Angel Olsen
All Mirrors
Jagjaguwar/Cargo (VÖ: 4.10.)
Entdecken wir die Kraft der Musik in diesem Orchesterwerk einer fragenden Sängerin und Songwriterin! Ein Königinnenreich der Introspektion, ein Werk der Liebe.
Mitte 2018 konnte man auf YouTube einen neuen Angel-Olsen-Song hören, er trug den Titel, den nun ihr neues Album erhalten hat, ALL MIRRORS. Es handelte sich um einen Live-Mitschnitt aus der Union Chapel in Islington, London. In den etwas mehr als drei Minuten beschreibt Olsen mehr diesen Raum, als dass sie ein Lied mit Strophe und Refrain anklingen lässt. Ihr Gesang wird in der Hallsphäre der Kirche zu einem gespenstischen Instrument (von Neil Young existiert eine Version des Songs „Soldier“ auf JOURNEY THROUGH THE PAST, die etwas ganz Ähnliches schafft). Man mag nicht entscheiden, ob da ein Piano oder eine Gitarre zum Einsatz kommt, alles ist weit weg, wird hier etwa die Idee des Drone neu buchstabiert? Olsen unternimmt in „All Mirrors“ eine Reise in die Vergangenheit, die sie so sehr zu verfolgen scheint, dass sie sich in einem Spiegelkabinett wähnt: „I’ve been watching all of my past repeating / there’s no ending / and when I stop pretending / I see you standing“.
AmazonZwischen der frühen Aufnahme und dem Song „All Mirrors“ auf dem Album liegt eine beispiellose Entwicklung. Die Sängerin und Songwriterin lässt ihre Worte jetzt in einen sehr gut konturierten Wall of Sound fallen, der aus Synthesizern, Violinen, Celli, Synth-Bass, E-Gitarre und Drums gebaut ist und von Jherek Bischoff arrangiert wurde. In diesem Ambiente beginnt die troubled story sich in etwas Kraftvolles und Positives zu verwandeln. Eines Tages wird sie die Spiegel in Augenschein nehmen und die Klauen der Vergangenheit werden keinen Zugriff mehr haben. Der power of music sei Dank.
Ursprünglich sollte das Album in zwei Ausgaben erscheinen, einer ähnlich der hier vorliegenden Version und einer zweiten, minimal gehaltenen Fassung mit nahezu unbearbeiteten Songs. Letztere nahm Olsen mit Produzent Michael Harris in Anacortes, Washington auf. Während der späteren Arbeit an den orchestralen Ausgaben mit Bischoff und Produzent John Congleton stellte sie fest, dass die kraftvollen neuen Stücke nur deshalb entstehen konnten, weil sie die Songs schon einmal in ihrer puren Form eingespielt hatte. In diesen letztendlichen Versionen legt sie einen dialektischen Dreisprung hin, der viel von der offenen Herangehensweise der Künstlerin verrät und einen Fingerzeig gibt, wie sie sich der Dynamik ihrer Kompositionen hingibt.
Während des Arbeitsprozesses hat Olsen auch ihre „neue Stimme“ gefunden, gab sie bekannt. Und, oh ja, es hat hier ein seltsames Klirren im reichlich pathetischen, irgendwie apokalyptischen Eröffnungstrack „Lark“. Und es ist, keine Frage, die Stimme der Sängerin, die wir für ihre glamouröse wie stimmungsvolle und auch vielschichtige Songsammlung MY WOMAN geliebt haben. Stimm- und Soundbruch also. Man muss sich erst durch den Wust an Klangschichten und neuen Ausdrucksweisen kämpfen, um zu Angel Olsen zu kommen. Aber die Mühe lohnt.
Der orchestrale Klangraum erinnert an ein europäisches Konservatorium, dennoch ist ALL MIRRORS eine sehr amerikanische Platte geworden. In ihren frühen Folkrock-Songs hörten wir eine wütende, aufbegehrende Sängerin, ihre Geschichten handelten von den Einsamen und Zurückgelassenen, die Amerika auf die Straße spuckt. An ihre Stelle sind heute introspektive Lieder getreten, die das evergreene Thema Liebe erkunden. Es geht um die Unfähigkeit zu lieben, um Selbstfindung, Würde, Befreiung und Projektion. Spiegeln wir uns nicht immerzu nur in den Beziehungen zu den anderen?
Olsen schwebt manchmal in den Streicherauftrieben, einmal stürzen die Streicher auch krachend über ihr ein, aus ihrem Kopf kommt sie scheinbar nicht raus („Impasse“). In „Tonight“ vernehmen wir die Flüsterstimme der Angel Olsen, so nah und doch fern dieser Welt, Violinen und Celli ziehen eine kräftig gefärbte Leinwand hinter ihr auf. Ist der Identitätsgewinn hier vielleicht nur ein Tagtraum? ALL MIRRORS zählt mit seinem orchestralen Aufwand bestimmt nicht zu den klimafreundlichen Produktionen, dafür aber sind die Betrachtungen im neuen Klangkostüm der Musikerin reichlich nachhaltig ausgefallen.