Im richtigen Moment am Auslöser
Kurt Vile
Das Songschreiben passiert bei ihm wie von selbst, sagt Kurt Vile. Die Herausforderung besteht für ihn darin, seine Lieder so aufzunehmen, dass ganz viel Leben mit festgehalten wird.
Sein Name erinnert unweigerlich an einen der größten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der war nach der Flucht vor den Nazis schließlich auch ein Amerikaner: Kurt Weill. Doch über die relative Namensgleichheit und vielleicht noch das besondere Interesse an dem Musikformat Song hinaus gibt es keine Gemeinsamkeiten. Vile wurde in Philadelphia geboren, spielte Gitarre bei der gefeierten Indierock-Band The War On Drugs und veröffentlicht seit 2008 Soloplatten, als wäre nichts leichter als das. Jedes dieser Alben beschreibt eine kleine, absonderliche Welt, der man weder einen konkreten Ort noch eine genaue Zeit zuordnen kann. Sie offenbaren sich, als wären sie schon immer da gewesen. Das trifft auch insbesondere auf Viles neues Album WALKING ON A PRETTY DAZE zu. „Ich mache seit ewigen Zeiten Musik“, murmelt der 32-Jährige unter seiner Hippie-Wolle hervor. „Für mich ist nichts normaler, als mich mit meinen Songs in meiner eigenen Zone zu bewegen. Wahrscheinlich hätte auch niemand außer mir diese Platte machen können.“ Kaum hat er das gesagt, hellt sein Gesicht sich auf, die Erkenntnis sucht ihn heim, es platzt aus ihm heraus: „Nein, es hätte definitiv niemand außer mir diese Platte machen können!“
Vile spricht von einer fortwährenden Evolution seiner Songideen, über die er allerdings nicht groß nachdenke. Seine Alben porträtierten ihn wie Schnappschüsse in den unterschiedlichen Phasen seines Lebens: „Du kannst einen Song noch so genau im Kopf entwerfen, der Aufnahmeknopf hält letztlich wie der Auslöser einer Kamera fest, was im Augenblick geschieht. Die Songs selbst kommen ja ganz schnell. Bei dieser Platte habe ich nur ein bisschen länger gebraucht, um ihnen einen möglichst psychedelischen Sound zu verpassen. Wir waren zunächst eine Woche im Studio, um die Grundideen aufzunehmen, dann gingen wir ausgiebig auf Tour und kehrten ins Studio zurück, um die Songs zu komplettieren. Und dann wurde ich auch noch Vater einer Tochter. Aus all diesen Gründen ist einfach so viel echtes Leben auf der Platte festgehalten. Und genau so will ich es auch haben.“
Ein originärer Song entstehe, so beschreibt es Vile, wenn eine verinnerlichte Inspiration auf den persönlichen Stil reagiert. Genau dieses Mischungsverhältnis lässt seine Lieder zugleich auf Anhieb so vertraut und doch so neu und visionär erscheinen. Die psychedelischen Wurzeln im Country-Folk der frühen 70er-Jahre liegen auf WALKING ON A PRETTY DAZE ebenso offen auf der Hand wie Viles Affinität zum College-Rock um 1990. Viel überraschender ist hingegen ein anderer Einfluss. „Als ich während der Tour ganz allein in einem Club in Amsterdam auf den Soundcheck wartete, lief dort plötzlich Gary Numans ‚Are Friends Electric?‘. Dieses wundervolle hypnotische Stück von 1979 war wie eine Offenbarung. Wir sind zwar eine Gitarrenband, aber genau dieses Feeling wollte ich in unseren Sound übersetzen.“
Kurt Vile hört ununterbrochen Musik. Das stimuliere ihn und löse Transformationen aus, die er weder benennen wolle noch könne. Er ist, auch wenn seine Musik noch so gelöst klingt, ein Besessener, der jetzt schon wieder am Sammeln ist, während wir noch darüber reden. Und dann darüber schreiben. Und in diesem Augenblick, in dem jemand diesen Text über ihn liest – ist Kurt Vile schon wieder ganz woanders.
Album-Kritik S. 94