STUMMER SCHREI
Das erste Album von The Knife ist nicht unbedingt schlecht. Sonderlich aufregend ist es allerdings auch nicht. 2001 bringen die schwedischen Geschwister Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer ihr selbstbetiteltes Debüt auf den Markt. 14 Songs, die irgendwie unentschlossen im Fahrwasser der damals aufk eimenden Elektroclash-und Indietronica-Bewegung dümpeln. Aus Olofs Feder stammen die unaufdringlichen, freundlichen Beats mit ein bisschen Saxofon hier, etwas Akkordeon da und ein paar Steeldrums anderswo, seine Schwester Karin singt mit quiekender Stimme und reizend schwedischen Akzent Texte, die zwar auch mal von Pädophilie und Sexismus handeln, meist aber von Rentieren, Lasagne und dem Zauber des Neonlichts. Ein echter Hit fehlt, die Platte verkauft sich so um die tausend Mal -und das war damals ja noch wirklich wenig. Die Anfänge von The Knife sind ohne Frage reichlich unspektakulär.
Wenige später aber beginnt die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Duos, ihre bald drei Alben andauernde, fortwährende Verwandlung auf immer höherem Niveau und in immer unzugänglicheren Gefilden. Sie beginnt mit einer Trotzreaktion auf das schwache Abschneiden des Debüts, einer offensiven Auseinandersetzung mit dem musikalischen und popkulturellen Erbe. „Wir wurden in ein Indie-Genre gesteckt. Die Leute sagten: ‚Oh, das ist niedlich, aber richtige Musik ist das nicht.‘ Ich glaube, das hat uns wütend gemacht, also haben wir uns beim nächsten Album gesagt, dass wir richtige Popmusik machen wollen. Wir wollten einfach mehr Menschen erreichen“, erklärt Karin Dreijer Andersson.
Die Besetzung, in der The Knife zusammen musizieren, ist eine Erfindung der Achtziger. Ende der Siebziger macht die technologische Entwicklung den Synthesizer interessanter und erschwinglicher. Das Instrument verwandelt sich vom unbezahlbaren Space-Gimmick für größenwahnsinnige Prog-Rock-Bands in den heiligen Gral einer jungen, Kraftwerkbegeisterten Avantgarde in den tristen Industriestädten Englands – und landet dort mitten im Pop. In Kombination mit dem Sequencer erschüttert der Synthie das Prinzip Band in seinen Grundfesten. Wofür bis dahin eine Gruppe halbwegs befähigter Musiker benötigt worden war, genügten plötzlich zwei gesunde Finger und ein paar Maschinen, technische Begeisterung und Lust am Tüfteln.
Schlagartig erkannten Duos wie Soft Cell und Yazoo die Vorzüge des Synthie-Pop und lieferten Anfang der Achtziger die Blaupause des neuartigen Bandmodells: Ein(e) Sänger(in), bevorzugt weiblich, schwul oder irgendwas dazwischen, und der männliche Geek als Orchestrator an den Keyboards. Der Clou dabei: Auf das kühle, kristalline Soundbett setzte sich ein hochemotionaler Soulgesang. Nicht zufällig coverten Soft Cell „Tainted Love“ als Klassiker des Northern Soul. Synthie-Pop-Pioniere wie Gary Numan oder Human League hatten noch eine diffuse Atmosphäre der Entfremdung erzeugt, indem sie die menschlichen Stimmen im eisigen Klanggerüst verloren gehen oder gleich wie singende Roboter klingen ließen. In den Duos regierte ein intuitiv verständlicher Dualismus, der so gut funktionierte, dass er innerhalb kürzester Zeit zum allgegenwärtigen Klischee wurde: Feuer und Eis. Organisch und synthetisch. Große Gefühle in einer technoiden Welt, ein warm schlagendes Herz im kalten Takt der Maschinen. Genialer Kitsch. Pop.
Das Prinzip zieht sich durch die gesamten Achtziger, findet sich in einer ausgelasseneren, hedonistischeren Färbung wieder im Eurodance der Neunziger, angereichert mit ein paar albernen Tänzern und grottenschlechten Rappern, und noch heute werden die David Guettas der Vergnügungsindustrie damit reich.
Als sich The Knife irgendwann zwischen 2001 und 2003 entschließen, jetzt popmäßig in die Vollen zu gehen, beginnen sie hemmungslos in dieser Traditionslinie zu wildern und sich so den eigenen pophistorischen Kontext zu erschließen. Das 2003 erscheinende Album DEEP CUTS markiert den Durchbruch des Duos. Das hat zweierlei Gründe: Erstens sind Karin und Olof zu diesem Zeitpunkt nicht die einzigen Mitt- und Endzwanziger, die gerade die eigene Kindheit und Pubertät im Zeichen des Rubikwürfels aufarbeiten. Die beginnenden Nullerjahre läuten eine geradezu obsessive Beschäftigung mit dem popkulturellen Erbe der Achtziger ein, die bis heute anhält. Musikalisch treten Acts wie Daft Punk, Fischerspooner, Adult oder Ladytron mit einer aktualisierten Version des klassischen Synthie-Pop auf den Plan, und The Knife liegen gut im Trend. Zweitens handelt es sich bei DEEP CUTS – im Vergleich zum Debüt – auch um das schönere und bessere Album.
Mit trotziger Lust wird einem hier alles um die Ohren gehauen, was die billigsten Midi-Datenbanken hergeben: Roland-808-Trommelwirbel, glatte 303er-Bässe, unecht und dünn scheppernde Becken, penetrante Steeldrums und Marimbas, Plastik-Rockgitarren, Honkytonk-Pianos und handelsübliche Synthie-Pop-Riffs aller Art. Strahlend, sägend, seufzend. Dass das alles nicht zu einer albernen Nostalgieveranstaltung mit ironischem Augenzwinkern verkommt, dafür sorgen das ausgereifte, abwechslungsreiche Songwriting und Karin Dreijer Andersson. Die ist zwar nicht wirklich im Besitz einer Soulstimme, aber mit aller ehrlichen, emotionalen Inbrunst, die ihrem charmant schrillen Organ zu eigen ist, singt sie von großen Sehnsüchten und kleinen One-Night-Stands, von Einsamkeit und Trost, von Mondlicht und magischen Nächten. In den besten Momenten beschwört DEEP CUTS die reinste und naivste Dancefloor-Glückseligkeit. Allen voran im Opener „Heartbeats“, als Hitsingle das herausragende Stück der Platte, ein Fire-&-Ice-Schmachtfetzen par excellence: „Sharing different heartbeats in one night.“
Dann gibt es da aber auch noch diese irritierenden Brüche. Das kurze, martialische „The Cop“, in dem sich die kieksige Schwedin plötzlich anhört wie Black Sabbaths „Iron Man“ und erklärt: „I am a cop, shut up /I piss in your mouth / ( ) / I shoot you in your face, you motherfucker!“ In „She’s Having A Baby“ wird ihre Stimme zu einem befremdlichen Männerbariton heruntergepitcht, der sich zum Glockenspiel darüber beschwert, dass man ihm nichts von der Schwangerschaft erzählt habe. Die Stimmung kippt hier plötzlich ins Sinistre. Dunkle Vorzeichen dessen, was da noch kommen sollte. Auch sonst lässt das Duo klar durchblicken, dass die Hinwendung zu den Mechanismen des Poppigen nichts mit einer Kapitulation zu tun hat. 2003 sollen The Knife den schwedischen Musikpreis Grammis als beste Popgruppe erhalten, boykottieren aber die Veranstaltung und schicken stattdessen zwei Freunde in Gorillakostümen zur Verleihung, um gegen die patriarchalisch geprägten Strukturen der Musikindustrie zu protestieren. Als sie im Zuge ihrer wachsenden Popularität auf der Straße erkannt werden, beginnen sie sich für öffentliche Auftritte und Fotos zu maskieren – nicht unbedingt die neueste und subversivste Idee (siehe auch: Daft Punk), aber eine, die sie in den nächsten Jahren konsequent und fantasievoll weiterentwickeln. Interviews geben sie immer spärlicher und widerwilliger, Konzerte gleich gar nicht. Der Verwendung ihres Hits „Heartbeats“ für eine Sony-Werbekampagne in der Coverversion von José Gonzales stimmen sie allerdings schweren Herzens zu. Schmutziges Geld, wie sie sagen, welches sie aber dringend für die Fertigstellung ihres dritten Albums brauchen. Das erscheint schließlich 2006 und degradiert den starken Vorgänger zur reinen Notwendigkeit, zum Vorspiel um Kapital und Status für die völlige künstlerische Freiheit. SILENT SHOUT ist nicht weniger als ein Meisterwerk.
Stellt schon der Zweitling eine beachtliche Steigerung zum Debüt dar, so markiert SILENT SHOUT jenen kaum nachvollziehbaren Sprung eines Acts in dessen eigene Welt, in der sich alle Referenzen zu etwas gänzlich Neuem zusammenfügen, das gleichermaßen in die Vergangenheit wie in die Zukunft verweist. Oder, weniger pathetisch ausgedrückt: The Knife spielen jetzt nach ihren eigenen Regeln. Dass Olof Dreijer inzwischen in die Minimal-Techno-Hochburg Berlin gezogen ist, macht sich deutlich bemerkbar. Von der scheppernden, chaotischen Aufdringlichkeit des Vorgängers ist nichts geblieben. Die Drums und Bässe pumpen weich und mittenlastig, dazu gibt es bisweilen leises, hochfrequent knackendes Plicker-Plocker. Hypnotisch treibend fließen die Tracks dahin, klassische Songstrukturen sind seltener geworden. Die penetranten Riffs weichen atmosphärischen Padsounds, nur manchmal hört man schwache Eurodance-Reminiszenzen heraus (zum Beispiel im sacht stampfenden „Neverland“), auch die Marimbas kehren geisterhaft wieder („From Off To On“). Immer noch vorhanden sind die kindlich-naiven Melodien des Synthie-Pop, allerdings sanft hingetupft wie Aquarellfarben. Heraus kommt ein Soundbild, das gleichermaßen glatt und kalt wie weich und diffus ist. Pulverschnee, der im Polarlicht schimmert.
Und wie sich Karin Dreijer Anderssons Stimme da hineinlegt, ist sensationell. Alles Emotionale und Organische ist restlos verschwunden. Auf SILENT SHOUT gibt es kaum einen Track, auf dem Dreijer Anderssons Gesang nicht mit diversen digitalen Effekten stark verfremdet wurde. Mal klingt er nach einer seltsam kehligen Männerstimme, mal nach einem überschnappenden Zirpen, dann wieder wie ein unmenschlich tiefes Hauchen. Meist sind mehrere dieser Stimmen übereinander gelegt, sodass künstliche Chöre und Duette entstehen, die entrückt und bedrohlich durch die eisigen Soundlandschaften des Albums irrlichtern.
Das greift auf die Musik der frühen Synthie-Pop-Avantgarde zurück, auf deren Ice-&-Ice-Ästhetik, in der sich ein Gefühl technologischindustrieller Entfremdung und ein fragwürdiger Futurismus ausdrückten. Die Intention ist hier aber eine andere. Technologie und Zukunft sind bezeichnenderweise in den Texten des Albums nie ein Thema, The Knife zielen eher auf den psychologischen Effekt. Karin Dreijer Andersson pitcht und filtert sich rückwärts ins sagenhafte „Tal des Unheimlichen“ hinein. Einen Topos, der vom japanischen Robotiker Masahiro Mori geprägt wurde und den messbaren Bereich beschreibt, in dem uns ein anthropomorpher Roboter plötzlich unheimlich ist, weil er uns zu ähnlich wird. Von dort singt sie dann als oszillierendes Mischwesen aus Mann, Frau und Dämon von Alpträumen, Kriegsheimkehrern, sexueller Gewalt, Mutterliebe, Fernsehberühmtheiten, Wäldern und Krankheit. Das Ergebnis ist so verstörend wie faszinierend.
Mit ihrem Album SILENT SHOUT setzen The Knife aus den Stilmitteln und Spielarten des Synthie-Pop ihre eigene, geisterhafte Musikmatrix zusammen, die bis heute nachwirkt. Man findet ihren Einfluss zum Beispiel in Genres wie Witch und Haunted House, bei Purity Ring oder Chvrches. Mit kongenialen, lynchesken Videoclips und den tatsächlich ersten Konzerten (pardon: audio-visuellen Bühnenperformances) seit Bandgründung gestalten sie ihren Kosmos weiter aus. 2009 folgt Karin Dreijer Anderssons ebenfalls grandioses Solo-Album unter dem Künstlernamen Fever Ray, auf dem sie noch tiefer ins unheimliche Tal hinabsteigt. Dann ist erst mal Schluss. Obwohl: Eine Evolutions-Oper inszenieren The Knife noch über Charles Darwins „Über die Entstehung der Arten“, aber für die kann sich kaum einer so richtig erwärmen, vor vier Jahren.
Und jetzt also SHAKING THE HABITUAL – benannt nach einem Begriff des Poststrukturalisten Michel Foucault. Wenn ein Act wie The Knife das Durchrütteln des Gewohnheitsmäßigen explizit zum Programm erhebt, darf man sich auf einiges gefasst machen. „Full Of Fire“, die erste Single-Auskopplung, ist ein adrenalingetriebener, dissonanter Industrial-Stampfer ohne erkennbare Struktur aber mit allerhand Störgeräuschen, mehr als zehn Minuten lang. Karin Dreijer Anderssons Stimme switcht unaufhörlich durch eine ganze Batterie neuer Effekte, manche davon hören sich an, als surre ein wütender Schwarm digitaler Wespen aus den Boxen. Das dazugehörige Video ist, gelinde gesagt, verwirrend. Es entbehrt jeglicher Fantastik, an die man sich so schön gewöhnt hatte. Stattdessen zeigt es Bondage und Genderbending als alltäglichen Alptraum.
Doch es kommt noch dicker: Im Vorfeld lässt das Duo verlauten, man habe sich bei den Aufnahmen zum neuen Album von allen Regeln frei machen wollen, habe den Prozess über das Ergebnis gestellt – der Weg als Ziel sozusagen. „Wir wollten einen Raum schaffen, in dem keinerlei Hierarchien herrschen. In dem keine Klänge oder Strukturen irgendwie über-oder untergeordnet sind. Unser Ziel war es, politische Ideen nicht nur textlich zu formulieren, sondern musikalisch zu verwirklichen“, erläutert Karin Dreijer Andersson. Totale künstlerische Zügellosigkeit, der Aufnahmeprozess als Performance Art – für jeden Freund musikalischer Form und Ordnung eine Zumutung. Tatsächlich: SHAKING THE HABITUAL ist als Doppelalbum mit fast 100 Minuten Laufzeit eine völlig ausufernde Platte geworden, und der Großteil dieser 100 Minuten besteht aus offenen Soundexperimenten. Kratzen, Fiepen, Sirren, unerträglich schiefe Flötenensembles – ein Fest für Klangfetischisten mit Hang zum Masochismus. Herzstück der Platte ist das über 19 Minuten lange „Old Dreams Waiting To Be Realized“, das nur aus mysteriösen Feedbacks besteht. Wie ein Film von Kubrick ohne Bilder.
Albumkritik S. 87