TAGEBUCH EINES REISENDEN


Auf seinem neuen Album fusioniert der musikalische Nomade John-Lennon-Psychedelia mit Cumbia-Rhythmen. Selbst Friedhöfe als Inspiration erschrecken ihn nicht.

„Und hier sind meine Nachbarn zu Hause. Die haben sich noch nie über meine laute Musik beschwert.“ Matias Aguayo zeigt aus dem Fenster seines Studios in Berlin-Schöneberg auf eine parkähnliche Grünfläche. „Dort drüben wohnt Rio Reiser. Und da hinten die Gebrüder Grimm.“ Richtig: Von seinem Arbeitsplatz blickt man auf einen Friedhof.

Aguayo – dessen Eltern 1975 vor dem Regime Pinochets aus Chile fliehen mussten und mit ihm nach Köln übersiedelten – mag die Ironie, das Spielerische. Das schließt einen entspannten Umgang mit Themen wie dem Tod mit ein, was Aguayo auch mit dem Stück „By The Graveyard“ auf seinem neuen Album, THE VISITOR, beweist. Dort schlüpft er zu dreckigen Synthies in die Rolle eines Geisterbeschwörers mit grausam osteuropäischem Akzent.

So einfach lässt sich der Ort der Inspiration für ein Stück selten bestimmen. Aguayo nahm die Tracks seines neuen Albums an so verschiedenen Orten wie Buenos Aires, Paris, Mexico City oder in der Uckermark auf. Die Frage nach autobiografischen Bezügen im Titel liegt nahe: „Natürlich hat THE VISITOR viel mit dem Zustand der Durchreise zu tun, der sich kontinuierlich durch mein Leben zieht. Gleichzeitig ist der Titel aber auch die Grundthema des Albums, das in den Tracks auf unterschiedliche Weise widergespiegelt wird“, sagt Aguayo.

Ein Besucher ist immer auch ein Beobachter. Und so wirkt THE VISITOR, als habe Aguayo während seines Nomadenlebens zwischen den Kontinenten Klänge, Rhythmen und musikalische Traditionen aufs Genaueste verfolgt, in ihre Bauteile zerlegt und wieder zu etwas Eigenem zusammengesetzt. Da treffen handgemachte Percussions auf kühle Elektronika, Ahnungen von House und Techno auf Cumbia-und Salsa-Rhythmen, John-Lennon-Psychedelia auf schamanischen Trommelschlag oder New-Age-Sounds auf einen Dracula-Akzent.

Schon als Kind sei er stets mit dem Aufnahmegerät durch die Gegend gelaufen, um alles Mögliche an Klängen einzufangen -und auch, um mit seiner Stimme zu experimentieren, die nicht nur auf THE VISITOR eine große Rolle spielt: Ob mit dem Projekt „Closer Musik“, zu Beginn der Nullerjahre, als das Kölner Kompakt-Label noch ganz am Anfang stand, auf seinen ersten beiden Studioalben für Kompakt, oder live hinter den Plattentellern -stets gab Aguayo das auf Englisch oder Spanisch singende Stimm-Chamäleon. Sein Album AY AY AY von 2009 spielte er nahezu ausschließlich mit seiner Stimme ein.

THE VISITOR erschien nun bei dem Label Cómeme, das 2006 als Spaßprojekt von Aguayo und einem Kollektiv befreundeter Künstler, DJs und Musiker in den Straßen von Buenos Aires begann, wo man mit ein paar Ghettoblastern unangemeldete Guerilla-Partys für jedermann veranstaltete. Heute ist Aguayo der Chef dieser Plattenfirma, und so verwundert es auch nicht, dass sich auf THE VISITOR eine Riesenschar an Gastmusikern aus diesem Umfeld findet, die dem verspielten Groove dieses Albums eine zusätzliche organische Note verpasst. „Das Schaffen elektronischer Musik hat oft etwas Autorenhaft-Abgekapseltes. Auf THE VISITOR verstehe ich mich jedoch eher als Regisseur eines kollektiven Schaffensprozesses“, erklärt Aguayo. Elektronische Musik also, die vor allem im Dialog entstanden ist. Zwischen Menschen. Zwischen Welten. Schön.

Albumkritik ME 7/13