Adele – Die Perfekt Unperfekte


These 2: Als handfeste Mutti im Mainstream ist Adele der neue Prototyp Frau, der den Popjahrgang beherrschte.

Wenn man sich zu lange auf dem Jahrmarkt herumgetrieben hat mit seinen flackernden Lichtern, den schreierischen Durchsagen und der scheppernden Musik, dann sehnt man sich nach der Gediegenheit eines Kaffeekränzchens. Auftritt Adele. Dem Plastik-Tätärä der immer absurder übertakelten R&B-Ladys, der affektierten Drama-Queens, setzt die Barhocker-Sängerin das Prinzip Mutter entgegen: Substanz und Wärme. Mit gerundeter Fraulichkeit, patentem, handfestem Humor und einer Stimme, die alles zu verstehen scheint und einem beruhigend auf die Schulter klopft, singt sie gegen den sterilen Cyborg-Pop des Mainstreams an. Die Solidität ihrer handgemachten bis nostalgischen Begleitmusik rundet das Wohlfühlpaket ab: Adele bietet ein konservatives Ruhekissen für sentimentale Kulturpessimisten, einen Ohrensessel für die Müdigkeitsgesellschaft. Der Mainstreampop gleicht mit Nagellack überstrichenem Furnier, Adele ist Vollholz, toi, toi, toi. Mit ihrem äußerst erfolgreichen Modell postiert sie sich als Antipode zu Lady Gaga, der anderen großen Überkünstlerin. Das Fabelwesen des Post-Gender-Pops macht ihr aber keine Konkurrenz, sondern legt andere Schwerpunkte. Adele steht für gut gemachte Traditionsmusik mit natürlicher Präsenz, Lady Gaga für Eurotrash mit visuellem Avantgarde-Schockeffekt. Adele gibt im „Rolling Stone“ zu Protokoll: „Ich mache keine Musik für die Augen, ich mache Musik für die Ohren.“

2010 hob der Musikexpress Lady Gaga als Prototyp der Frau im Pop hervor, 2011 wird sie von Adele abgelöst. Mit ihrem Album 21 und den begleitenden Singles dominierte Adele dieses Jahr die Charts. So wie die 90er mit dem gleichen Recht als das Jahrzehnt der elektronischen Tanzmusik gelten, stehen sie für die Gitarrenrenaissance des Grunge. Und soll 1978 als das Jahr von Grace Jones und Disco ausgerufen werden oder das von Poly Styrene und Punk? Die Antwort kann nur lauten: sowohl als auch. Ausschließende Geschichtsschreibung ist ignorante Geschichtsschreibung. Adele verkörpert nicht den einzigen signifikanten Frauentypus des Jahres. Lady Gaga konnte ihren Erfolg im Vergleich zum Vorjahr sogar noch steigern. Aber Adele bedient so breitentauglich wie niemand sonst in der Musik einen allgemeinen Trend des Jahrzehnts: Wir machen den Perfektionierungsdrang der Hitech-Zivilisation nicht mehr mit. Stattdessen verlangen wir nach ungespritzten Äpfeln mit Maden, „Brigitte“-Models mit Speckröllchen, dem „Landlust“-Leben mit Dreck unter den Fingernägeln – Bio statt Botox! Den Soundtrack zu diesem Lebensgefühl hätten lange vor Adele schon der Weird Folk und die neue Indie-Frauenriege liefern können. Aber beide sind in ihrer Unperfektheit lange nicht so perfekt wie Adele. Der Weird Folk von Joanna Newsom oder Devendra Banhart wirkt auf die Bionade-Bourgeoisie zu verunsichernd. Ein Herz haben, ja, aber bitte mit beiden Beinen auf dem Boden. Seele muss sich auf Altersvorsorge reimen. Indie-Frauen wie Feist, Au Revoir Simone, Florence & The Machine oder Boy verlieren sich zwar längst nicht so im Märchenwald, verströmen aber einen Studentinnen-Glamour, der einen in den Zumutungen der Hochglanzwelt gefangen hält. Dabei will man denen ja gerade entkommen. Diese Indie-Frauen stehen in der Tradition akademischer Distinktion von Joni Mitchell (oder Carly Simon für die Denkfauleren): sexy Brillenschlangen, die im Bett alle Stellungen aus Doris Lessings „Goldenem Notizbuch“ durchprobieren wollen. Adele ist Aretha Franklin: Mutti im Mainstream. Dass ihr Management weiterhin ihre Pressefotos in Richtung amerikanischer College-Schönheit retuschieren lässt, ist ein Missverständnis. Amy Winehouse, die sich an den gleichen musikalischen Referenzen orientierte, leuchtet im Kontrast Adeles Sonderrolle aus. Winehouse verglühte als undiszipliniertes Genie, das sich den Anforderungen nicht gewachsen zeigte. Adele hingegen lässt zwar ihrer Seele freien Lauf, hat aber ihre Geschäfte fest im Griff und engagiert sich obendrein für notleidende Schäfchen. Eine Seelen-Haushälterin. Als bei ihrem Konzert im Londoner Hammersmith Apollo ein Zuhörer kollabierte, unterbrach sie fürsorglich das Konzert und dirigierte die Erste Hilfe. Depeche Mode hätten in den 80ern ihre Konzerte nur irritiert unterbrochen, wenn die erste Reihe nicht geschlossen in Ohnmacht gefallen wäre. Englands Ex-Premier Gordon Brown schrieb Adele in einem Dankesbrief: „Angesichts der finanziellen Probleme des Landes bist du ein Licht am Ende des Tunnels.“

Es zeigt die psychische Desorientierung einer infantilisierten Gesellschaft, dass eine gerade mal 23-Jährige uns über unsere exiszentiellen Verunsicherungen hinwegtrösten soll. Adele hat jetzt schon mit ihren Chartspositionen die Beatles eingeholt, sie wird sicherlich auch in jüngeren Jahren geadelt werden. Als nächstes Projekt auf dem Weg zur Weltherrschaft der Herzen droht fast unumgänglich: ein Duett.