Platte des Monats: Wilco
The Whole Love
dBpm/Anti/Indigo VÖ: 23.9.
Als Unternehmer in eigener Sache erleben die Alt-Country-Helden aus Chicago einen neuen Kreativitätsschub.
Schon wieder Wilco? Ein neues Album zur Hochveröffentlichungssaison und schon wieder thront es über dem Rest. Das entwickelt sich langsam zur Routine. Eine Diskussion über die grundsätzlichen Qualitäten von Wilco wird längst nicht mehr geführt, man kann diese Band einfach durchwinken. Durchschnittlich oder gar schlecht? Hier doch nicht! Dabei hatte die Beschwerde darüber, warum gerade Wilco wieder den besten Platz innehaben, durchaus schon mal Berechtigung. Das letzte Lebenszeichen Wilco (The Album) war ein Dokument des Stillstands. Ein total braves, vorhersehbares und traditionelles Werk von Musikern, die zu Beginn der Nullerjahre noch erfolgreich mit Konventionen gebrochen hatten. Eine laxe Kollektion, die man nur anbietet, wenn man weiß, dass der Deal mit der Plattenfirma ausläuft. Trotzdem tendierte man weiter unbeirrt zu der Meinung, dass Wilco selbst in einer Phase der Stagnation noch unschlagbar seien. Ein klassischer Fall von Nibelungentreue.
Alte Freunde werden beruhigt sein, dass es jetzt wieder Anzeichen für Kontinuität bei Wilco gibt. Aufgenommen wurde The Whole Love im altbekannten Chicagoer Hauptquartier-Loft, und die Besetzung ist dieselbe wie auf den beiden Alben zuvor. Aber es hat sich auch etwas verändert. Zum ersten Mal veröffentlichen Wilco auf ihrem eigenen Label dBpm, was sie mit einer Version von Nick Lowes „ I Love My Label“ (als Bonus auf der Deluxe-Edition) ordentlich zu feiern wissen. Wichtig war auch, dass sich Jeff Tweedy zum ersten Mal in der Bandgeschichte Zeit für die Komposition neuer Stücke genommen hat. Es gab tatsächlich einen Break. Unter entspannten Bedingungen sind ihm fast 60 Songs eingefallen, von denen nun gerade einmal zwölf auf dem neuen Album zu hören sind. Zuerst sollten es mehr sein. Die Band trug sich mit dem Gedanken, das Material stilistisch aufzuteilen. Ein Album mit energetischen Stücken, ein weiteres für die atmosphärischen. Davon hat man dann aber doch Abstand genommen. Ebenso wie vom Arbeitstitel. „Get Well Soon Everybody“ – das war Tweedy am Ende doch zu politisch. Auf dieses Glatteis traute er sich nicht. Man braucht nicht lange, um zu merken, dass sich Wilco durch die neuen Rahmenbedingungen beflügelt fühlen. Mit „Art Of Almost“ sind sie gleich gewillt zu zeigen, was sie zu Zeiten von A Ghost Is Born so stark gemacht hat. Ein Beat, der aus dem Laboratorium des Anti-Pop Consortiums stammen könnte, ein verzerrter Bass-Groove, ruckartig einsetzende Streichereffekte und zum Schluss eine ekstatische Gitarrenorgie, die wegen ihrer Heavyness fast schon in Richtung Blue Cheer geht.
Betulich klingt auch die Single-Auskopplung „I Might“ nicht, dafür sorgt der unermüdlich am Bass wühlende John Stirratt. Die nörgeligen Gitarren wären vom vormals zuständigen Warner-Apparat bestimmt mit der Begründung abgelehnt worden, dass sie nicht radiotauglich genug klingen. Und ob sich dieser Song für den Äther eignet! So will man einen Popsong hören, lebhaft und quengelig. Bei „Sunloathe“ landet Tweedy wieder einmal in seinem Lieblingsmetier, bei den Post-Beatles-Alben der Beatles, allen voran denen von George Harrison und John Lennon. Die Zeile „I don’t want to lose this fight, I don’t want to end this fight, goodbye“ ist die einprägsamste des ganzen Albums und sorgt für einen Moment der Anspannung. „Black Moon“ und „Open Mind“ sind introvertierte Country-Meditationen fürs Kopfkino. „In „Capitol City“ sorgen ein Hauch von Swing und eine theatralische Note für Feierlichkeit. Am Ende des Albums wird es episch. Während der zwölf Minuten von „One Sunday Morning“ denkt man wieder an A Ghost Is Born, nur mit dem Unterschied, dass die Band dieses Mal mitten im Song nicht mit Gewalt auf die vollexperimentelle Seite überschwenkt. Akustische Instrumente und die gedämpfte Stimme Jeff Tweedys sorgen für ein harmonisches Ende eines abwechslungsreichen Trips. „Once in Germany someone said nein“, sang Jeff Tweedy vor sieben Jahren in „ I’m A Wheel“ auf dem Album A Ghost Is Born. Die Antwort „nein“ ist hier nicht denkbar. The Whole Love macht uns alle zu gottverdammten Ja-Sagern. Schon wieder Wilco? So ist es.
Key Tracks: „Art Of Almost“, „ Dawned On Me“, „ Capitol City“