Der neue Sound des Zorns
Twitter-Stürme statt Punk-Romantik. Die Unruhen in England haben auch die Popmusik aufgemischt. Im Zentrum des Krawalls: Die Elektro-Rapper des Grime.
Der Notting Hill Carnival in West-London ging gerade zu Ende, als die Ausschreitungen begannen. Die Randale im Spätsommer 1976, so behaupten es jedenfalls die Chronisten, sei eigentlich eher zufällig ausgelöst worden – nämlich durch Polizisten, die einen Taschendieb verhaften wollten, daran aber von schwarzen Kids gehindert wurden. Aus dem Handgemenge entwickelte sich ein Krawall, bei dem die Polizei mit Wurfgeschossen aller Art attackiert wurde. 17 schwarze Jugendliche wurden damals angeklagt, nur zwei von ihnen verurteilt.
Kurz vor diesen Ausschreitungen spielten The Clash ihren ersten Gig in Sheffield – damals noch im Vorprogramm der Sex Pistols. Ihre erste Single, das polemische, Ramones-inspirierte „White Riot“, war ein direkter Kommentar zu den Riots in Notting Hill. Sänger Joe Strummer und Bassist Paul Simonon hatten die Ausschreitungen am eigenen Leib miterlebt.
Die in den Monaten danach gegründete Musik-Initiative „Rock Against Racism“ (RAR) organisierte umgehend einige Konzerte mit Gleichgesinnten wie The Clash, Buzzcocks und X-Ray Spex – und machte es sich zur Aufgabe, weiße Jugendliche davon abzuhalten, ins Lager der rechtsradikalen, unverhohlen rassistischen „National Front“ überzulaufen. Die Sex Pistols besangen die „Anarchy In The UK“, während Reggae-Bands wie Steel Pulse und Aswad den eklatanten Rassismus in der englischen Gesellschaft thematisierten.
Am Samstag, dem 7. August 2011, wurde bei einer Polizeikontrolle im Norden Londons der schwarze Taxifahrer Mark Duggan erschossen, ein 29-jähriger Vater von vier Kindern. Noch in der gleichen Nacht begannen in Tottenham die Unruhen, die sich im Lauf der nächsten Tage auf weitere Stadtteile und schließlich auf andere englische Städte ausweiten sollten. Jugendliche, schwarz wie weiß, plünderten Geschäfte, griffen die Polizei an und grinsten feixend in jede verfügbare Fernsehkamera. Konservative Politiker riefen umgehend nach Recht und Ordnung, während sich ihre linken Kollegen auf die Suche nach den sozio-ökonomischen Ursachen machten.
Keine Frage: 35 Jahre nach den „Notting Hill Riots“ ist die politische Landschaft in England eine andere – und die Reaktion der Popmusik auf die aktuellen Unruhen ist es nicht minder. Kaum hatten an jenem Samstag in Tottenham die Ausschreitungen begonnen, meldete sich Professor Green, ein weißer Rapper aus London, mit einem Tweet aus Ibiza zu Wort: „Die Scheiße, die dort passiert, ist der blanke Wahnsinn. Wie lange will die Polizei diesem Treiben eigentlich noch zuschauen? Ich bin mir sicher, dass die Antwort in Chelsea anders ausgefallen wäre.“ Und am 9. August fügte Green hinzu: „Diese Unruhen werden eine Menge Ressentiments an die Oberfläche spülen. Passt auf, dass nicht auch die Rassen-Karte gezogen wird. Denn darum geht’s hier überhaupt nicht.“
Dorian Lynskey ist der Autor von „33 Revolutions Per Minute“, einer unlängst veröffentlichten Abhandlung über die Geschichte des Protestsongs. Nach seiner Auffassung entziehe das Internet den Musikern den Antrieb, überhaupt noch ins Studio zu gehen und mit einem Song ihre Position zu dokumentieren. „Wenn ein Musiker seine Wut verbreiten will, kann er das genauso gut über Twitter oder seinen Blog artikulieren und so den angestauten Dampf zumindest teilweise ablassen. Die Tweets von Professor Green sind alle superintelligent und treffen den Nagel auf den Kopf. Aber wird er nun noch die Motivation haben, über die Unruhen einen Song zu schreiben? Vielleicht denkt er ja, dass er schon alles gesagt hat, was er seinen 300 000 Followern sagen wollte.“
Professor Green zählt in Großbritannien zu den großen Namen. Er ist in den Top Ten der Charts: Was er rappt, findet offene Ohren. Und doch entsteht die politisch relevante Musik derzeit im Grime, einer Mischung aus HipHop und Elektro. Musiker wie Lethal Bizzle und Wiley haben sich bislang eher am Rande des Mainstream bewegt und erreichten mit ihren Texten eine überschaubare Szene. Bizzles „Pow! (Forward)“, ein aggressiver, aber letztlich doch positiver und konstruktiver Track, wurde ursprünglich bereits 2004 veröffentlicht. Er entwickelte sich aber erst viel später zur inoffiziellen Hymne der Studentenunruhen, die im Dezember 2009 London lahmlegten. Als der Track veröffentlicht wurde, nannte der „NME“ ihn einen „Schlachtruf für die Massen, ein Stimmungsbarometer der sozialen Unzufriedenheit“. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis Lethal Bizzles Song seine Sprengkraft entfalten konnte.
Auf die August-Unruhen angesprochen, wundert sich Bizzle laut, warum bei den Obrigkeiten der Groschen erst jetzt gefallen sei – schließlich seien die sozialen Unruhen in den englischen Großstädten bereits seit Jahren greifbar gewesen. „Es passierte ja nicht aus heiterem Himmel“, sagte er dem „Guardian“. „Diesmal sahen die Kids einfach die willkommene Gelegenheit, die angestaute Wut rauszulassen. Denn in ihren Augen haben sie nun schon seit Jahren Scheiße fressen müssen.“
In den offiziellen Bewertungen der Krawalle kommt Grime bestenfalls als gefährliche Krawallmusik vor. Die Vorstellung, dass Premierminister Cameron überhaupt Kenntnis von diesem Genre hat – von Interesse ganz zu schweigen – ist völlig absurd. Dabei wuchsen gerade diese Musiker unter ähnlichen Umständen auf wie die Mehrheit der randalierenden Gangs. Sie wissen, wie es sich anfühlt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Sie kennen das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Und je lauter stramm-konservative Politiker als auch Yellowpress-Journalisten, welche die „verderbliche Hass-Kultur der Rapmusik“ anprangern, nach Zensur schreien, weil Rap „die Unruhen nur befeuere“, desto energischer werden sich die Rapper zur Wehr setzen.
Auch wenn Twitter und Facebook in puncto Schnelligkeit und Unmittelbarkeit heute die ersten Protest-Träger sind, ist eine neue „Riot Music“ laut Bizzle nur eine Frage der Zeit. Ein, zwei Wochen nach Ausbruch der Unruhen hatten bereits mehrere Grime-Musiker ihre Statements aufgenommen und hochgeladen. Nicht zuletzt Reveal mit „I Predict A Riot“, der sich fleißig Samples des Originals der Kaiser Chiefs bediente.
Unabdingbar aber sei es, glaubt Buchautor Lynskey, dass sich auch Mainstream-Musiker an einer Aufarbeitung beteiligen. Sie seien es nun mal, deren Stimmen eine breite Öffentlichkeit erreichen. „Ich glaube, das Problem ist die Schere im Kopf: Viele Popstars möchten sich heutzutage einfach nicht lächerlich machen, möchten ihren Zuhörern nicht mit politischen Botschaften auf die Nerven gehen. Wenn man sich die Geschichte des Protestsongs in England anschaut, stellt man fest, dass die Bewegung 1976 begann, aber schon Mitte der Neunziger wieder verschwunden war. In den Achtzigern hielten es zahlreiche Popstars für ihre selbstverständliche Aufgabe, sich auch politisch zu engagieren. Selbst eine Synthie-Band wie Human League schrieb „The Lebanon“! Damals war es halt gesellschaftfähig. Inzwischen wagt sich jedoch niemand mehr aus seinem Loch – aus Angst, für einen politischen Song ausgelacht zu werden. Als 3G von Massive Attack seine Gedanken über die Unruhen postete, wurde er von allen Seiten angegriffen.“
Lily Allen hatte keine Hemmungen, ihre dezidiert linke Meinung zu den Unruhen drei Millionen Twitter-Followern kundzutun. Doch auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, auch einen politischen Song zu schreiben, antwortet sie: „Nicht wirklich. Meinen Songs fehlt dazu wohl die metaphorische Qualität. Es wäre eher eine Lachnummer, einen typischen Lily-Allen-Song zu diesem Thema zu hören – er klänge vermutlich wie ein misslungenes Musical. Aber ich denke schon, dass andere Musiker auf die Zustände in diesem Land – die Wirtschaft, die Unruhen, den Ärger mit den Studenten-Krediten – reagieren werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Echo auf sich warten lässt.“
Die Grime-Musiker, die den Sprung in den britischen Mainstream geschafft haben – Dizzee Rascal, Tinie Tempah, Chipmunk und Tinchy Stryder – werden sich einer gewissen Verantwortung für ihre ursprüngliche Szene kaum entziehen können. Aber womöglich liegt ihnen inzwischen ja mehr daran, Songs über ihr neues Leben in Privatjets auf Welt-Tourneen zu schreiben? Andererseits könnten sie diese Welt durchaus ein wenig verändern, wenn sie ihre Texte an jener Realität ausrichteten, die für die heutige Jugend in Großbritannien relevant ist.
Der Druck steigt mit jedem Tag, glaubt jedenfalls Lynskey: „Während des Arabischen Frühlings in Ägypten und Tunesien sind kraftvolle Songs entstanden. Nun ist es an der Zeit, dass sich auch britische Künstler zu den Vorgängen in ihrem Land artikulieren. The Clash taten es und die Sex Pistols auch. Die wirklich aufregenden Künstler in diesem Land – wer immer sie auch sein mögen – sollten sich aufgerufen fühlen, explizit politisch zu sein.“ Es muss sich zeigen, wie die britische Popmusik reagiert, die über Jahrzehnte auch für explizite Textaussagen stand. Ist Dorian Lynskey in dieser Hinsicht optimistisch? „Wir haben gar keine andere Wahl, als optimistisch zu sein.“