DAS GEWESE DER GROSS-WESIRE


Wie ist denn die neue Jay-Z? Nun, der Mann hat unbegrenzten Zugang zu den teuersten Beats des Universums, einen verlässlichen Geschmack und die recht seltene Eigenschaft, der beste Rapper der Welt zu sein. Genau so ist die neue Jay-Z. Aber das ist ohnehin nicht die Frage, zumindest nicht die, die alle interessiert. Bei Sean Corey Carters zwölftem Solo-Album MAGNA CARTA HOLY GRAIL geht es nicht darum, wie es ist, sondern darum, wie es rausgekommen ist. Und es geht darum, was das bedeutet für ein Genre, in dem die Kampagne und der Kommerz immer schon zur Kunst gehörten, und umgekehrt.

Der Deal ist simpel: Eine Million Exemplare des in nur etwas mehr als zwei Wochen fertiggestellten Albums wurde vorab an Samsung verkauft und deren Kunden mittels einer eigens gestalteten App für Smartphones der Linie Galaxy schon drei Tage vor der offiziellen Veröffentlichung zugänglich gemacht. Zudem erwarb der koreanische Elektronikmulti das Recht, eine Website zur Platte zu gestalten und einen dreiminütigen Trailer über seinen YouTube-Kanal zu vertreiben. Allein dafür soll Samsung laut „Wall Street Journal“ fünf Millionen US-Dollar überwiesen haben; der gesamte Deal brachte Jay-Z nach Angaben der New York Post sogar über 20 Millionen ein. Trotz des stattlichen Mengenrabatts kein billiger Spaß für Samsung.

Als das Album in der Nacht zum 4. Juli – Amerikas Nationalfeiertag, darunter macht es der selbsterklärte Staatsmann des HipHop nicht mehr – um null Uhr endlich freigeschaltet wurde, rauschte die App ab. Wie das nun mal passiert bei Android. Jay Hova ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Entwickler persönlich zu rügen („disheartening“). Auch die teuer erkaufte Exklusivität, der heilige Gral des Content-Marketing, war schon bald futsch: Bereits um zwei Uhr morgens war das komplette Album auf den üblichen Filesharing-Plattformen für jedermann zugänglich. Dennoch war die Aktion für alle Beteiligten ein voller Erfolg. Jay-Z bekam fünf Mille auf die Hand und einen Haufen Gratispromo, dank derer er alleine in der ersten Verkaufswoche weitere 527 000 reguläre Einheiten des Albums absetzen konnte. Samsung bekam ein Stück iPhone-Glanz, weltweite Berichterstattung weit über die Wirtschafts-und Technologiespalten hinaus, und außerdem kostbare Daten von einer Million Galaxy-Nutzern. Die wiederum bekamen ein ziemlich gutes Album umsonst. Eine klassische Win-Win-Win-Situation also?

Der renommierte HipHop-Journalist und Blogger Andrew „Noz“ Nosnitsky ist sich da nicht so sicher. Ihm missfällt, wie ein global operierender Mischkonzern den Massengeschmack gleichsam steuern zu können scheint. „Mich stört, wie diese sogenannten ‚Event-Alben‘ alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und allen anderen Künstlern die Luft zum Atmen abschneiden“, erklärt er seinen Groll. „Diese Alben zielen schamlos auf das Verlangen der Menschen ab, Teil von etwas zu sein, vermutlich Teil einer Konversation. Aber mehr noch als zu einer Konversation führt dieses Phänomen zu einer ungekannten Gleichförmigkeit. Es ist mehr großartige Musik verfügbar als jemals zuvor in der Geschichte der Popmusik. Und dennoch scheinen sich alle aus einem immer kleiner werdenden Pool zu bedienen.“

Tatsächlich übernahm Jay-Z die Aufmerksamkeitshegemonie direkt von seinem Kumpel Kanye West. Kaum war die Aufregung über dessen radikalminimalistische Agitplatte YEEZUS abgeklungen, ging es nur noch um MAGNA CARTA. Jeder hatte eine Meinung. Ein weiterer revolutionärer Geniestreich, der die Art und Weise, wie Musik gemacht, vertrieben, rezipiert und monetisiert wird, nachhaltig verändern wird, sagten die einen. Schlimmer als Prism, Murdoch und Nestlé zusammen, sagten die anderen. Auch an der Musik schieden sich die Geister. Der renommierte Rapkritiker Kris Ex etwa beschrieb sie in seiner Kritik für NPR als „schlaue Unterwanderung des kapitalistischen Systems durch den Hyperkapitalismus der Straße“. Sein Kollege Tom Lea dagegen lästerte im „FACT Magazine“:“MAGNA CHARTA ist ein fürchterliches Durcheinander, und noch nicht mal ein unterhaltsames.“

Die Wahrheit liegt vermutlich nicht dazwischen, sondern in der Perspektive. Jay-Z hat nie den Anspruch erhoben, große, zeitlose Epen zu erschaffen. Viele seiner besten Alben waren Schnappschüsse seines gegenwärtigen Geisteszustands, und seine derzeitige Rolle als Ghetto-sozialisierter Großmagnat steht ihm nicht schlechter als die des reflektierten Kleinkriminellen auf REASONABLE DOUBT oder die des elegant-unterkühlten Überrappers auf BLUEPRINT. An seinen technischen Fertigkeiten und dem seismografischen Gespür für die Trends der Saison hat sich ohnehin nichts geändert.

Auch seine aggressiven Vermarktungsstrategien haben, bei genauerer Betrachtung, überschaubaren Neuigkeitswert. Schon sehr früh in seiner Karriere suchte der ehemalige Drogendealer aus den Marcy Projects in Brooklyn nach alternativen Einnahmequellen und pflegte seine Marke gemeinsam mit der Film-, Textil- und Spirituosenindustrie. Ein Meister der Inszenierung ist er ebenfalls nicht erst seit gestern. Unvergessen, als er 2001 beim Hot 97 Summer Jam, dem wichtigsten Konzert der Branche, erst kompromittierende Fotos seines Konkurrenten, des Mobb-Deep Rappers Prodigy, im Ballettkostümchen auf die Leinwand projizierte – und dann Michael Jackson als Überraschungsgast zu sich auf die Bühne holte. Das war wenige Tage vor 9/11, dem Tag, an dem auch sein bis heute populärstes Album THE BLUEPRINT erschien. Diese Koinzidenz ist ein trauriger Zufall; das würden auch solche Verschwörungstheoretiker nicht bestreiten, die dem oft verschlossenen Multimillionär eine Nähe zu den Illuminaten, Satan, dem Herrgott und diversen anderen höheren Mächten andichten. Aber spätestens in jenem Sommer erkannte Jay-Z die Macht der Gesten, seiner Gesten. Mit ein paar Kniffen aus der Trickkiste des Instinktmarketings hatte er sich selbst zum gefühlten Bürgermeister von Brooklyn und Vorstandsvorsitzenden der HipHop-Welt gemacht. Und diese Doppelrolle verwaltet er seitdem meisterhaft. Seinen zwischenzeitlichen Abschied zelebrierte er im Madison Square, sein Comeback im Internet, als es das noch gar nicht gab, zumindest nicht in seiner heutigen Form als Forum für Rap-Relevanz. Es ist eine feine Ironie, dass dem ehemaligen Kleinkriminellen und heutigen Großindustriellen Jay-Z das Netz bis heute tief suspekt ist. „Might crash ya Internet / And I ain’t even into that“, kokettiert er auf „Somewhereinamerica“, einem der besten Stücke von MAGNA CARTA. Denn: „When I was talking Instagram /Last thing you wanted was your picture snapped.“

Diese gelernte Öffentlichkeitsscheu ist Kanye West fremd. Jay-Zs ehemaliger Hausproduzent, späterer Duettpartner und heutiger Busenkumpel hat keine düstere Vergangenheit. Er hat ein Kind mit Kim Kardashian -und mit YEEZUS das zweite große Event-Album des HipHop-Jahres veröffentlicht. Die Platte ist sehr gelobt worden für ihr sperriges Soundbild, die aufrührenden Texte und den für einen Popstar von Kanyes Kragenweite recht mutigen Ansatz, alles Eingängige, Gefällige, mithin Schöne einfach zu streichen. Und das zu Recht. Doch auch sie lebt von ihrer Inszenierung. Rapmusik lässt sich nicht isoliert von dem Kontext betrachten, in dem sie passiert. Auch andere MCs haben von den „neuen Sklaven“ gerappt und ihre sexuellen Fantasien in der Gesangskabine ausgelebt. Auch andere Popstars haben sich Samples und Songskizzen von der elektronischen Avantgarde besorgt. Auch andere Künstler waren bei Rick Rubin, um sich ihr Album zum Klassiker kondensieren zu lassen. Es ist erst die Kombination mit Kanyes kontroverser Persönlichkeit und den als Verweigerungshaltung getarnten Vermarktungsideen (sowie der Reaktion der begeistert beispringenden Medien auf all das), die YEEZUS zu dem werden ließen, was es nun mal ist: eine der besten, wichtigsten HipHop-Platten der letzten Jahre. Die Liaison mit der Unternehmerin und It-Girl Kardashian hat damit streng genommen nichts zu tun, aber sie wirkte als Relevanz-Doping, genauso wie das exklusive Interview mit der „New York Times“ („I am the Steve Jobs of culture“) und die provokant-politischen Auftritte bei „Saturday Night Live“.

Relevanz und Rap sind untrennbar miteinander verbunden, sie brauchen und beeinflussen einander wechselseitig, und so schaukeln sich Kanye West und Jay-Z gegenseitig hoch in einer Art Perpetuum Mobile der Aufmerksamkeit, das zusätzlich geölt wird vom ehrlichen Wunsch, tatsächlich große Momente der Musikgeschichte zu schaffen. Kanye projiziert sein neues Video an eine Häuserwand im Hipsterviertel Williamsburg? Dann muss Jay-Z eben auf dem Times Square auftreten (was erst in letzter Sekunde von den städtischen Behörden abgeblasen wurde) und seine Kunstsammlerkantate „Picasso Baby“ sechs Stunden am Stück in einer Galerie zum Besten geben (was sogar anerkannten Autoritäten wie dem Kurator Klaus Biesenbach und dem Kritiker Jerry Saltz leicht verschämten Respekt abrang). Weitere Jay-Z-Konzerte fanden in den letzten Monaten und Jahren unter anderem in der Carnegie Hall statt, im Yankees Stadium, in Glastonbury, auf seinem eigenen „Made In America“-Festival und -an acht Abenden -im Barclays Center, der Spielstätte des Basketballteams Brooklyn Nets, an dem er anfangs selbst Anteile hielt. Eine Jay-Z-Show ohne den Dunst der Historie ist kaum mehr vorstellbar: In Paris etwa sorgten er und Kanye West für einen goldenen YouTube-Moment, als sie ihren gemeinsam Hit „Niggas in Paris“ ganze elfmal am Stück spielten. Was soll da noch kommen?

Kollegen wie Kendrick Lamar, Drake oder Lil Wayne definieren ähnlich erfolgreich und mindestens genauso gekonnt, wie HipHop-Musik heutzutage zu klingen hat. Aber das Staatsmännische, Revolutionäre, Geschichtsträchtige geht ihnen komplett ab. Am ehesten könnten wohl noch das alte Selbstvermarktungsgenie 50 Cent und sein Kumpel Eminem mitspielen im Gewese der Großwesire. Aber die haben jeden Anschluss an das musikalische Geschehen verpasst.

Hierzulande scheint Casper die Rolle des Superstars mit Hits und kulturellem Einfluss zu übernehmen. Sein neues Album HINTERLAND lancierte er unlängst bei der inoffiziellen Jahreshauptversammlung der Branche, dem Splash! Festival, indem er zum Ende seiner umjubelten Headline-Show das Albumcover entrollte und einen mysteriösen, zweiminütigen Trailer auf die Leinwand projizierte. Die Platte schoss noch in derselben Nacht an die Spitze der Amazon-Charts, zwischenzeitlich belegten die drei Editionen (Deluxe, regulär, Vinyl) sogar die Plätze eins bis drei -und das, obwohl das Album erst Ende September erscheint. Die nächste Nummer eins für die Boomgenre Deutschrap nach zuletzt RAF 3.0, Genetikk, Cro und Kollegah & Farid Bang ist schon jetzt beschlossene Sache.

Mit solchen Fragen beschäftigt sich Jay-Z nicht mehr. Die Eins ist quasi selbstverständlich, hier geht es um andere Errungenschaften. Ein Cover im „Time“-Magazin. Rekorde wie die meisten Spotify-Plays in einer Woche. Zweitkarrieren als Internetunternehmer, Spielerberater und, wie immer wieder spekuliert wird, demnächst auch Politiker. Mayor Carter? Man wundert sich gar nicht mehr, wie wenig einen dieser Gedanke irritiert. Dabei will er doch angeblich nur seine erste Milliarde machen und dann seine erste Billion. Und vielleicht nebenbei ein ganz klein wenig die Welt verändern.

JAY-Z

Jay-Z wurde 1969 als Sean Corey Carter in New York geboren. Er wuchs auf in den Marcy Houses, einer Sozialwohnungssiedlung in Brooklyn. Bereits in den 70er-Jahren kam er in Kontakt mit der Hip-Hop-Kultur, sein Handwerk als Rapper lernte er in Freestyle-Runden auf dem Hof. Sein tägliches Brot aber verdiente er als Drogendealer – ein Spannungsfeld, das er 1996 auf seinem gefeierten Debütalbum REASONABLE DOUBT verarbeitete. Seitdem stieg Carter zum erfolgreichsten und einflussreichsten Rapper der Geschichte und einem der wichtigsten Popstars Amerikas auf. 2008 headlinte er als erster Rapper das Glastonbury-Festival. Zwölf seiner Alben schafften es auf Platz eins der US-Charts, parallel gewann er 17 Grammys sowie das Vertrauen der Mächtigen von Bill Clinton bis Barack Obama. Mit seinen eigenen Plattenfirmen Roc-A-Fella und Roc Nation sowie angeschlossenen Unternehmen wie der Modemarke Rocawear (Jahresumsatz 2012: E 490 Millionen) schuf er zudem die Blaupause des millionenschweren HipHop-Entrepreneurs. Zuletzt macht er außerdem als Mitbesitzer der NBA-Franchise Brooklyn Nets und als Basketball-Spielerberater von sich reden. Carter ist verheiratet mit der Sängerin Beyoncé Knowles; das Paar hat eine gemeinsame Tochter, Blue Ivy.