„The Boys“ auf Amazon Prime: Wer ist jetzt hier der Superheld?
Am 26. Juli ist mit „The Boys“ eine neue Superheldenserie auf Amazon Prime angelaufen. Was wenig inspirierend klingt, entpuppt sich als humorvolle und huldigende Persiflage des Genres, gespickt mit reichlich Systemkritik, Dampfplauderei und Splatter-Elementen. Hier sind fünf Gründe, warum wir also doch noch immer nicht ohne Superhelden auskommen (wofür leider sehr oft das Wort „Superhelden“ verwendet werden muss).
1. Die Relativierung des Superhelden-Status erweckt neue Superkräfte
Nachdem unzählige DC– und Marvel-Comics mit Superhelden den Weg auf die Kinoleinwand und zu den Streamingdiensten gefunden haben und die immergleichen Handlungen irgendwann sehr vorhersehbar werden, kann eine neue Perspektive auf das Heldenthema nicht schaden. Die Serie „Powers“ unternahm bereits 2015 den Versuch, mit der Figur Christian Walker einen Superhelden ohne Superkräfte zu etablieren; „The Tick“ wiederum zog die Superhelden-Nummer 2017 mit einem introvertierten Buchhalter als Sidekick ins Absurde.
Die neue Serie „The Boys“ (basierend auf der Comicvorlage von Garth Ennis und Darick Robertson) geht noch einen Schritt weiter und macht die Superhelden zu Popstars mit mehr Nach- als Vorteilen. In der ersten Liga spielen hier die Mitglieder von „The Seven“: Der egomanische Anführer Homelander (Antony Starr) mit seinem grotesken Stars-and-Stripes-Umhang, seine frustrierte Ex-Partnerin Queen Maeve (Dominique McElligott), der schnellste Mann der Welt A-Train (Jessie T. Usher), der mit einem kleinen Suchtproblem kämpft, der sexuell sehr übergriffige The Deep (Chace Crawford), der stumme Black Noir (Nathan Mitchell), der unsichtbare Translucent (Alex Hassell) und die junge Newcomerin Starlight (Erin Moriarty), die immerhin versucht, ein bisschen Female Empowerment in das Superhelden-Business zu bringen.
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Selbstverständlich haben sie alle eine besondere Fähigkeit, sind aber gleichzeitig dem Popstar-Klischee näher, als es Superhelden je zuvor waren – mit klassischen Charaktereigenschaften wie Narzissmus, Selbstzweifeln, Zukunftsängsten und generellem Realitätsverlust.
Als A-Train die Freundin des jungen Elektronikverkäufers Hughie Campbell (Jack Quaid) namens Robin auf der Straße überrennt und zerfetzt, nimmt die Geschichte ihren Lauf, in dem die Rolle der Superhelden auf verschiedensten Ebenen grundlegend in Frage gestellt wird.
2. Der ewig größte Bösewicht bleibt der Kapitalismus
In „The Boys“ prallen makellose Fantasiewelt und traurige Realität unsanft, aber mit Absicht aufeinander. Das Superhelden-Business wird nämlich minutiös gesteuert, inszeniert und manipuliert, vom höchsten Wolkenkratzer in New York aus, wo der Multimilliarden-Dollar-Konzern Vought Studios das Geschäft übernommen und zu einer turbokapitalistischen Merchandise- und Eventmaschine degradiert hat. Die Superhelden finden sich in Videospielen, in Blockbuster-Filmen, auf Comic-Conventions, in Freizeitparks, bei christlichen und humanitären Wohltätigkeitsveranstaltungen, auf Twitter und Instagram sowie natürlich auf dutzenden von Merchandise-Produkten wieder. Die Rettung der Menschheit spielt dabei eine untergeordnete Rolle, sofern sie nicht der Gewinnmaximierung dient.
3. Die Superhelden sind die anderen aka The Boys
„The Boys“ – deutlicher kann man den Antihelden-Anspruch wohl kaum betiteln. Denn natürlich muss sich diesen unsympathischen Superhelden jemand entgegenstellen. The Boys haben eine gemeinsame Vergangenheit als geheime CIA-Einheit und kommen erst zu Beginn der Serie wieder zusammen. Angeführt werden sie vom knurrigen Billy Butcher (gespielt von Karl Urban), der als Harter-Hund-Charakter für das Gute kämpft und die wahren Absichten und vertuschten Intrigen der Vought Studios ans Licht bringen möchte. Weiterhin gibt es den charismatischen, freiberuflichen Waffenhändler und Franzosen Frenchie (Tomer Kapon) und den warmherzigen Hünen Mother’s Milk (Laz Alonso), der vor der Wiederbelebung der Einheit als Betreuer von straffälligen Jugendlichen tätig ist. Der volle Sympathiebonus muss aber wohl an den unfreiwilligen Neuzugang Hughie gehen, der mit seiner jugendlichen Naivität, seiner Wut über die Tötung seiner Freundin durch einen „Supe“ (so werden die Superhelden hier umgangssprachlich genannt) und mit unerwartet hilfreichen Elektrotechnik-Kenntnissen das Team bereichert. Natürlich ist er auch derjenige, der die jugendliche Superheldenverehrung verkörpert, die Coming-Of-Age-Komponente, die sich auf einmal mit einer doppelmoralischen Realität konfrontiert sieht.
4. Wo kommt denn plötzlich der ganze Dreck her?
Nicht nur das ein oder andere Blutbad in schmuddeligen, leerstehenden Taco-Restaurantküchen hinterlässt seine Spuren – das Paralleluniversum dieser Serie ist grundsätzlich sehr schmutzig, auch ganz ohne Metaphern. Die Straßen von New York sind hier durchzogen von Müll und umherfliegenden Fastfood-Verpackungen, wenn Hughie Campbell kurz seinen Vater besucht, stechen einem die vergilbt-krustigen, ehemals weißen Türrahmen beinahe ins Auge. Ist die Hollywood-Welt sonst tatsächlich immer so besenrein und sauber, dass einem solche Details hier sofort auffallen?
Wen ein solcher Serien-Look kalt lässt, der wird sicher auch über einige detaillierte Splatter-Szenen hinwegsehen, die im Superhelden-Kosmos in dieser Deutlichkeit bisher keinen Platz fanden. Gedärme, Blut und abgetrennte Körperteile gehören in „The Boys“ öfter mal zur Grundausstattung des Set-Dekors. Das mögen einige Zuschauer als überflüssig oder provokant empfinden, aber eigentlich gehört diese Bildgewalt längst zum filmischen Alltag. Sie unterstreicht zudem einmal mehr, dass die Superheldenromantik von „Superman“ oder den „Avengers“ eine modernere, schonungslosere und oftmals auch realistischere Gegenseite braucht.
5. Popkultur, Musik und Eric Kripke
Den Autoren Evan Goldberg, Seth Rogen und Eric Kripke sowie einem wechselnden Team von weiblichen und männlichen Regisseuren und Drehbuchautoren ist es zu verdanken, dass hier eine spannende, manchmal blutrünstige, aber immer sehr humorvolle Serie entstanden ist, die voller liebevoller Popkultur-Querverweise steckt. Während Goldberg und Rogen als Drehbuchautoren für „The Green Hornet“ bereits Superhelden-Erfahrung sammeln durften und mit „Preacher“ bereits einen Comic von Garth Ennis als Serie aufbereitet haben, ist es wohl vor allem die klamaukige und zugleich ehrerbietende Handschrift von Eric Kripke, die man in zahlreichen Momenten wiederzuerkennen glaubt.
Auf ähnliche Art wie in der Geisterjäger-Serie „Supernatural“ (für die er seit 2005 als Autor, Produzent und Regisseur tätig ist) mischt er Fankult mit Fachwissen, was nicht nur „Downton Abbey“ und den Spice Girls eine kurze Abhandlung innerhalb der Serie beschert. Natürlich ist Antiheld Hughie großer Fan von Schmusesänger Billy Joel, hat aber auch ein Poster der Ramones und des CBGB im ehemaligen Kinderzimmer hängen. Einen albernen Lacher ist auch der Rick-Astley-Klingelton von Mother’s Milk wert. Und statt der Hairmetal-Huldigungen von „Supernatural“ dürfen diesmal räudige Punkgitarren den Soundtrack aufmischen, The Damned, The Clash, Iggy Pop und Jane’s Addiction untermalen hier die Tatsache, dass nicht immer diejenigen die Superhelden sind, die sich freigiebig als solche ins Rampenlicht drängeln.
„The Boys“, Staffel 1, acht Folgen, seit 26. Juli 2019 auf Amazon Prime im Stream verfügbar