Pulp
Homecoming-Show der ewig Unangepassten im Londoner Hyde Park: Die definitive Britpop-Band kehrt nach neun Jahren Pause zurück.
Jarvis Cocker ist die eigentliche Identifikationsfigur des Britpop. Das wird klar, als er zur Abenddämmerung vor 45 000 Menschen die Bühne betritt: Nach der ersten Zeile des sich aufdrängenden Openers „Do You Remember The First Time?“ muss Cockers Gesang schnell nach oben gedreht werden. Man hat kein Wort verstanden, die Menge zu laut mitgesungen, ach was: mitgeschrien. Damon Albarn war zu gut aussehend, Brett Anderson zu entrückt, Liam und Noel Gallagher zu nahe am Cartoon, Supergrass schließlich waren Cartoons. Cocker war anders.
16 Jahre krebste er mit Pulp durchs Leben, bis 1994 die Welt von ihm Notiz nahm, bis er mit diesem „Do You Remember The First Time?“ erstmalig die Top 40 von innen sah. „Mis-shapes, mistakes, misfits/ Raised on a diet of broken biscuits/ Oh, we don’t look the same as you, we don’t do the things you do/ But we live around here too“ – Cocker singt den vielen Mittdreißigern aus der Seele, die wissen, was es bedeutet, immer als Letzter ins Fußballteam gewählt zu werden, immer der Einzige im Freundeskreis zu sein, der keine Beziehung hat und morgens gleich wieder ins Bett zu wollen, nachdem man sich im Spiegel gesehen hat.
Cocker ist so schlaksig wie eh und je. Bart und Eulenbrille verstärken seine natürliche Kauzigkeit. Doch als er Jackett und Krawatte ablegt, kreischen mindestens die weiblichen Fans, als wären sie 15 Jahre jünger und hätten die sexualhormonstrapazierendste Boyband vor sich. Die ihm entgegenströmende Liebe scheint Cocker nicht im Geringsten zu verunsichern. Er weiß, dass er sich das alles mühsam verdient hat. Und die Fans haben nach fast zehn Jahren Bandpause verdient, wieder die Hits zu hören: „Something Changed“, „Sorted For E’s & Wizz“, „Disco 2000“ – letztgenannten widmet Cocker der an diesem Tag vor 54 Jahren geborenen, 2004 verstorbenen US-Sängerin Laura Branigan, die mit ihrer Version des Umberto-Tozzi-Klassikers „Gloria“ einst die Vorlage für „Disco 2000“ lieferte. Das Multiplatinalbum Different Class wird fast in Gänze aufgeführt, aus den Folgewerken This Is Hardcore und We Love Life spielen Pulp nur je ein Stück. Einzig die B-Seite „Mile End“ geht als Spezialität für den Auskenner durch. Und selbst die Reaktion auf diese Nummer steht der auf den fast fanatisch abgefeierten Abschlusssong, der definitiven Hymne des Britpop, „Common People“, in nicht viel nach.
Pulps Konzert im Hyde Park war acht Monate zuvor als erster Termin ihrer Reuniontour angekündigt worden. Zwar spielte die Band zwischenzeitlich noch unter anderen beim Glastonbury-Festival, aber zumindest geht der Abend in London als die große Homecoming-Show in die Bandgeschichte ein. Denn obwohl Pulp mehrheitlich aus Sheffield stammen, seien die meisten ihrer Klassiker in und über London entstanden, wie Cocker eingangs sagt. Und die Stadt beeinflusst ihn weiterhin: Vor dem letzten Song grüßt er die Londoner Upperclass, die sich im nahen „One Hyde Park“, dem teuersten Apartmentblock der Welt (Quadratmeterpreise von bis zu 68 000 Euro), eingenistet hat, mit einem hasserfüllten „Fuck them“. Zu ihnen wird er nie gehören.