Toyah


In Derek Jarmanns Film „Jubilee" spielte Toyah Willcox genüßlich ihr sadistisches Alter-Ego aus: als Pyromanin Mad, rote Stoppeln auf dem feisten Kopf und entsetzlich fett. Jetzt, fast zierlich geworden, bringt sie als Frontfrau der Band Toyah ihre nahezu kultische Gefolgschaft in den Londoner Clubs zur Weißglut. Welche Veränderung! Was geschah in der Zwischenzeit?

„Oh, die wichtigste Veränderung ist wohl die, daß ich unheimlich abgenommen habe, und darauf bin ich stolz. Ich war nämlich immer fett“, gesteht sie noch leicht außer Atem. Wir sitzen in der Lounge des Hotels, die Bar ist natürlich schon geschlossen. Es ist Sonntag in London, und darum hat man und auch ohne viel Umschweife aus dem Marquee Club hinauskomplimentiert. Wo Toyah in einem schweißtreibenden Gig 60 Minuten lang wie ein Kobold die Bühne beherrscht hatte.

Ihre Bewegungsfreiheit war an diesem Abend allerdings außerst eingeschränkt, weil ewig pubertäre Hände nach ihr griffen oder völlig weggetretene Fans ständig auf die Bühne kletterten. Heute also kein Theaterblut, kein Striptease.

„Wie soll ich? Ich konnte mich nicht bewegen zwischen all den kleinen Jungs, die versuchte, meine Klamotten zu zerreißen!  Ich musst mich wirklich zurückhalten, weil das Publikum so aufgedreht war. Die Ordner wurden auch schon wieder gewalttätig. Wenn die Jungs schon auf die Bühne klettern, kann ich nicht noch anfangen, mich auszuziehen, dann wäre die Situation völlig außer Kontrolle geraten. Einige wären mit Sicherheit verletzt worden. Sie waren ja noch so jung, du hälst es nicht aus. Einer der Ordner schlug einem voll ins Gesicht, dabei hatte er sich nur ausgelassen amüsiert und wollte bestimmt nichts tun. Alsi, wenn da eine gewisse Distanz gehalten werden kann zwischen mir und den Zuschauern – then I really play them up! Aber nicht, wenn die Gefahr besteht, daß sie verletzt werden, dann darf ich sie nicht so weit provozieren.“

Strptease, Blutspucken, künstliche Haut, die sie sich plötzlich vom Gesicht riß – all diese Effekte benutzte Toyah eigentlich nur zu Beginn ihrer Karriere als Clubsensation. „So

eigentlich nicht mehr. Ich brauche es nicht, wejl ich mittlerweile andere Dinge beherrsche, ich  improvisiere lieber“, erklärt sie und: „Hier in England kennt man das nun langsam, vielleicht werde ich einiges davon wiederaufnehmen, wenn wir nach Deutschland kommen.“ (Geplant waren ja einige Gigs im März, bis Redaktionsschluß jedoch leider noch nicht bestätig). Toyah – that weird little person –  mag das Spiel mit dem Publikum. „Je mehr so ein Auf! rill zur Herausforderung wird, desto mehr liebe ich es. Ich steh‘ drauf, wenn das Publikum uns halst. Dann kannst du’s eine Stunde lang so richtig an die Kandare nehmen! Gestern waren da zum Beispiel drei Frauen, die ständig ‚Fatty‘ riefen. Ich widmete ihnen den Singletitel, den ich dann sang und tat so, als ob ich eine von ihnen anmachen würde. Das war total verrückt und einfach zu viel für sie, weil ich so grenzenlos übertrieben habe. Sie nannten mich eben ‚Fatty“, weil sie betrunken waren, drei unheimlich dünne Mädchen. Im Vergleich zu ihnen bin ich vielleicht wirklich noch fett, aber ich flippte total aus. Ich hantierte mit dem Mikrophon und erzählte dem Publikum, wie sehr ich auf sie abfuhr, auf diese wunderbaren kleinen Frauen. Die wurden fast verrückt und gingen!“ Toyah lacht wie ein Spitzbube. „Sie gingen! Ich bin nicht gern aggressiv zu Leuten, die mich nicht mögen, ich bin lieber richtig lieb zu ihnen, weil sie dann nämlich erst recht durchdrehen. Wenn dir jemand so unverschämte Dinge an den Kopf wirft, und du gehst dann noch hin und knuddelst ihn geradezu, dann weiß er überhaupt nicht mehr, was angesagt ist.“

Toyah Willcox, ein wenig ausgeflippt, versponnen, verrückt („ich halte mich eigentlich eher für normal und die anderen für komisch“), obskuraggressiv ist sie augenscheinlich nicht, bei aller koboldhaften Frechheit, die ihr zu eigen ist. Das zeigt auch ihre erste LP, „Sheep Farming in Barnet“, (vergl. ME 2/80). Wie ein Geisterbeschwörer (Toyah über Toyah) will sie ihr Publikum mit gegensätzlichen Emotionen in Atem halten; „eine schizophrene Gestalt, die ihre Stimmung innerhalb einer Sekunde ändern kann.“ Bei all dem schwingt in der Musik eine unterschwellige Harmonie mit, so daß ihr magisches Spiel mit dem Wahnsinn zwar den Kitzel des Verschleierten besitzt, jedoch nie zu kaltem Horror gerinnt. Toyahs Stimme ist eher zart und lyrisch, nicht so schneidend wie die von Siouxsie. Ihr Gesang läßt auch den höhere Töchter-Appeal einer Kate Bush vermissen (mit beiden hat man Toyah bereits verglichen), dafür ist sie viel zu kompromißlos in ihrer Experimentierfreude. Oft sind es nur Fetzen, die wie die Rufe eines Käuzchens aus den Boxen dringen. Jam, Toyahs Roadmanager, Personal-Manager und Toningenieur in Personalunion, ist für diese speziellen Effekte verantwortlich.

Ihre Musiker (Pete Bush, keyb; Mark Henry, b; Joel Bogen, g und Steve Brey. dr) pflegt sie nach getaner Arbeit an den Backing Tracks aus dem Studio zu scheuchen. „Ich kann es nicht ausstehen, wenn im Studio tausend Leute rumhängen mit ihren Freundinnen und noch anderen Freunden, die dir ständig im Wege sind, wenn du arbeiten mußt. Ich will, daß man mich in Ruhe läßt, wenn ich den Gesang aufnehme. Ich mag diese ‚Einzelhaft‘-Situation, wenn ich mich in einen kleinen Raum zurückziehe. Ich will dann nicht einmal den Toningenieur sehen. Es ist tatsächlich so eine Art Meditation, als ob du dich in deine ureigene Existenz zurückziehst – das ist der beste Weg für mich.“

Toyah improvisiert nicht nur den Gesang, sondern auch einen großen Teil ihrer Texte, die sich meist in existenziellen Randgebieten zwischen Himmel und Hölle bewegen. Es geht um(zwischenmenschliche) Entfernungen, den Austausch von Impulsen zwischen Mensch und Maschine. Auffällig sind Toyahs häufiger Rückzug in den embryonalen Zustand (z.B. in „Neon Womb“) wie ständige Konfrontationen mit dem Tod. Ihr Favorit: „(Victims Of The Riddle) Vivisection“, als Single allerdings ein Flop, weil die Radiostationen diesen Titel nicht spielen wollten. Er sei zu merkwürdig, hieß die Begründung.

„Vivisection“ ist Toyahs Prolest gegen die Eingriffe an lebenden Tieren zu wissenschaftlichen Versuchszwecken, bewußt als musikalisches „Mißverständnis“ produziert: auf der Basis einer disco-orientierten federnden Hintergrundmusik verpackt sie ihre verbals in so angstvoll gequälte Verspannung wie in keinem anderen der Songs.

An jenem Abend im „Marquee“ widmete Toyah dieses Lied außerdem der Armee: „Ich glaube, daß die Army nicht gerade die englische aber die Armee in den USA unheimlich krank ist Ich führe das darauf zurück, daß bei Soldaten, die in Vietnam tödlich verwundet wurden, noch mit Strahlen experimentiert wurde, weil sie ja sowieso sterben mußten. Ich habe die Army auch erwähnt, weil sie nur für die Würde eines Landes und nicht für die Bevölkerung kämpft. Darum werden wir auch alle ihre Opfer. Wir wollen nicht kämpfen, nicht meine Generation. Wir wollen leben!“ Hast Du gehört, Jimmy Carter?

What is your crime, what have you done?

You’re a victim….

„Vivisection“, Toyah.

Musikalisch will die Band in Zukunft jedoch einen etwas kommerzielleren Weg einschlagen. Toyah: „Die Musik auf unserem Album ist doch noch ziemlich egozentrisch, ich will, daß wir uns gefühlsmäßig etwas ausbreiten. Ich selbst würde gern auch noch ein paar Solo-Dinge machen, aber ich schwöre dir, das wäre so obskur, daß es niemand freiwillig anhören wollte!“ Wieder das schadenfrohe Gelächter eines Kobolds, der seine Umwelt gerne piesakt, ohne wirklich bösartig zu sein. Unberechenbar will sie bleiben die Band-Einheit ,.Toyah“. „Ich weiß nur eins.“ erklärt die Entertainerin Toyah, „wenn ich merke, daß ich kalkulierbar werde, dann werde ich den Club, in dem wir spielen, in Brand setzen oder irgendwelche anderen verrückten Dinge tun!“

Hat eine solche Frau feministische Ambitionen? Im Film „Jubilee“ gehörte sie einer asexuellen Frauenclique an, und sie erklärt auch jetzt: „Ich betrachte mich nicht unbedingt als Frau, eher als menschliches Wesen. Ich denke nicht als Frau, empfinde auch nicht so, wenn diese frechen kleinen Jungs vor der Bühne nach mir greifen. Ich bin auch eher wie ein Junge aufgewachsen. Ich war das jüngere Kind und mußte mich durchsetzen. Ich wuchs buchstäblich auf, um für mich selbst zu kämpfen. Mir wurde nichts erspart, nur weil ich ein Mädchen war.“ Paranoides Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht liegt ihr fern. ,,Wir Frauen haben doch sowieso die Oberhand. Wir würden keine Kinder bekommen, wenn wir nicht wollten. Also sind doch wir die Überlegenen. Ich hasse diese Auswüchse des Feminismus, wo von „männlichen Schweinen“ die Rede ist. Wir sind doch schließlich füreinander bestimmt. Außerdem: Wir können genausoviel Köpfchen haben wie die Männer und die können wiederum genauso dumm sein wie wir.“

„Sieh an, eine Frau mit Talent zu Aphorismen“ hätte würde er noch leben – Kurt Tucholsky in liebenswürdig, chauvinistischer Form gesagt. Er hätte recht! The living dead can not die And the living living won’t survive. „Insects“, Toyah.