Reif für die Insel?


Eigentlich klingt es wie eines der letzten großen Abenteuer, wie ein Traum, der nicht mehr möglich ist: Unser Autor Thilo Mischke verbrachte fünf Tage alleine auf einer unbewohnten Insel, irgendwo im Südpazifik. Im Gepäck eine einzige Playlist: Chris Martin, Steve Reich und Adam Port. Ein Selbstversuch.

* Tag 1 /

Ich springe vom Boot auf den weichen Sandstrand. Das ist sie also, meine Insel. Sand, Strand, Sonne, Südsee. Irgendwo im Nirgendwo des Pazifiks. Früher hätte man gesagt, das ist das Ende der Welt – heute sagt man: ich bin im Paradies. Ich fühle beides: ein Paradies am Ende der Welt. Eine Insel, so groß wie zwei Fußballfelder, Strand außen, dichter Dschungel in der Mitte, kein Mensch. Nicht einmal ein inoffizieller Mitarbeiter einer Hotelkette, der mir die Kopfkissen am Strand aufschlägt.

Ich beschließe, mein Reich zu erkunden, laufe schreiend los: mein Reich, ich, ein König. Es dauert keine fünfzehn Minuten, bis ich wieder neben meiner Proviantkiste stehen und festelle: Ja, ich bin alleine auf dieser Insel. Jetzt geht das Abenteuer los: Ich gegen die Einsamkeit. Fünf Tage solo. Deswegen bin ich hier. Ich, mein iPod und eine Playlist, die sich zusammensetzt aus Coldplay, Steve Reich und dem DJ eines kleinen Berliner Labels, das kein Schwein kennt. Nicht gerade üppig die Auswahl, ich weiß, mein Laptop war alle, als ich gestern am Hafen ankam.

Egal. Wir vier werden hier eine Menge Spaß haben, denke ich, als ich dem Fischer, der mich illegalerweise in dieses Naturschutzgebiet gefahren hat, zum Abschied winke. Er winkt zurück, freundlich. Dabei hatte er mich ganz ungläubig angestarrt, als ich verschwitzt, mit Rucksack am Hafen von Nandi stand und in gebrochenem Englisch nach einem Menschen fragte, der mich vier Stunden über das offene Meer fährt, die gesamte Yasawa-Inselgruppe hinauf, um endlich alleine zu sein. Damit ich ausprobieren kann, wie es sich anfühlt, wenn man ohne alles ist. Ohne Internet, ohne Handyempfang, ohne Steckdose, ohne herunter geladene Fernsehserie. Nur mein Kopf und ich. Mein Kopf gegen mich. Deswegen habe ich auch den MP3-Player dabei: Ich befürchte, mein Kopf und ich kommen nicht gut miteinander aus. Lagerkoller und so.

Es gibt keine Vereinbarung mit dem Fischer, keinen Plan B. Einzig, dass er mich in fünf Tagen wieder abholt. Keine Signalpistole, keine Magnesiumfackeln und schon gar kein Walkie Talkie.

Ich setze mich auf mein Reisegepäck, Zelt, Trinkwasser und Nahrung. Ich atme ein, atme aus, rauche, höre Musik. Kann mein Glück nicht fassen. Ich finde es schön, so weit weg von allem und allen zu sein – und mir so nah. Das klingt meditativ und nach Chai Latté, so ist es aber nicht gemeint. Coldplay besingt meine Gedanken. Emotional aufbrausende Musik für einen wertvollen, emotionalen Moment. „Don’t Panic“ singt mir Chris Martin ins Ohr und ich mache mir keine Sorgen. Das Bootleg eines Konzerts in Holland ist mein Soundtrack für den Zeltaufbau.

Natürlich hätte ich mich auch zivilisatorisch totalverweigern, mit Rambomesser Palmen fällen und aus geschnitzten Kreuzverbindungen eine wackelige Hütte zusammenstecken können. Aber ich wollte dieses Zelt, ein letzter Rückzugsort, das ist schon okay, denke ich mir, als ich mit eingezogener Oberlippe, die regenfeste Plastikhaut über das Skelett ziehe.

Bis die Sonne untergeht sitze ich neben meinem Zelt und zähle Wellen. Eine Ruhe breitet sich in mir aus, es fühlt sich warm an, erhaben. Ich höre noch einmal „Clocks“ und kann gar nicht fassen, wie viel Glück ich habe. Dann lege ich den iPod beiseite, einen Austauschakku gibt es ja leider nicht.

* Tag 2 /

Die erste Nacht war grausamer als erwartet. in den persönlichen Vorstellungen privater Robinsonaden existieren keine Nächte. In meinen Robinson-Fantasien scheint immer die Sonne, es ist nie dunkel und normalerweise hat man Gesellschaft – zumindest aber einen freundlich bemalten Volleyball. Die Realität sieht anders aus.

Ich liege still im Zelt, drücke meine Beine durch, der iPod schläft, die Musik in meinem Kopf auch. Ich höre das leise Zirpen der Grillen, Wasser züngelt mit Sand, irgendwo im Dickicht hinter mir laute Vögel. Lächelnd schließe ich die Augen, drehe mich auf die Seite. Ich schlafe ein.

Und wache wieder auf.

Etwas atmet neben meinem Zelt, ich kann nichts sehen, nichts erkennen. Keine Schatten, nichts, nur schweres, rasselndes Atmen, es erinnert mich an einen Menschen mit Kehlkopfmikrofon, es klingt aber auch, als würde man den Stutzen eines Luftballons zwischen die Finger nehmen und Luft entweichen lassen. Will ich wirklich wissen, woher dieses Geräusch kommt? Bin ich mutig genug nachzusehen, was dieses Geräusch von sich gibt? Ich liege ganz ruhig da und wundere mich über mich selbst angesichts dieser merkwürdigen Ruhe. Nichts hetzt mich.

Ich war nie mutig, warum auch? Mut ist etwas, dass niemand mehr von uns verlangt. Mutig ist es, heute Philosophie zu studieren, kein Lehrer zu werden, keine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Mutig ist es, ohne Kondom Sex zu haben, im Berghain in den falschen Keller abzubiegen. Manchmal ist es auch mutig, einfach mal früher nach Hause zu gehen. Echten Mut, der uns antreibt, gegen Tiere zu kämpfen und uns zu verteidigen, den haben wir verlernt. Und ich bin da leider keine Ausnahme.

Plötzlich drückt etwas gegen die dünne Zeltplane, reibt sich daran. Es sieht aus, als würde eine lange Hand mit groben Fingern den Stoff eindrücken. Es macht ein Geräusch, als würde schnell ein Reisverschluss geöffnet werden. Ich bekomme eine Gänsehaut und brülle: „Ey“.

Schnaufen.

„Hallo?“, jetzt schon wieder weniger mutig

Die grobe Hand hält inne.

„Ist da jemand?“.

Ich knie mich hin, nehme mein Taschenmesser, öffne den Reisverschluss. „Ahhhhh“ schreit es aus mir: „Louder than everything else.“ Ich springe aus dem Zelt, das Messer in der Hand. Nichts.

Ich kann nichts sehen, nichts erkennen. Es dauert, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Langsam tauchen die Umrisse der Bäume im Hintergrund auf, dann mein Zelt, Sterne am Himmel. Dann sehe ich den Angreifer: Eine ungewöhnlich große Eidechse, ein Waran. Mit müden Augen beobachtet mich das Tier, es züngelt auf dem Boden herum, reibt das Gesicht an meinem Zelteingang. Mut hin oder her, Philosophiestudium oder nicht, dieses Tier würde vermutlich nicht mal Alfred Brehm anfassen. Ich gebe einen spitzen Schrei von mir und springe zum nächsten Baum, ziehe mich hoch, lasse dabei Taschenmesser und Lampe fallen. Hoffentlich hält der Ast!

Hier sitze ich nun. Oben auf meinem Ast. So lange bis Tag Zwei fast schon vorüber ist. Wenn ich wenigstens Chris Martin dabei hätte, eigentlich ist die Aussicht von hier ganz erbaulich … Der Waran liegt im Schatten vor meinem Zelt. Irgendwann kommt ein zweiter angetrottet. Mein Waran hat also einen Spielkameraden, der Glückliche. Im Gegensatz zu mir hat er einen Freund. Allerdings passiert nicht viel: die beiden fauchen sich an, es klingt wie kranke Katzen und es riecht auch so. Die Sonne scheint auf mich herab, ich nicke kurz weg, zwischen meinen Arschbacken ein Ast. Zwei Mal muss ich an meiner kurzen Hose vorbei pinkeln. Irgendwie ist mir das alles viel zu unheimlich. Ich könnte eine bequemere Position finden, hier auf meinem Ast. Will ich nicht, habe Angst.

Irgendwann traue ich mich runter. Der Waran schaut mir gelangweilt zu, wie ich in sicherem Abstand meine Badehose anziehe und schwimmen gehe. Der Versuch, die Insel zu umschwimmen scheitert an einem Korallenriff. Kurz bevor die Sonne untergeht, gelingt es mir endlich, das Lagerfeuer zu entzünden. Die Instant-Nudeln schmecken, Chris singt „Yellow“. Die Musik bringt mich runter, wärmt mich. Ich fühle mich auch gelb, irgendwie.

Bevor ich mich schlafen lege, starre ich in den Sternenhimmel. Ich muss an Rainald Goetz denken, an „Komm her, Sternschnuppe“.

* Tag 3 /

Ich bereue, dass ich alles Überlebenswichtige mitgebracht habe, ich hätte mir jetzt gerne die Zeit damit vertrieben, ein Haus zu bauen, Tiere zu fangen und Feuer mit Stöckchen zu entfachen. Ich hätte die Tiere gekocht, gehäutet, ihre Innereien ins Meer geworfen, und mit blutigen Händen ihr Fell zum Trockenen in der warmen Luft gespannt. Ich wäre gerne in mein cooles Robinson-Baumhaus gegangen, würde jetzt auf meiner Veranda sitzen, Hendrix hören und mir durch meinen vollen Bart kratzen, eine Maus essen.

Ich habe aber keine Tiere gefangen, kein Baumhaus und auch keine Veranda gebaut, eine Maus habe ich noch nicht einmal gesehen, Hendrix ist nicht auf meiner Playlist und eine anständigen Bart kann ich auch nicht vorweisen. In meiner Fantasie ist alles viel schöner als in Wirklichkeit. In Wirklichkeit ist es hier nämlich todlangweilig. Mein Gehirn und ich fliehen in die Musik. Wir haben bereits zwei Mal die 450 Minuten lange Coldplay-Liste durchgehört. Hätte ich nur irgendetwas anderes mitgenommen, einmal im Leben Verantwortung bewiesen, wenn auch nur für diese verdammte Playlist. Immerhin: Ich wusste gar nicht, dass Chris Martin ein bisschen Niederländisch spricht. Was ich jetzt allerdings nach 14 Stunden gerne mal Chris Martin sagen würde, ist folgendes: Chris, du bist ganz schön billig. Coldplay, das mag in Stadien mit Regen, Bier und einer Frau, die liebevoll ihre Hand zwischen Rücken und T-Shirt legt, gut funktionieren, aber auf einer Insel im Pazifik ist Chris Martins lebensfernes Geweine in Kombination mit zwei Gitarrenakkorden nur noch ein dünnes Summen. Ich wünschte, ich hätte irgendetwas Gehaltvolleres mitgenommen, meinetwegen Dylan. Oder die Kraftwerk-Diskographie.

Nachdem ich wieder einmal die Insel abgelaufen bin, fange ich die einzigen Tiere, die sich von mir übertölpeln lassen: Einsiedlerkrebse. Ich veranstalte Rennen mit ihnen, baue ihnen einen kleinen Parkour, mit Hindernissen aus Holz. Mit einem Filzstift male ich ihnen Nummern auf den Rücken, die Langeweile treibt mich dazu, sie nach meinen Exfreundinnen zu benennen: Gerit, Laura, Marie, Elisa.

Auf die Plätze, fertig, los.

Ich liege in der Sonne, sie brennt auf mich herab, mein Mund ist ganz trocken. Langeweile trocknet aus. Meine neue Zeitrechnung sind die durchschnittlich vier Minuten langen Songs. Ich liege seit 58 Liedern in der Sonne. Das sind knapp fünf Stunden. Ich habe mein Gehirn damit beschäftigt, dies auszurechnen: achtundfünfzig mal vier. Ich werde dröge, bereits am dritten Tag stahlgewittert mir die Einsamkeit die immer gleiche Musik aufs Gemüt.

Ich sitze da, starre aufs Meer.

Oasis oder Blur, Blur oder Oasis?

Eine Welle, zwei Wellen, drei Wellen, vier …

„Hilfe!“, ruft es plötzlich.

Habe ich laut gedacht oder laut geschrien?

Irgendetwas stimmt hier nicht. Stimmt gar nicht.

Ich stehe auf und stelle ein dumpfes Pochen in meinem Kopf fest. Außerdem merke ich, wie die zwei Liter Wasser, die ich über den Tag verteilt getrunken habe, in meinem Bauch herum schwappen. Ich halte mich an einem Ast fest, atme tief ein, atme aus, suche nach einer Zigarette, um den Schwindel zu besiegen. Noch bevor ich die Zigarette entzünde, muss ich kotzen. Einfach so. In einem sanften Warmwasserstrahl kotze ich auf den wunderschönen, unberührten Sandstrand. Scheiße. Sonnenstich.

Ich laufe trotzdem drei Mal um die Insel. Nichts passiert. Eine Umrundung dauert zweieinhalb Mal „Clocks“. Das Meer nervt. Chris Martin auch.

* Tag 4 /

Die Nacht war grausam. Stundenlanges Wälzen und doch kein Schlaf. Ich höre „Piano Phase“ von Steve Reich, zwanzig Minuten, scheinbar eintöniges Geklimper. Verschiebungen um Halbtöne, ich spüre sie. Halbtöne. Übelkeit. Kotzen.

Einsamkeit ist der Rhythmus meiner Nacht. Ich fühle mich elend. Meine Haut spannt, als hätte ich einen zu kleinen Neoprenanzug an. Nein, nein, denke ich. Ich gebe nicht auf. Kann ich ohnehin nicht.

Wieder kotzen, obwohl nichts mehr drin ist. Ich stehe mit weichen Knien vor meinem Zelt, halte mir den Bauch, als ich aus dem Augenwinkel sehe, dass die Warane wieder da sind. Ihre langen Zungen fahren ins Erbrochene. Sie essen meine Wasserkotze. „Igitt“, denke ich und lege mich wieder ins Zelt. Endlich bin ich leer, endlich kann ich schlafen.

Die Sonne weckt mich, es ist heiß im Zelt. Ich überlege, die ersten Stunden des Tages mit Onanieren rumzukriegen, aber es ist zu warm. Außerdem bemerke ich, dass ich keine Vorräte mehr habe. Ich hätte mehr Instant-Suppen mitnehmen sollen, denke ich, und freue mich darüber, wenigstens eine Aufgabe für den heutigen Tag zu haben. Essen organisieren. Überleben. Alles besser, als wieder zwölf Stunden im Sand zu sitzen und auf dieses verkackte Meer zu starren. Im kleinen, angrenzenden Dschungel werde ich höchstens giftige Pflanzen pflücken, also entscheide ich mich, mir aus einem Ast einen Speer zu bauen.

Die Spitze gelingt mir so gut, dass ich mir vor Freude mehrfach in den Daumen pieke.

Jetzt wird zurückgefischt. Kennt man schließlich aus „Lost“ und „Die blaue Lagune“. Kann nicht wirklich schwer sein. Speer, Fisch, Stich.

Hatte ich schon erwähnt, dass „Die blaue Lagune“ hier in der Gegend gedreht wurde? Leider gibt es auf meiner Insel weder eine Lagune noch Brooke Shields. Verdammt. Wenn ich ehrlich bin, würde ich sogar den Arzt aus „Lost“ nehmen. Ich will mich unterhalten. Schon nach vier Tagen fehlt es mir, zu reden, zu sprechen, mich auszutauschen. Die einzige Unterhaltung, die ich habe, ist mit den Einsiedlerkrebsen Gerit, Laura und Marie.

Ich stehe im Wasser und steche ins Leere. Ich steche, steche, steche. Nichts. Nach kurzer Zeit gebe ich erschöpft auf. Meine Ausbeute: Vier Muscheln, ein Seestern und ein Seeigel. Hmmm. Die Qualle, an der ich probeweise geleckt habe, war viel zu salzig. Enttäuscht setze ich mich in den Sand, starre wieder auf dieses verdammte Meer. Was mache ich hier eigentlich? Die Sonne brennt, das Meer ist pisswarm, Chris singt „Trouble“, ich fühle ihn. Eigentlich müsste ich glücklich sein. Die Chance, hier, 17.550 Kilometer von zu Hause entfernt, zu sein, einfach nur zu sein, bietet sich nicht vielen. Und was nützt mir das? Ich bin nicht glücklich. Ich scheiß auf Robinson, auf den Pazifik, auf den Traum von der einsamen Insel. Ich bin nicht überlebensfähig. Das ist es, was ich erkenne. Was nützt mir mein abgebrochenes Studium, mein Wissen über den Holocaust, meine Leidenschaft für Japanologie, die hübschen Brüste der Frau, die ich zuhause lassen musste, der High Score bei „Katamari“, mein Leben in Gänze? Nichts!

Ich nehme wieder meinen iPod, will mich zerstreuen, entscheide mich für das unbekannte Label mit dem verzweifelt ironischen Namen „Keine Musik“. Ein DJ, den ich flüchtig kenne, Adam Port nennt er sich, macht Techno. Weit weg von Berlin-Mitte höre ich die Musik, die jedes Wochenende so viele beschäftigt.

„Und wo gehst du hin? Tape? Berghain? Horst?“

„Nee, ich geh ins Cookies.“

„Ihh, Cookies.“

Die Musik nervt, sie ist souverän, aber sie nervt. Weil Adam Port mir keinen Fisch fangen kann. Ich entscheide mich für Seeigel. In der ersten Staffel von „Lost“ isst der Koreaner sie roh. Das probiere ich jetzt. Ich knacke die Schale, das Lied steigert sich zum Höhepunkt – popelgelber und rentnergrauer Glibber läuft über meinen Finger. Ekelhaft. Egal. Der Hunger siegt. Ich hebe den Seestern wie eine Auster an meinen Mund und schlürfe das sämige Innere. Meine Augen beginnen zu tränen, ich kotze noch einmal.

So geht das nicht weiter, denke ich, und schalte den iPod aus. Fort damit. Der Soundtrack meines Lebens hat sich verändert. Keine Musik, dafür Magenknurren, Nöte statt Noten, Sehnsüchte anstelle von Songs. Ich will einfach nur weg. 24 Stunden noch. Randnotiz: Die Warane und ich sind mittlerweile befreundet. Sie dürfen die angefangen Speisen aus dem Meer aufessen. Ich schlafe derweil. Angst vor ihnen habe ich keine mehr.

* Tag 5 /

Wieder Coldplay. Ich fühle mich wie der Star auf einem Konzert, auf meinem Konzert, singe lauthals mit, während ich eine Runde laufe, kenne jede Zeile, jeden Spruch zwischen den Liedern, jeden Song. Ich checke meine Vorräte: Eine Handvoll Reis, kein Wasser, zwei Zigaretten, ein Schokoriegel, der bereits durch die Plastikverpackung schwitzt. Keine sauberen Schlüpfer, also beschließe ich, nackt zu sein.

Ich rede mittlerweile laut mit mir selbst, gestikuliere wild. Schreie mal hier, mal da hin, wähle einen bauchigen Stein als Gesprächspartner.

Ich ziehe die weißen Ohrhörer aus meinem Kopf. „Lalala“, singe ich laut.

„Ich kann nicht mehr“, sage ich. „Ich will keine Musik mehr“ wimmere ich. „Ich will was essen, ich will einen Mund, der mir antwortet, den ich vielleicht auch küssen kann.“ Mein Stein antwortet nicht. Wieder nicht. Ihm scheint es egal zu sein, wie es mir geht. Ich streichele ihn über seinen kahlen Kopf, dann schleudere ich ihn ins Wasser. Ich fühle mich einsam, einsamer als in Berlin manchmal, wenn man fremde Menschen beobachtet und ihnen zunickt in der Hoffnung, sie würden einen bemerken, wahrnehmen, menschlich aufladen.

Das schöne Wetter, das warme, türkisblaue Wasser, alles egal. Was würde ich jetzt dafür geben, wintergrauen Matsch an den Unterseiten der Autos zu sehen. Ich würde den Matsch sogar lutschen. Ich sitze mit angezogenen Beinen im Sand, habe schon früh angefangen, mein Gepäck zu packen. Jetzt steht es ordentlich und verschnürt neben mir. Sitzen und warten, warten und sitzen.

Ich mache nichts anderes mehr. Seit fünf Tagen schon, doch worauf? Und vor allem: Warum?

Möglicherweise war ich so dumm zu glauben, ich könnte eine Erkenntnis erlangen, eine neue Entdeckung, tief in meiner Seele. Das Einzige, was ich jedoch entdeckt habe, ist das schwarze Loch der Einsamkeit, das erbarmungslos alles aufsaugt, was es zu fassen bekommt. Abenteuerwillen, Überlebenskraft, Hunger, Freude. Sogar Musik. Ich sitze, als leere Hülle zusammengeschrumpelt, am Strand, schiebe meine Zehen über die Zielgerade der Krebs-Rennstrecke. Meine Exfreundinnen sind ins Meer entschwunden. Ich will nicht mehr schwimmen, nicht laufen, nicht schlafen, nichts denken, nichts hören.

Kein Fischerboot in Sicht.

Ich zähle die Minuten, obwohl ich vergessen habe, was eine Minute ist. Ich bin komplett orientierungslos, wähne mich am Ende der Welt, fühle mich aber am Ende meiner selbst. So muss es sich anfühlen, wenn man irre wird. Wieder der Gedanke, ob ich die letzten Stunden mit Masturbation herumbekomme.

Die Musik ist tot. Ich auch.

Ich kann nichts mehr hören, außer in mir drin. Ich beiße auf meiner spröden Unterlippe herum, schmecke Eisen, Blut. Zu stark gekaut.

Was soll das alles? Wem wollte ich was beweisen? Obwohl ich weiß, dass ich bald abgeholt werde, fühle ich mich gefangen, verloren, ausweglos, am Ende. Ich fantasiere, fieberhaft. Was mach ich nur, wenn der Fischer mich vergessen hat? Was, wenn er gestern Nacht ertrunken ist?

Panik, Angst, Horror, tief unten in den Eingeweiden. Du wirst sterben, jämmerlich verrecken. Die Warane werden deine Augäpfel herauszüngeln, darauf herum beißen, sie ausspucken wie Kirschkerne.

Ich stehe auf. Der Kanister mit dem Trinkwasser ist so leer wie die Batterie des iPods. Ich lecke an feuchten Blättern. Bloß kein Salzwasser, das habe ich gestern schon bereut. Ich werfe meinen Speer ins Wasser, schaue zu, wie er davon treibt. Das war’s dann wohl. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich Chris Martin und Steve Reich hinterherwerfen soll. Hören werde ich die beiden eh nie wieder.

Ein feiner Schweißfilm auf meiner Stirn. Ich bin immer noch nackt. Ich lecke jedes einzelne Blatt. Dazwischen stoße ich wirre Sätze aus, in Reimen, nur so kann ich mich beschäftigen. Ich weine ein wenig.Weinen hilft auch nicht, ermahne ich mich.

Ich gehe zurück an den Strand, setze mich wieder in den Sand, als ich den Fischer erkenne, der neben meinen gepackten Habseligkeiten steht.

Er reicht mir seine Hand, ich lege ein Handtuch auf meinen Schoß.

Thilo Mischke reiste über Auckland, Neuseeland, nach Nandi, die Hauptstadt der Fijis. Am Hafen von Nandi überredete er einen Fischer, ihn auf eine unbewohnte Insel der Yasawa-Gruppe zu bringen. Dort hatte der in Berlin lebende Autor, 29, die Idee, ein Buch mit dem Titel „In 80 Frauen um die Welt“ zu schreiben. Mischkes Debüt erscheint im Sommer.