Kein Bier Für Vier


Melt!-Festival, Gräfenhainichen, Sachsen-Anhalt, Samstag, 18. Juli Gewitterstimmung über dem Braunkohletagebau auf der Halbinsel im Gremminger See. Neben den fünf ausrangierten Riesenbaggern, die hier wie Monstennsektenauseinem Horrorfilm rumstehen, bestimmen Flip-Flops, Miniröcke und Bierkästen das Bild. Bloc-Party-Sänger Kele Okereke hat seine eigene Technik entwickelt, dem Trubel des Festivals etwas entgegenzusetzen: Erliest. Kurzgeschichten, Gedichte und Ahnliches. „Lesen ist meine Quelle der Beruhigung. Ohne meine Bücher bin ich nur ein halber Mensch. Wir sind schließlich seit sieben Monaten auf Tour, ohne Familie, Freunde, ohne wirkliche Bindung!“ Es ist schwül, Blitze zucken über den Julihimmel. Bloc Party werden auch den Rest des Jahres on the road verbringen. Kele trägt Jeans, Turnschuhe und einen Michael-Jackson-Sweatie. „Schon vor zwei Jahren gekauft“, beteuert er. Wenn er redet, klingt das wie ein Wasserfall, der ab und zu unterbrochen wird: schnell und abgehackt. Sein Blick wandert am Horizont umher. Er hält einen Stapel Bücher und eine Flasche Evian im Arm. Die anderen Bands hier auf der Terrasse im Backstage-Bereich lungern in den Lounge-Sesseln herum. Phoenix haben sich kühlschranknah platziert und schon die ersten Drinks vor sich stehen. In der Truppe von Jochen Distelmeyer wird über den Blues und alte Pophelden diskutiert. Animal Collective haben, so die News der Stunde, einen Darsteller aus der HBO-Serie „The Wire“ im Schlepptau. Eine sofort erkennbare Bloc-Party-Base gibt es nicht. Wahrscheinlich telefonieren oder chatten die anderen gerade irgendwo mit ihren Familien, vermutet Kele. Jemand Lust auf ein Bier? Der Sänger schaut verständnislos. Eiserne Regel: Keine Drinks vor der Show. Ausschließlich Wasser, für die Stimme. Und nach der Show? Selten, antwortet Kele, dann wird der nächste Tag zu hart. Er drückt seine Bücher an sich und verzieht sich in Richtung Tourbus. Gitarrist Russell Lissack huscht vorbei. Gut die Hälfte seines Gesichts ist unterm blonden Pony versteckt. Er lächelt verlegen und reicht uns seine Hand zum wohl schlaffsten Händedruck des Festivals. Er sei gerade auf dem Weg zur Massage. Dann schleicht er davon. Ob er nach der Massage entspannter ist? Bloc Party scheinen eine vernunftgesteuerte Band zu sein. Der Teufel Rock’n’Roll hat es offensichtlich schwer, die vier Knaben ins Fegefeuer aus Drogen, Trunksucht und Selbstzerstörung zu schicken.

Good English Boys Ein weiterer Mann aus der Bloc-Party-Crew läuft uns in die Arme: Christian Lee, Roadmanager aus Texas. Cowboyhemd, breiter Akzent, Typ Partyschmeißer. Er ist für das Wohlergehen der Band zuständig. „Herzlich willkommen! Wir können ein bisschen Trubel gebrauchen!“ Dass bei Bloc Party Trubel willkommen ist, können wir uns nach den ersten Eindrücken kaum vorstellen. Aber es ist ja noch recht früh am Tag. Russell, der sich mit starr auf den Boden gerichtetem Blick vorbeistehlen will, wird von Christian in den Schwitzkasten genommen. Gequält lächelnd versucht er sich zu befreien. „Na, alles locker nach der Massage?“, lacht der Roadmanager scheppernd. Russell verdrückt sich. Christian nennt die Bloc-Party-Jungs seine „good English boys“. Und wie sind Bloc Party so, mit den Augen eines großen Bruders betrachtet? „Es ist der klassische Rock’n’Roll-Kram. Sogar auf dem mittleren Level, auf dem sich die Band momentan bewegt. “ Überhebliche Idioten seien die vier zwar bislang nicht geworden, dazu seien sie viel zu schüchtern und wohlerzogen. Aber angesichts der vielen Fans und Endlostourneen habe jeder mal Seiten entwickelt, die sonst vielleicht nie in Erscheinung getreten wären. Außer Kele sind alle verheiratet, und besonders Russell und Gordon, der eine kleine Tochter hat, litten darunter, so häufig von ihren Familien getrennt zu sein. „Aber sie sind jung und haben sich bislang nicht übernommen, so dass jedem von ihnen die Zukunft offen steht“, fasst Christian Lee zusammen und steuert danach den Kühlschrank an.

Es regnet in Strömen, alle fliehen in die überdachte Cafeteria.

Noch immer keine Spur vom Bassisten und vom Schlagzeuger. Stunden später begegnen wir Matt Tong, dem Drummer, zum ersten Mal: In seinen bunten Surfer-Shorts und türkisfarbenen Chucks sieht er eher aus wie ein Ami-Punkrocker. Wäre da nicht die schüchterne britische Art eben jener „good English boys“.

Der 30-Jährige sieht nicht nur aus wie ein Mitglied von Weezer, auch sein Musikgeschmack ist tief in Nordamerika verwurzelt, bei den Beach Boys, Big Star, Dinosaur Jr. und Fleetwood Mac. Aber er sei auch ein großer Kraftwerk-Fan, erzählt er. Er habe ein paar Jahre in Berlin gelebt und dort als Elektro-DJ gearbeitet. “ Damals habe ich immer gehofft, mal einem von Kraftwerk zufällig über den Weg zu laufen. Ich hätte so viele

Fragen/“, sagt er lächelnd. Matt sei der Sonnyboy der Band, meint der Roadmanager später. Der einzige, der nach der Show noch für eine Runde im Pub zu haben sei.

Auf dem Bagger Fürs Interview mit MTV ist ein Aufstieg auf einen 30 Meter hohen Bagger nötig. Kele hat Höhenangst, die Treppe ist sehr wackelig. Doch er reißt sich zusammen. Auf halber Strecke wird ihm mulmig, kleine Pause, nur nicht nach unten schauen, immer schön aus der Wasserflasche trinken, gleich ist es geschafft. Alle sind vom Panorama angetan. Christian stürzt zur Bar und kippt einen doppelten Whisky, Kele erledigt sein Interview. Backstage lugt Russell hinter einer Ecke hervor, winkt hastig und ist schon wieder weg. Die ersten Bands sind auf der Bühne, langsam füllt sich das Gelände. Grund genug für Kele, sich vor der Show nochmal zum Hotel fahren zu lassen. Gordon Moakes, der Bassist, schottet sich heute wohl total ab. Eine Stunde nach Mitternacht. Phoenix spielen die letzte Zugabe. Jetzt kommen auch die Bloc-Party-Musiker aus ihren Löchern gekrochen. Der Roadmanager weist alle an, noch ein letztes Mal zur Toilette zu gehen, auch Russell. Die vier tippeln im Gänsemarsch Richtung Bühne. Vorm Bühnenaufgang gibt’s für jeden einen ermunternden Klaps. Matt und Kele tänzeln einen schnellen Aufwärmtanz, dann umarmen sich die vier Bandmitglieder wie nach der Auszeit beim Basketball. Das ist das erste Mal, dass wir die Band heute zusammen sehen. Auf der Bühne erscheinen die vier erst recht nicht als Einheit, jeder spielt für sich allein. Kele übernimmt den Showpart. Russell braucht eine Ewigkeit, um einen Blick ins Publikum zu wagen. Matt trommelt mit gewohnter Härte und Präzision. Und Gordon wuselt zwischen Bass, Keyboard und Glockenspiel hin und her. Und doch entsteht aus den unterschiedlichen Charakteren und Stilen der einzelnen Bandmitglieder der ganz eigene Bloc-Party-Sound. Ober zwei Stunden lang leuchten Bloc Party mit den angestrahlten Riesenbaggern um die Wette. Am Ende klopfen sie sich gegenseitig auf die Schultern. Während an der Bar noch reger Betrieb ist, verzieht sich das Quartett mit einem Evian-Wasserkasten in seinen Bus. “ Bis Montag!“

London, Camden Town, Montag, 20. Juli Die Sonne strahlt über der Camden High Street. Perfekt, um einen Spaziergang durch den popgeschichtsträchtigen Stadtteil im Norden Londons zu unternehmen. Nick Hornbys Roman „High Fidelity“ spielt hier, und Madness, Pulp, Morrissey, Okkervil River und Belle & Sebastian sangen über Camdens Straßen. Mit seinen Märkten u nd Secondhandshops ist Camden längst zu einem Indie-Fantasialand verkommen. Touristen decken sich mit Doc Martens, pappharten Joy-Division-Shirts und anderen indie Jahre gekommenen Punkklischees ein.

Nur einen Steinwurf entfernt liegt das legendäre Roundhouse Theatre: ein rundes, rotes Ziegelstein-Gebäude, in dem früherdefekte Dampflokomotiven auf einer Drehbühne repariert wurden. 1966 wurde es zum Konzertsaal umgebaut, und zehn Jahre später hatten die Ramones hier ihren historischen ersten Auftritt auf britischem Boden. Heute beherbergt das Roundhouse zudem mehrere charmante Tonstudios und einen Radiosender. In diesem Monat ist iTunes Gastgeber von stolzen 31 Konzerten, die Tickets wurden verlost. Einige der Gewinner hängen schon jetzt, sieben Stunden vor Einlass, vor dem Laden herum.

Soundcheck Gordon läuft hektisch umher und sucht seinen Pass. Vor der Bühne ist eine Tischtennisplatte aufgebaut. Kleines Match, Gordon? Er winkt ab. Keine Zeit für solche Faxen. Der Bassist gibt sich distanziert. Wir werden heute wieder nicht viel von ihm sehen, er will für ein paar Stunden nach Hause fahren und sich nach dem Konzert um Freunde kümmern. „Dann ins Bett. Morgen Australien!“

Mit der imposanten Glaskuppel und den verschnörkelten Stahlsäulen ist der Saal des Roundhouse eine sehenswerte Mischung aus alter und moderner Architektur, in der gut 5.000 Leute Platz finden. Da weiter au Seile W

hier noch nicht viel passiert, schauen wir mal backstage vorbei. Ein düsterer Flur aus Büros und Rückzugsräumen mit Schlössern und Spezialcodes. „vi-va-vi-va / ha-ha-hi-ki“. Ein beinahe opernhafter Gesang durchschneidet die Luft: Kele singt sich ein. Er hat Kopfhörer auf – und liest dabei ein Buch. Der Mann kann Multitasking. Russell wirkt auch heute wieder wie sein eigener Schatten. Er spielt beim Soundcheck seine Parts wie ein Roboter und starrt ins Leere. Jede Pause nutzt er, um eine SMS nach der anderen in sein Handy zu tippen. Es ist schon seltsam: Der Junge, der da oben so unmotiviert herumsteht, ist einer der kreativsten und innovativsten Gitarristen des Landes. Er spielt komplizierte Licks, traktiert seine Verzerrerpedale und kann sowohl melodische Soundlandschaften als auch garagigen Rock spielen. „Er ist ein Rätsel. Er bat bestimmt ein paar dunkle Geheimnisse“, meint unser Freund, der Roadmanager.

Bassist Gordon ist der Einzige, der in Kontakt zum Mixer steht und sich richtig auf den Soundcheck konzentriert. Der 33-Jährige ist der Allrounder in der Band. Er spielt diverse Instrumente, singt Backing-Vocals und hat an ein paar Songs mitgeschrieben. Er bringt einen einfachen Punk-Vibe in den Sound, spielt keinen Schnörkel zu viel. Gordon scheint eine seltsame Mischung aus Punkrock-Typ und konservativem Familienvater zu sein. Später wird er erzählen, dass er die vergangenen zwei Jahre damit verbracht hat, seine Gedanken zu ordnen, zu überlegen, was welche Rolle in seinem Leben spielt: die Band, die Frau, das Kind, er selbst. Dass er beschlossen habe, das Rockstardasein allein sei nichts für ihn. Dazu sei er auch viel zu romantisch und gemütlich. „Ganz ohne Privatleben, das -wäre nichts für mich, ich möchte abends fernsehen wie alle anderen und mit der Katze spielen“, lächelt er und verzieht sich zur Teestunde nach Hause. Roadmanager Christian lädt zum Spaziergang durch Camden ein. Er will für Kele ein richtiges Michael-Jackson-Outfit kaufen. Aber dann holt er lieber eine fiese Zombiemaske – damit will er Russell erschrecken. Dieser lässt sich derweil im Backstageraum die Haare schneiden und dürfte wenig begeistert sein.

warten Es gibt matschiges Chili. Kele verzieht das Gesicht, beschwert sich aber nicht. Er ist müde. Die gestrigeUberfahrtwarlangund stressig. Das Schlimmste: Er war mit Freunden zum Kinobesuch verabredet-Harry Potter -, kam aber zu spät. „Das sind die Momente, in denen ich meinen Job verfluche. Nachholen geht nicht, weil ich morgen schon wieder nach Australien fliege.“ Er hat Lust, spazieren zu gehen, aber draußen haben sich zu viele Leute versammelt. Also laufen wir durch die Katakomben des Roundhouse und hören kurz der Vorband zu, The Invtsible aus London. Im Backstageraum kauert sich der 1,85 m große Mann auf das kurze rote Ledersofa. “ Ich hatte heute ein einschneidendes Erlebnis. Ich habe meinen Bankberater getroffen. Zum ersten Mal in diesem Jahr habe ich erfahren, wie viel Geld ich auf dem Konto habe. Es ist wahnsinnig viel. Jetzt denke ich schon den ganzen Tag: Wie viel Geld soll ich noch anhäufen ? In meiner Familie war Geld immer ein Problem. Und als das mit dem Erfolg von Bloc Party losging, da war ich glücklich, dass das in Zukunft nicht mehr mein Thema sein würde. Aber irgendwann muss ich den Lebensstil, den ich mir jetzt leisten kann, auch genießen, oderf“

Russell steckt den Kopf durch die Tür. Nach dem Haarschnitt sieht er noch unnahbarer und püppchenhafter aus als vorher. Matt stolziert herein, mit dem Roundhouse-Programm in der Hand. „Und, wer kommt mit zu Florence And The Machine?“, fragt er grinsend. Kele und Russell schreien empört auf. „Die ist bestimmt winzig klein“, sagt Matt, aber Russell weiß es besser: So klein ist sie gar nicht. „Geht überhaupt noch jemand zu Coldplay?“, will Matt wissen. „Die ziehen einen doch nur runter“, sagt Kele und starrt wieder an die Decke.

Heimspiel Von Anfang an sind alle Arme in der Luft. Schon nach dem Opener „Halo“ bringen die Sanitäter ein paar Mädels aus der ersten Reihe weg. Kele hat sich wieder voll im Griff, lacht, tanzt und springt, kommuniziert mit dem Publikum. Auch Gordon leistet sich ein paar Indierock-Gesten mehr als sonst. Russell lächelt! Matt trommelt mit nacktem Oberkörper. Morgen wird in den London News stehen, dass Bloc Party ihre erste wirklich gute und lebendige Show hingelegt haben. The Invisible diskutieren derweil backstage über Bloc Party: „Sie sind eine richtig große Band, das vergisst man immer, weil es sich nicht so anfühlt. Sie ziehen ihr Ding zwar professionell durch, aber wirken nicht so großkotzig.“ Als die Band von der Bühne kommt, sind alle zufrieden; der Roadmanager hat die Zombiemaske auf und Russell im Würgegriff. Im Foyer warten Freunde und Familienangehörige. Es wird umarmt, gelacht und gelobt. Eine ältere Frau mit orange gefärbtem Haar schreit am schrillsten: In Glitzerbuchstaben steht auf ihrem schwarzen Oberteil: „Russell’s Mom“. Und schon ist der arme Russell im nächsten Würgegriff. Tapfer lächelnd lässt er alles über sich ergehen. Dann verschwindet er im Wust von Armen, Handtaschen und Haarsprayfrisuren. Das ist das Letzte, was wir von Russell zu sehen bekommen. Kele will sofort nach Hause. Sachen packen für Australien. Gordon ist längst weg. Matt hat sich wieder angezogen und sieht so frisch aus, als könnte er gleich wieder loslegen. Christian wittert die Partychance, findet aber im ganzen Backstagebereich keinen Tropfen Alkohol. Ein Taxi zum Pub bitte. Matt ist dabei. Bei gemischten Alkoholika wird weiter über Lieblingsbands, „Beatles oder Beach Boys“ und selbstverständlich Kraftwerk sinniert. Zehn Tage später, am Abend vor dem Bloc-Party-Auftritt auf dem „Energy InThe Park“-Festival: Matt und Christian rufen besoffen aus einer Münchener Technodisco an. Sie grölen irgendwas von Bierkutschergulasch, Kaiserschmarrn und Kraftwerk in den Hörer. Gordon sei auch dabei, johlen sie. Die Anspannung, die vor ihrem Heimspielauftritt in London so deutlich zu spüren war, scheint einer größeren Leichtigkeit gewichen zu sein. Dem Teufel Rock’n’Roll werden sie dennoch nicht so schnell in die Fänge gehen, dazu sind sie zu schlau und zu ehrgeizig. Bloc Party haben angekündigt, sich 2010 eine Auszeit zu nehmen.