Roskilde: Ein Blick hinter die Kulissen von Europas dienstältestem Festival
Non-Proft, solidarisch, frei: Unsere Autorin begab sich in der vergangenen Saison auf die Suche nach dem besonderen „Roskilde-Spirit“ – und fand ihn ausgerechnet beim Müllsammeln.
Vorwort: Das Roskilde Festival sollte 2020 zum 50. Mal stattfinden und wurde am 7. April wegen der Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus abgesagt. 2021 soll es wieder stattfinden, hier die Details. Das ist nicht nur schade, sondern hat Folgen: Allein durch diese Absage kommen laut Aussage der Veranstalter viele NGOs und gemeinnützige Initiativen ins Straucheln, die vom Non-Profit-Festival spenden erhielten und damit planten.
Wir erinnern deshalb mit diesem Text an die Besonderheit des Roskilde Festivals – und hoffen, dass es 2021 wieder stattfinden kann und alle Beteiligten über die Runden kommen.
Ich hätte mir was anderes aussuchen sollen. Sandwiches schmieren. Oder Bier verkaufen, während auf der Hauptbühne Bob Dylan seine Geschichten erzählt. Um halb 7 aufzustehen, um anderer Leute Müll aufzusammeln, ist nicht die Aussicht, die mich aus meinem Schlafsack treibt. Obwohl es Anfang Juli ist, war die Nacht im Zelt bitterkalt. Die Flasche Wodka, die wir mit Blick auf die dänischen Alkoholpreise im Duty Free am Kopenhagener Flughafen mitgenommen und gestern geleert haben, verfluche ich jetzt. Meine Lederjacke schwimmt im Vorzelt in einer Regenpfütze. In der Hoffnung auf Kaffee mache ich mich auf den Weg in Richtung Volunteer-Area.
Unter den rund 130.000 Feiernden, die jedes Jahr zu dem kleinen Ort nahe Kopenhagen reisen, sind mehr als 30.000 als freiwillige Helfer dabei. Sie bilden das Rückgrat des 1971 gegründeten Festivals, das neben dem hauptberuflichen Veranstalter- und Booking-Team nicht nur auf dieses freiwillige Miteinander setzt, sondern sich seit seinen An ngen einer Non-Profi t-Strategie verschrieben hat. Während auf anderen Festivals H&M-Filialen eröffnen und Zalando eigene Bühnen bespielt, sucht man auch aggressives Sponsoring auf dem Roskilde vergebens – abgesehen von der Kopenhagener Brauerei Tuborg, die seit 1992 an Bord ist. Außerdem spenden die Veranstalter des Roskilde konsequent alles, was die Deckung der eigenen Fixkosten übersteigt für soziale und kulturelle Projekte in Dänemark und darüber hinaus – 2,5 Millionen Euro werden es 2019 laut Festival-Homepage schließlich werden, seit dem Start des Festivals insgesamt 52 Millionen Euro.
Große Namen und eine faire Vergütung für freiwillige Helfer
Was allerdings nicht bedeutet, dass beim Line-up gespart wird. Bob Dylan, Cardi B, The Cure, Janelle Monáe, Lizzo, Robyn, Travis Scott und Robert Plant waren nur die größten Namen aus den insgesamt 184 Konzerten im Sommer 2019. Zudem basiert das Festival augenscheinlich nicht auf Selbstausbeutung, wie es bei vielen Non-Profit-Organisationen der Fall ist. Die freiwilligen Helfer erhalten auf dem achttägigen Festival für vier Arbeitsschichten à acht Stunden ein Gratis-Ticket (etwa 280 Euro), vier Mahlzeiten, zehn Drinks und Zugang zu gesonderten Camping- und Volunteer-Areas.
Dort bin ich nach einem 30-minütigen Fußmarsch über das riesige Areal auch endlich angekommen. Obwohl das Festival jetzt schon seit einer Woche im Gange ist, ist das Gelände erstaunlich sauber. Anders sieht es auf den Campingplätzen aus. Wenn am Sonntag die Pforten für die Besucher geöffnet werden, campen viele bereits vor den Zäunen, um sich den besten Spot zu sichern. Oder einfach nur zu campen. Sie bringen professionelle Soundsysteme mit und veranstalten Partys auf dem Campingplatz – so wie Camp Helge. Die Partys der dänischen Crew sind legendär. Angefangen mit ein paar Boxen, rollen sie mittlerweile eine eigene DIY-DJ-Booth auf einem Vierrad-Anhänger auf den Platz, mit der sie eine beachtliche Crowd beschallen. Sogar Helge-Merch gibt es.
Was von so einem Fest übrig bleibt, ist allerdings nicht schön anzusehen: geknickte Pavillonstangen, Zigarettenstummel, Plastik-Berge. Ein Hartplastikbecher-Pfandsystem wie auf deutschen Festivals gibt es auf dem Roskilde 2019 zum ersten Mal. Was abseits des Geländes passiert, können die Veranstalter jedoch nur schwer beeinflussen.
Die „ReActor-Parade“
Hier kommt die „ReActor-Parade“ ins Spiel, der ich mich heute anschließe. Vor einem weißen Zelt tummeln sich bereits rund 40 Volunteers und fischen Handschuhe und Warnwesten aus einer Kiste. Koordinator Thomas Sánchez Saxtoft teilt die Gruppen ein, während ich mir im Zelt noch einen Kaffee organisiere. Er ist seit 2014 Teil des Teams und arbeitet eigentlich als IT-Consultant. Für das Roskilde nimmt er fünf Tage seines Jahresurlaubs.
In meiner Gruppe sind wir zu elft. Ein Truck mit offener Ladefläche fährt voran, wir trotten hinterher, halten nach Batterien, Luftmatratzen, Glas und Metall Ausschau. Wenigstens müssen wir keine Zigarettenstummel oder feuchtes Papier aufsammeln. „Nasse Pappe kann man eh nicht mehr recyceln“, klärt mich ein Mädchen auf. Wie alle „ReActors“ hat sie zuvor online einen Wissenstest zum Thema Müll absolviert Aufgabe der „ReActors“ ist es nicht nur, als Müllsammler und Wertstoff -Recycler loszuziehen, sondern andere Besucher dadurch auch auf das Müllproblem aufmerksam zu machen, das das Roskilde genauso wie jedes andere Festival hat: Rund eine Million Euro zahlen die Veranstalter pro Saison, um hinterlassene Zelte, Bierdosenhaufen, Gartenmöbel zu beseitigen, und das, obwohl vieles sogar noch intakt ist.
„Lass das liegen! Am Zaun sind die Pissecken!“
Heute Morgen suchen wir nur nach kaputten Teilen – und werden schnell fündig. Kaum einer der Pavillons hat den Sturm letzte Nacht überstanden. Wir fragen Camper, die sich schon ihr erstes Tuborg aufgemacht haben, ob sie Stühle oder Pavillons ausrangieren wollen. Vieles liegt herrenlos in der Gegend herum. Als ich mich an einem Zaun bücke, um eine Zeltstange aufzuheben, ruft jemand aus meinem Team: „Lass das liegen! Am Zaun sind die Pissecken!“ Das 18-jährige Mädchen gehört zu einer kleinen Gruppe von Freundinnen aus Aarhus. „Wir sind einfach ziemlich abgebrannt“, antwortet sie auf meine Frage, warum sie hier Müll aufsammeln hilft. Sie hat also tatsächlich das Frei-Ticket in den Volunteer-Dienst gelockt. „Außerdem ist es eine Selbstkontrolle, dass man nicht die ganze Zeit am Trinken ist“, fügt ihre Freundin lachend hinzu: „Dafür halten wir heute Nacht länger durch.“ Und bevor das Bühnenprogramm beginnt, sei man ja auch schon wieder fertig. Ganz davon abgesehen, dass das alles hier natürlich auch absolut sinnvoll sei.
Ein Mittvierziger mit kahl geschorenem Kopf verrät mir, dass er vergessen habe, ein Ticket zu kaufen. Er arbeite als Fliesenleger in Schweden und komme seit 27 Jahren immer mit derselben Gruppe hierher. Damals sei er noch wegen der Metalbands gekommen, seine Lieblingsmusik. Und trotz deutlichen Änderungen in der Musikauswahl über die Jahre hinweg einfach dabeigeblieben: „Es ist eben … Roskilde! Das kann man nicht erklären.“
Ein Generationenprojekt
Was macht diesen besonderen Roskilde-Spirit aus? Das wollte auch der 50-jährige Unternehmer aus Kopenhagen wissen, der gerade auf die Ladefläche unseres Trucks geklettert ist, um einen mit Gaffa-Tape geflickten Campingstuhl zu zerkleinern. „Mein Sohn kommt seit ein paar Jahren hierher und ich wollte mir das mal anschauen“, erzählt der Mann. Die Musik interessiere ihn nicht so, aber eben das Drumherum. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie Volunteering beim Roskilde funktioniert. Neben Studierenden und SchülerInnen helfen hier auch viele Überzeugungstäter mit. Obwohl der Altersdurchschnitt des Festivals bei 24 Jahren liegt, sieht man besonders hinter den Kulissen auch viele etwas ältere Menschen. Einige sind schon seit ihrer eigenen Jugend dabei und kommen inzwischen mit ihren Kindern. Ein Generationenprojekt.
So viel freiwilliger Einsatz muss belohnt werden, findet Britta Andersen, die ich nach meiner Müll-Schicht besuche. Die Physiotherapeutin leitet den Volunteer-Wellness-Bereich (!), eine echte Oase an diesem nasskalten Freitag. „Unsere Volunteers arbeiten viel, und dann noch im Zelt schlafen – da brauchen sie einen Ort, wo sie mal runterkommen können“, sagt sie und zeigt mir ihr Reich. Hinterm Holztresen nehmen zwei Studentinnen Termine für Fußbäder entgegen. Daneben steht ein professionelles Friseur-Waschbecken – ein Geschenk einer pensionierten Friseurin aus dem Ort. Es gibt auch Föhne und Schminkspiegel, Gesichtsmasken und Nagellack.
„Ich lebe für diese Volunteer-Sache!“
„Vergangenes Jahr kam ein Mädchen rein und stellte sich vor den Spiegel und sagte: ,Ich habe mich schon seit fünf Tage nicht mehr komplett in einem Spiegel betrachtet!‘“, erzählt Britta lachend. Sie zieht einen Vorhang zur Seite und zeigt mir eine Massageliege. Vier ausgebildete Physiotherapeuten arbeiten hier im Wechsel. Neben dem Wellness-Zelt liegt ein kleiner, liebevoll dekorierter Garten mit Hängematten und Sesseln. In einer antiken Kommode – ein Geschenk von Brittas Oma – gibt es eine kleine Bibliothek. Britta breitet die Arme aus, lacht und ruft: „Ich lebe für diese Volunteer-Sache!“
Das Roskilde ist eine Utopie im eigentlichen Sinne, hier wird für kurze Zeit eine solidarische Gesellschaft gelebt, in der alle ihr Möglichstes beitragen. Ein bisschen mehr Roskilde wagen, das würde nicht nur der Musikindustrie nicht schaden. Ein bisschen mehr Roskilde versuche ich auch nach diesem Erlebnis mit in meinen Alltag mitzunehmen.
Volljährige freiwillige Helfer aus der ganzen Welt können sich über die Homepage des Festivals als Volunteers bewerben. Dort und in der angeschlossenen Facebook-Gruppe werden immer wieder neue Angebote veröffentlicht.
Das diesjährige Roskilde Festival sollte vom 27. Juni bis zum 4. Juli 2020 stattfinden, wurde wegen anhaltender Verbreitung des Coronavirus aber abgesagt. Hier die Details.
Dieser Artikel erschien erstmals in der Musikexpress-Ausgabe 03/2020: