„Sing On! Germany“ mit Palina Rojinski auf Netflix: „Feier noch ein bisschen für uns mit!“
Wenn „Singstar“ eine Fernsehsendung wäre: Netflix bringt mit „Sing On! Germany“ eine Karaokeshow ins eigene Programm. Moderiert wird das Gesangsbattle von Palina Rojinski, die hier erstaunliche Entertainerqualitäten beweist. Wir haben reingeschaut.
Einfache Unterhaltung für komplizierte Zeiten: Die Karaokeshow „Sing On! Germany“ lädt ein zum Mitsingen und Mitfiebern – und ist ein weiteres Indiz dafür, dass Netflix sich anschickt, auch außerhalb von Serien- und Filmformaten Fuß fassen zu wollen. Auch wenn das Konzept altbekannt und die Show etwas eintönig und überladen wirkt, ist die hochwertig produzierte Sendung in weiten Teilen unterhaltsam. Besonders zu überzeugen weiß Palina Rojinski, die als Moderatorin stilsicher durch die sieben Folgen führt. Vor allem aber ist die Veröffentlichung der Karaokeshow gut terminiert: „Sing On! Germany“ ist wenig forderndes Feel-Good-Krisenfernsehen. Sie wurde offensichtlich bereits vor Beginn der Corona-Pandemie aufgezeichnet und zeigt ein jubelndes, eng zusammenstehendes Publikum, zahlreiche Umarmungen sowie – logischerweise – zahlreiche singende Menschen (Aerosole!). Und all das auch noch indoor!
Kurz zu den Regeln: In „Sing On! Germany“ treten sechs Kandidat*innen pro Folge gegenseitig in einem Karaokewettbewerb an. Es geht um einen Jackpot, den sie selbst erstmal ersingen müssen und in den bis zu 30.000 Euro gelangen können. In jeder Episode werden fünf Songs in fünf Runden performt; nach jeder fliegt ein*e Kandidat*in raus. Zunächst entscheiden die untereinander, wen sie – wohlgemerkt nicht anonym – rauswählen, ehe in den letzten beiden Runden der sogenannte „Vocal Analyzer“ über Sieg oder Niederlage entscheidet. Dieses Tool misst die getroffenen Töne und ermittelt basierend darauf für alle Teilnehmer*innen einen persönlichen Score, den die Zuschauer*innen auch die meiste Zeit angezeigt bekommen. Wer am Ende den höchsten Score hat, gewinnt den Jackpot.
„Du bist sau sympathisch“
Jede Folge widmet sich einem spezifischen musikalischen Oberthema: Von „Filmhits“ über „Love Songs“ bis hin zur „Partyplaylist“ haben sämtliche musikalischen Spielarten ihre Daseinsberechtigung. Die Songs werden von einer Liveband vor Ort eingespielt. An Hits wird nicht gespart: So gibt es in der ersten Episode (Thema: „Girlsnight“) gleich mal eine illustre Songauswahl mitzuerleben, die sich irgendwo zwischen dem Castingshow-Klassiker „Daylight in Your Eyes“ von den No Angels und dem ewig grandiosen Megahit „Chandelier“ von Sia einpendelt. Bei letzterem können die Kandidat*innen auch einen sogenannten „Goldenen Ton“ treffen, eine spezielle Zusatz-Challenge, die nur in einer Runde an einer besonderen Songstelle errungen werden und denjenigen, die sie meistern, 1000 Euro einbringen kann.
Die Kandidat*innen singen größtenteils überdurchschnittlich gut, haben teilweise sogar einen Musik-Hintergrund als Musiklehrerin, Hochzeitssängerin oder Straßenmusiker. Doch nicht nur die Gesangsfähigkeit ist hier von Interesse, Palina versucht den Teilnehmer*innen auch Biographisches zu entlocken. Das Nachfragen wirkt – vor allem aufgrund des Format-bedingten Zeitdrucks – mitunter pflichtschuldig, doch oft genug entlockt Palina erstaunliche Antworten, beispielsweise als die Kandidatin Claudia in Folge 4 („Partyplaylist“) auf die Frage, was sie denn gerne hört, zur Überraschung aller offen preisgibt, dass sie, auch wenn man ihr das nicht ansehe, gerne „Ballermann-Schlager“ höre. Na dann.
Abgesehen davon zeigt sich Palina stets empathisch, beispielsweise wenn sie bei den Kandidat*innen nachfragt, ob sie selbst mit ihrem Gesang zufrieden waren. Nach einer besonders tollen Performance, einem spannenden Battle oder nach einem außerordentlich traurigen Ausscheiden vergießt Palina auch mal eine Träne. Sie umarmt, muntert auf, ohne dabei zu vergessen, auch mal einen lockeren Spruch zu drücken. Und die Zuneigung kommt auch von ihren Gegenübern: „Du bist sau sympathisch“, sagt die Mitstreiterin Gella zu Palina, als sie kurz vorm Finale der ersten Folge denkbar knapp vom Vocal Analyzer rausgevotet wurde. Auch merkt man Palina an, dass sie selbst eine Passion fürs Singen hegt, auch wenn sie das – nach eigener Aussage – gar nicht so gut kann.
Ein Feuerwerk aus Aerosolen
Ein wichtiger Aspekt in der Show ist der Mitmach-Aspekt. Das gilt zum einen für das Publikum, das öfter einmal in Sing-Along-Einlagen eingebunden wird und auch sonst nicht gerade still ist. Die Crowd klatscht im Takt, ruft ekstatisch „woooooh“. Vereinzelt werden mit den Händen Herzchen geformt. Alle sind happy, sorglos, gehen ab, egal welcher Song gerade angestimmt wird. Doch all das kommt einem heutzutage etwas ungewohnt vor: Bei den Bildern des eng beieinander stehenden, mitsingenden und mittanzenden Publikums denkt man sich recht schnell, dass es sich hier wohl um eine vorproduzierte Show handeln muss, die einige Zeit vor Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt wurde. Das ist in der Branche nicht ungewöhnlich. Das Timing der Veröffentlichung ist hingegen umso erstaunlicher: „Sing On! Germany“ ist unabsichtlich zur Indoor-Karaoke-Party geworden, zu der wir gerne gehen würden, aber aktuell nicht gehen dürfen. Ein Feuerwerk aus Aerosolen, das hier glücklicherweise völlig ungefährlich ist.
Der Prä-Corona-Aufzeichnung sind allerdings auch einige unfreiwillig amüsante Momente geschuldet: Bei seiner Vorstellung antwortet der Kandidat Johannes (er singt in der zweiten Folge „Love Songs“ für uns) auf Palinas Frage, was er denn im Fall eines Sieges mit dem Geld anstellen würde, dass er gerne endlich in die USA reisen und überhaupt ein bisschen rumkommen wolle. Worte, die einem nach Monaten von Grenzschließungen, Einreiseverboten und Lockdowns komisch vorkommen. Oder auch Sebastian aus Folge 5 („Rockparty“), der derart lebendig von seiner Clubleidenschaft erzählt („Gerne bis sieben Uhr morgens“), als wären diese die vergangenen Monate nie geschlossen gewesen. Die Welt ist in „Sing On! Germany“ eben noch eine andere.
À propos Party: Nicht nur die Zuschauer*innen feiern, auch die ausgeschiedenen Kandidat*innen bleiben im Blickfeld und powern auf einer separaten Bühne weiter: „Feier noch ein bisschen von da oben für uns mit“, sagt Palina Rojinski dann gerne mal zu denen, die sich aus dem Rennen um den Jackpot verabschieden mussten und irgendwie fühlt man sich bei diesem Partybefehl sogar selbst ein wenig adressiert. Mitfeiern, nicht von da oben, aber immerhin vorm PC.
Es geht hier nicht nur um das Singen und das Mitsingen, es geht auch um das Tanzen, um das Abgehen: Die Show ist Wettbewerb und Party. Es gibt sogar einen eigenen Preis fürs beste Partymachen, nämlich den sogenannten „Palina Performance Preis“ (kurz: „PPP“), der mit 500 Euro dotiert ist und bei dem es für die Kandidat*innen darum geht, nicht steif und nervös rumzustehen, sondern möglichst doll bei der Songperformance abzugehen. Das sorgt nicht nur für allgemeine Auflockerung, sondern auch für ziemlich coole, teilweise aber auch für echt unbeholfene Moves auf der Bühne.
Alle haben sich lieb
„Sing On! Germany“ ist somit auf mehreren Ebenen ein ziemlicher Feel-Good-Raum: Es zeichnet nicht nur eine Prä-Corona-Partylandschaft, sondern auch eine Konkurrenzsituation, in der sich trotzdem alle lieb haben: Selbst wenn die Gegner*innen sich gegenseitig offen rauswählen müssen, dann wird das nicht nur vom Publikum mit einem mitleidigen und sehr lauten „Ooooh“ untermalt: Die Kandidat*innen sind dann natürlich immer „traurig“, es tut ihnen „voll leid“ und sie sind ja sowieso ein „riesen Fan“ von der „einzigartigen Stimme“ des Gegenübers, das sie wohlgemerkt gerade selbst aus dem Rennen manövriert haben. Ehe man sich gesagt hat, dass man sich gegenseitig „ins Herz geschlossen“ hat, wird sich dann nochmal umarmt. Einst gewöhnliche Bilder, die inzwischen fremd erscheinen.
Die sehr routinierten Abläufe lassen die Show manchmal öde, die überbordenden Emotionen und das übermäßig laute Publikum manchmal überladen wirken. Trotzdem rettet die tolle Moderation von Palina Rojinski, in der glücklicherweise der ein oder andere lustige Spruch wichtige Lockerheit reinbringt, vieles, genauso wie die größtenteils gelungene Songauswahl. Ob „Get Lucky“ von Daft Punk & Pharrell Williams oder „I Love It“ von Icona Pop & Charli XCX: Hier gibt es einige großartige Hits zu hören, die man gerne mitsingt – und ja, das macht man irgendwann zwangsläufig. Da verzeiht man auch mal den ein oder anderen Patzer in der Auswahl, beispielsweise den faden Silbermond-Song „Das Beste“, der es in die „Love Songs“-Folge schaffte.
Ein weiteres kleines Ärgernis ist, dass leider manchmal die besten Songteile weggelassen werden, wie in der Folge „Hot Summer“, in der der Juli-Hit „Perfekte Welle“ auf dem Programm stand und die Macher von „Sing On!“ sich dazu entschlossen, ausgerechnet die wohl beste Stelle des Songs, nämlich die Bridge („Du stellst dich in dem Sturm und schreist/ich bin hier, ich bin frei“), wegzulassen. Das würde auf einer tatsächlichen „Singstar“-Party zu einer sprichwörtlichen Welle der Empörung führen.
Fazit: „Sing On! Germany“ ist nicht mehr und nicht weniger als ein netter, sorgloser und vor allem seichter Feel-Good-Karaoke-Moment für zwischendurch. So wie „Singstar“-Fans ihre präferierten Editionen haben, werden Zuschauer*innen von „Sing On! Germany“ auch ihre Lieblingsepisoden finden. Und da bietet die Staffel 1 schon eine vergleichsweise breite Auswahl, die sämtliche Geschmäcker abdeckt. Man muss nicht überall mitsingen, aber man kann.
„Sing On! Germany“ läuft seit Freitag, 7. August 2020, auf Netflix. Die Show hat sieben Folgen à circa 35 Minuten.