöner Tradition hat Vedder (der sich als Teenager zeitweise Edward Mueller nannte, weil er dachte, der Mann seiner Mutter, Peter Mueller, sei sein biologischer Vater, siehe auch „Alive“-Lyrics) auch in der Waldbühne einen Zettel parat, auf dem er ein paar Grußworte in der jeweiligen Landessprache notiert hat. Leider versteht man fast kein Wort. Er fragt Leadgitarrist Mike McCready, mit wem er hier sei und nennt sich selbst schließlich einen Schreihals. Die wichtigsten Dinge versteht man aber auch so: Gegen 22:40 Uhr und damit nach über zweieinhalb Stunden Spielzeit trotzdem überraschend (auf der Setlist stand ja noch „Yellow Ledbetter“) verabschieden sich Pearl Jam mit den Worten „See you again“. Und wenn man sich ihre Tourpläne der vergangenen Jahre und auch ihre an diesem Abend wieder eindrucksvoll bewiesene Beständigkeit, Leidenschaft und Professionalität vor Augen führt, gilt es wirklich als sehr wahrscheinlich, dass Pearl Jam in spätestens zwei bis vier Jahren wieder unterm freien Berliner Himmel aufspielen werden. Es sei ihnen und ihren Fans vergönnt.
Pearl Jams damals aktuelles und zehntes Studioalbum LIGHTNING BOLT erschien 2013. Der Nachfolger GIGATON folgte schließlich im März 2020.