Auf Tour mit Tocotronic – Tag 7, Wiesbaden: Verschwundene Zeit
Tammo Kasper, eigentlich Bassist der Band Trümmer, ist mit Ilgen-Nur als Support von Tocotronic unterwegs. Hier schreibt er sein Tour-Tagebuch für uns. Heute: 12. März, Wiesbaden. Diesmal mit Hotelübernachtung (endlich!) und Fernseher über dem Bett.
12. März 2018, Wiesbaden – Der erste Tag nach einem Offday ist erstmal schwierig. Die Routine ist raus. Alles fühlt sich schwerer an: Jede Merchkiste, jeder Verstärker, die Koffer mit den Gitarren und Bässen. Im Bus gibt es eine festgelegte Reihenfolge, in der das Equipment in den Kofferraum geladen werden muss. Erst die großen Kisten, die schweren Verstärker und die Bassboxen, das Leuchtlogo, dann in einem Schichtsystem die Gitarren, das Schlagzeug (verpackt in Cases) und als letztes die Pappkartons mit dem Merchandise – den Tapes und Shirts.
Die Ladereihenfolge wird im Laufe einer Tour in den ersten Tagen festgelegt, Stück für Stück perfektioniert und läuft am Ende fast automatisch ab. Jede Kiste hat ihren festgelegten Platz. Ein bisschen Tetris. Wir sind eine halbe Stunde nach dem Konzert fertig mit Laden, die Toco-Crew braucht drei oder vier Stunden. Die sind mit einer kompletten Lichtanlage unterwegs, eigenem Pult, einer riesigen Discokugel und unzähligen Gitarren. Fast wie Rammstein.
Tour-Flow
Heute in Wiesbaden sind alle wieder drin im Tourmodus. Alles geht fast wie von selbst. Touren kann – wenn nichts dazwischen kommt (schlechte Konzerte, mieser Kater, Erkältung) funktionieren wie ein Flow-Zustand. Alles greift ineinander, die Zeit vergeht wie von selbst, die Autobahnkilometer ziehen vorbei. Es ist erstaunlich, wie man einen ganzen Tag füllen kann, obwohl es eigentlich nur um 30 Minuten (oder eben 1h30) Konzert geht.
Vor jeder Tour nimmt man sich vor, die viele Zeit dieses Mal sinnvoll zu nutzen (Arbeiten, Bücher lesen, Schreiben) und jedes Mal aufs Neue klappt es einfach nicht. Die Zeit verschwindet in einem schwarzen Loch. Nagel von Muff Potter hat auch mal so ein Buch geschrieben, über das Touren. Das ist sogar ziemlich gut. Wo die wilden Maden graben. Sollte man lesen, bevor man versucht, Rockstar zu werden, dann ist man gut vorbereitet auf die Sache mit den schweren Verstärkern und der verschwundenen Zeit.
Immer unterwegs, immer auf der Straße
In Wiesbaden schlafen wir im Hotel. Als Support muss man sich selbst um die Unterkünfte kümmern. Budget ist knapp, daher tauschen wir üblicherweise Gästelistenplätze gegen Schlafsofas oder crashen bei Bekannten. Aber in Wiesbaden hat uns der Veranstalter ein Hotel gebucht und bezahlt sogar dafür – muss ein Versehen sein. Endlich ein bisschen Ruhe, ein Fernseher über dem Bett (Die intelligentesten Menschen fangen auf Tour an, der größten Mist im Fernsehen zu gucken, versprochen!) und wir können schon vor dem Konzert einchecken und uns eine Runde aufs Ohr legen.
Im Schlachthof loggt sich mein Handy automatisch ins WLAN ein. Passwort noch gespeichert. Wir waren mit Trümmer schonmal hier. Erhabener Moment, fühlt sich professionell an, immer unterwegs, immer auf der Straße, Rock’n’Roll-Lifestyle. Metz ist da noch ein Liga weiter: Der ist Tontechniker von Tocotronic und wenn er nicht gerade Tocotronic mischt, dann fliegt er mit Moderat und Apparat um die Welt.
Am Merchstand quatschen wir mit Steve. Der steht seit ein paar Tagen bei jedem Konzert in der ersten Reihe.
Er erzählt von einer Cabriotour durch Kalifornien, zwischen den beiden Coachella-Festivals, von Trips nach Vancouver und Mexiko-City, Festivals in Südamerika. Metz ist nicht oft zuhause. Das ist eh so eine Sache, in diesem Zirkus: Kay – Monitortechniker – ist gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Frau und Kind sind in Australien im Urlaub, er ist für die Tour wieder zurückgeflogen.
Bis uns das Licht vertreibt: Achtelbass und Klavierakkorde. Melancholischer Rückblick, ein Fanal des guten Geschmacks, kraftvolles Stück Musik und textliches Kammerspiel. Die Furcht vor dem Sonnenaufgang, Schlaflosigkeit im Twilight. Erinnert manchmal an die guten Sachen von The National, ist zeitlos und modern gleichzeitig.
Am Merchstand quatschen wir mit Steve. Der steht seit ein paar Tagen bei jedem Konzert in der ersten Reihe. Steve kommt aus Luxemburg und hat gerade Urlaub. Die freien Tage nutzt er, um der Band eine Woche lang hinterher zu reisen. Steve fährt mit der Bahn und schaut sich Nachmittags die Städte an, in denen die Band Abends spielt. Ein paar Stunden vor Konzertbeginn steht er dann vor der Venue.
Steve steht immer in der Mitte der ersten Reihe. Zum Abschluss von Tourblock Eins, am Sonntag in Hamburg kann er leider nicht dabei sein. Am Montag muss er wieder auf der Arbeit sein. Die Band kennt Steve, er ist schon seit ein paar Touren dabei: Vor dem Konzert in Wiesbaden geht Dirk raus vor die Tür und begrüsst ihn, die beiden quatschen ein paar Minuten und machen Witze.
Wie wir leben wollen: Als der Song erschien, war diese Aussage-Frage nach Zukunft und Utopie seiner Zeit ein Stück weit voraus. Jetzt nicht mehr, jetzt ist die Welt dort angekommen, wo Tocotronic sie kommen sahen. Jetzt ist wieder große Koalition, jetzt ist Rechtspopulismus, jetzt steht die europäische Union zur Diskussion, jetzt ist die Frage: Wie wollen wir leben? Wo wollen wir hin?
Wenn nicht alles den Bach runtergehen soll, dann müssen wir eine konkrete Vorstellung davon entwickeln, wie die Welt in Zukunft ein besserer Ort werden kann, als sie gerade ist, wie sie ein gerechterer Ort werden kann, wie es den Menschen besser gehen kann als jetzt gerade. Die Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig auch die Antwort auf viele Dinge, die die Nachrichtenschlagzeilen beherrschen. Nur eine Utopie – als Gegenentwurf zum rechten Wahn – kann uns jetzt noch retten.
Nach dem Konzert in Wiesbaden, die ganze Technik ist längst verladen, sitzen wir mit Rick und ein paar Freunden im Backstage. Barbara kommt rein und gibt allen Wodka aus. Barara spielt in der Brand Britta, wenn sie nicht gerade Tocotronic-Touren organisiert. Britta sind eine der Institutionen der Hamburger Schule, sagen die, die es wissen müssen. Als wir gehen, verabschiedet sie uns mit einer dringenden Aufforderung: „Köln muss in Flammen stehen“.