8 Deutschrap-Songs, die 2020 perfekt beschreiben
2020 wird wohl als Jahr der Unsicherheit, Angst und gesellschaftlichen Spaltung in die Geschichte eingehen. Hier findest du einen Jahresrückblick, inhaltlich zusammengefasst durch 8 Deutschrap-Songs.
Ob politische oder gesellschaftliche Entwicklungen – Deutschrap kann aufzeigen, was Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt umtrieb, welche Vorstellungen sie von der Gegenwart und der Zukunft hatten und ob sie damit richtig oder falsch lagen. Dass 2020 ein sehr merkwürdiges, aber auch ereignisreiches Jahr war, sollte niemandem entgangen sein. Die Welt wurde durch die nicht enden wollende Corona-Pandemie in Atem gehalten, durch schockierende Ereignisse wie die Ermordung George Floyds aufgerüttelt, durch Verschwörungstheorien auseinander getrieben und wir selbst durch die Praxis des Social Distancing zur Selbstisolation und zur Solidarität gleichermaßen angehalten. Diese 8 Songs sollen unterschiedliche Etappen und kollektive Gefühle des Jahres beschreiben.
1. Falsche Hoffnungen: Samy Deluxe – 2020 Vision
Gleich der erste Song in dieser Sammlung fällt ein wenig aus der Reihe. Nicht, weil er sich inhaltlich nicht mit dem Jahr 2020 auseinandersetzt, sondern weil er im Grunde all die oben genannten Ereignisse nicht erwähnt. Das hat einen einfachen Grund: Samy Deluxe schrieb „2020 Vision“ bereits im Jahr 2019. Die Metapher der „2020 Vision“, was in den USA einen bestandenen Sehtest beschreibt, schien dem Rapper damals geeignet, um voller Zuversicht in ein Jahr voller Möglichkeiten und Erfolge zu blicken. In dem Song rappt er: „Ich hab‘ ’ne Vision für 2020. Alles möglich und „Kann’s nicht“ gibt’s nicht. Jammern bringt nix und fragen kost‘ nix.“ Wie weit er mit seiner Vision am Ziel vorbeischoss, schreibt Sammy unter dem Video zu dem Song selbst:
„Eine weltweite Pandemie, ein selten zuvor gesehenes Ausmaß an Menschenrechts-Bewegungen samt aller Wahrheiten und Fragezeichen, die das mit sich führte, hatte ich zum Zeitpunkt des Schreibens nicht im Kopf.“
Seine Fehleinschätzung für 2020 möge man ihm an dieser Stelle verzeihen.
2. Wir bleiben Zuhause: Fatoni feat. Juse Ju, Mauli, Panik Panzer – Zuhause
Der Anfang der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und der erste Lockdown spaltete die Gesellschaft gefühlt in jene, die aus einer Panik heraus anfingen die Pasta- und Klopapier-Bestände in Supermärkten leer zu kaufen und ihr letztes Geld von der Bank zu holen, und solche, die Letzteren vorwarfen sich unsolidarisch zu verhalten und deshalb Witze über Hamsterkäufe rissen. Auch mit der neuen Situation der häuslichen Quarantäne konnten einige Rapper*innen kreativ und humorvoll umgehen. So zum Beispiel auch Fatoni, der in einem Song zusammen mit Juse Ju, Mauli und Panik Panzer das Zuhause-Sein zelebrierte, und sich mit den neuen „Möglichkeiten“ der Quarantäne beschäftigte.
„Ich sitz‘ nur rum, habe nix zu tun. Vielleicht les‘ ich ein nices Buch, Und lern‘ ein Instrument, doch so, wie ich mich kenn‘ werd‘ ich nichts dergleichen tun.“
Mittlerweile dürfte Fatoni genügend Zeit gehabt haben, um diese Ideen in die Tat umzusetzen. Es sollte ja schließlich nicht der letzte Lockdown in diesem Jahr bleiben.
3. Nie wieder Hanau: Azzi Memo – Bist du wach? (Benefiz Song für Hanau)
Den bis dato wichtigsten Rapsong lieferte wahrscheinlich Azzi Memo mit seinem Benefiz-Song für die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau, bei dem ein Mann zehn Menschen und anschließend sich selbst erschoss. Auf dem Song, der sich klar gegen Rechts und auch gegen die AfD positioniert, konnte Azzi Memo insgesamt 18 Rapper*innen versammeln, darunter auch solche, die sich zuvor nie wirklich politisch geäußert hatten. Mehmet Seyitoglu, wie der Rapper bürgerlich heißt, kommt selbst ursprünglich aus Hanau und verlor an dem Tag des Anschlags einen Cousin und einen Freund. Die Erlöse für den Song wurden nach der Veröffentlichung an die Antonio-Amadeu-Stiftung gespendet. Selten hatte man Deutschrap zuvor so politisch erlebt.
„Im Jahre 2020 ist Rechtsextremismus noch immer ’ne Plage, Limburg, Fulda, Kassel, Hanau oder Halle.“
Dass der Song und die noch wichtigere Message auch nächstes Jahr Gehör findet, kann man nur hoffen.
4. Black Lives Matter: Samy Deluxe – I Can’t Breathe
Das Thema Rassismus sollte die Welt auch nach Hanau das ganze Jahr über begleiten und sogar politische Bewegungen und gesellschaftliche Transformationen anstoßen. Das Video vom Tod des Afroamerikaners George Floyd als Folge einer gewaltsamen Festnahme ging wie ein Lauffeuer um die Welt. Vielen wurde dabei vor Augen geführt, welche realen und grausamen Konsequenzen Rassismus, eingebettet in ein Rechtssystem, haben kann. Weltweit gingen Leute auf die Straße, um gegen Rassismus, Polizeigewalt und soziale Ungerechtigkeit zu demonstrieren. Im Rahmen dieser Entwicklung wurden auch einige Rap-Songs produziert. Hierzulande war der Erste, der sich zu Wort meldete, Samy Deluxe mit seinem Song „I Can’t Breathe“.
„Wir sind George Floyd, das System Derek Chauvin“
5. Verschwörungstheorien: Edgar Wasser – WACHT AUF!!!!!!!!
2020 war auch ein Jahr der Verschwörungstheorien. Verschwörungstheoretiker*innen gab es bereits lange vor Corona. Durch die Geschichte hinweg, bekommen ihre wahnwitzigen und gefährlichen Theorien besonders in Zeiten großer Unsicherheit viel Zulauf. Dieses Jahr gab es dabei viel Unterstützung von einigen Prominenten, die plötzlich anfingen, weltweite Verschwörungen, Zwangverchippungen und Blut trinkende Eliten zu wittern. Einer, der die absurden Gedankengänge und die ihnen zugrunde liegende Paranoia besonders eindrucksvoll auf die Schippe nahm, war Edgar Wasser. Mit Verschwörungs-typischer Argumentationsrhetorik stellte der Rapper die im Grunde sehr ernst zunehmende Frage: Warum sollte man eigentlich prominenten Verschwörungstheoretiker*innen glauben? Sind sie nicht selbst Teil des „Systems“?
„Alles, was sie von sich geben, ist gelogen. In Wahrheit gehören sie zu denen da oben“
6. Unsicherheit: Alpa Gun feat. Eshtar – Was ist die Wahrheit?
Der folgende Song ist mit Vorsicht zu genießen. Denn auch, wenn Alpa Gun meint, in seinem Song „Was ist die Wahrheit?“ die Stimme des Volkes wiederzugeben, so gibt er in seinem Song vielmehr ein Paradebeispiel für die Gefühle und Gedanken, die 2020 so viele Menschen in die Arme von Populisten und Verschwörungstheoretiker*innen rennen ließ. Es ist der Wunsch nach schnellen und einfachen Antworten auf komplizierte Fragen, auf die im Jahr 2020 niemand eine genaue Antwort wusste. Positionieren tut Alpa Gun sich dabei nicht, sondern macht eher durchgängig klar, dass er selbst überhaupt keine Kompetenzen hat, Antworten zu liefern. Der Song bewegt sich mehr auf einer emotionalen Ebene und spricht von Zukunftsängsten und Unsicherheit. Selbst die etwas kitschige Hook wirkt emotional etwas zu aufgeblasen. Da diese Gefühle aber leider zu diesem Jahr dazugehören und der Rapper womöglich einigen aus der Seele zu sprechen vermag, hat der Song sich seinen Platz in dieser Liste verdient. Auch wenn ein unangenehmer Nachgeschmack bleibt.
„Es sei nur eine Grippe und auf einmal ist der Lockdown da. Und die Welt befindet sich in einem Schocktrauma“
7. Und was ist sonst noch so passiert?: Money Boy – Rap Up 2020
Spätestens wenn ein Money Boy über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie rappt, wird einem selbst klar: „This shit is serious!“ In seinem gerappten Jahresrückblick „Rap Up 2020“ liefert der Rapper zwar wenig Neues zur Entwicklung der Pandemie, aber da sein Fokus vor allem auf Rap- und Sport-Ereignissen in den USA liegt, erinnert der Boy an Nebenschauplätze und Nachrichten, die Einige vielleicht schon fast vergessen haben. So bezieht er sich u.a. auf den tragischen Tod der Basketball-Legende Kobe Bryant, der zusammen mit seiner Tochter durch einen Helikopter-Absturz starb. Auch einige junge Rap-Talente werden erwähnt, die dieses Jahr verstorben sind. Auch ein Money Boy kann eben Gefühle zeigen.
„Die Regierung sagte: „Kein Grund zur Panik“. Aber das sagte auch der Captain der Titanic“
8. Lethargie und Ohnmacht: Weekend Feat. Timo Hauer – Lied des Jahres 2020
Sind wir doch mal ehrlich, 2020 hat ziemlich an unseren Nerven gezerrt. Und ab dem Punkt, wo alle Klopapier-Witze gerissen wurden, wir die Nachrichten von Moria und anderen Orten der „Zuflucht“ konsumiert haben, und uns klar wird, wie schnell sich Teile der Gesellschaft in diesen Zeiten radikalisieren können, dass Rassismus sogar in Polizei-Gruppen-Chats wachsen und gedeihen kann, nachdem wir zum hundertsten Mal die Infektionszahlen vom Robert-Koch-Institut abgescheckt haben – bleibt nur noch eins zurück: innere Leere und Ohnmacht. Ein Gefühl, dass sogar die privilegiertesten Menschen in dieser Zeit erschleichen kann. Deshalb endet diese Liste mit einem Song, der genau dieses Gefühl besingt und sich auch noch „Lied des Jahres 2020“ schimpft. Hierfür zeigen sich der Rapper Weekend und der Sänger Timo Heuer verantwortlich. Vielen Dank dafür. 2021 kann nur besser werden.
„Oh Shit ich spür‘ nichts mehr. Ich war so viel auf RKI Dashboard, scheiße ich fühl‘ mich leer“