„Song Exploder“ auf Netflix: Wie R.E.M.s „Losing My Religion“ ein unwahrscheinlicher Welthit wurde
Wer zum Beispiel Zeuge von Michael Stipes zahlreichen modischen Reinkarnationen werden oder erfahren möchte, warum der R.E.M.-Sänger die Zeile „That's me in the corner / That's me in the spotlight / Losing my religion“ besser als die Ursprungsidee „that's me in the kitchen“ hielt, dem sei „Song Exploder“ besonders ans nostalgische Herz gelegt.
Netflix hat eine neue Musiksendung am Start: „Song Exploder“ ist vorerst als Mini-Serie auf vier Folgen angelegt und seit dem 2. Oktober 2020 im Stream zu sehen. Die Show basiert auf dem gleichnamigen Podcast, der von 2014 bis 2018 lief und seit 2019 weitergeht. 177 Folgen hat der Moderator, Musiker und Produzent Hrishikesh Hirway bisher auf die Beine gestellt. In jeder Podcast-Folge geht es um einen bestimmten Song, der mit seinen Urheber*innen und/oder Performer*innen vom Entstehungsprozess bis zur Rezeption besprochen wird. Hirway, der selbst unter anderem den Soundtrack für die Netflix-Serie „Everything Sucks!“ komponierte, nahm bereits so verschiedene und namhafte Künstler*innen wie Björk, U2, The Killers, Mumford & Sons, Metallica, Solange, Lorde und Weezer auseinander.
Die vier bisherigen Netflix-Adaptionen erzählen nun audiovisuell die Geschichten von Alicia Keys‚ „3 Hour Drive“ feat. Sampha, Lin-Manuel Mirandas „Wait For It“, Ty Dollar $igns „LA“ – sowie R.E.M.s „Losing My Religion“ – illustriert in Anlehnung an das dazugehörige Musikvideo. „Mit Mandoline, Klatschgeräuschen und ohne eindeutigen Refrain avancierte dieser Song in den Neunzigern zum Hit. R.E.M. erinnern sich an den Song, der ihr Leben veränderte“: So wird die 26-minütige Folge angeteasert, und die Episode hält, was der Anreißer verspricht.
Alles über den „Unfall“-Song „Losing My Religion“
In persönlichen Einzel-Interviews erinnern sich Michael Stipe (Gesang), Mike Mills (Bass), Peter Buck (Gitarre) und Bill Berry (Schlagzeug) an das Lied, mit dem sie ihren Mainstream-Durchbruch feierten. Sie spulen keine Phrasen ab, sondern zeigen sich aufrichtig erstaunt darüber, dass „Losing My Religion“, erstmals 1991 auf ihrem siebten Album OUT OF TIME erschienen, solch ein Hit wurde. Stipe nennt dessen Entstehung einen Unfall, weil er sich so zufällig ergab. Buck erinnert sich daran, wie er eines Tages auf der Mandoline herumspielte und das im Nachhinein so prägende Riff entstand. „Mandoline, kein Refrain, Handclaps, warum sollte das irgendwer spielen?“, fragte sich Mills. Es kam anders.
Stipe denkt an den Moment zurück, in dem er merkte, dass er und seine Band jetzt berühmt sind. Kurz nachdem MTV das dazugehörige Video in seine Heavy Rotation aufnahm, lief der damals 31-jährige Sänger in New York die 5th Avenue entlang – und wirklich alle Passanten hätten sich nach ihm umgedreht und ihn erkannt. Schlimm findet er das bis heute nicht: „Es ist nicht schlecht, berühmt zu sein!“, sagt er in „Song Exploder“ und lacht. Michael Stipe kommt überhaupt stets sehr nahbar rüber, etwa wenn Hirway ihm seine isolierten Vocal Tracks aus „Losing My Religion“ vorspielt und Stipe dies spürbar nahe geht.
Genauso viele Anekdoten wie Gedächtnislücken
Obwohl die Folge nur 26 Minuten lang ist, glänzt sie mit weiteren Anekdoten: So spielt Hirway Bill Berry isolierte Handclaps aus dem Song vor. „Sind die aus einer Demoversion?“, fragt der zurück, und als Hirway ihm schließlich die finale Variante präsentiert, fällt Berry fast aus allen Wolken. „They ARE there!“ sagt er, staunt – und entschuldigt sich, dass er sich nicht daran erinnert. Sei schließlich 30 Jahre her. An einer anderen Stelle kommen sie kurz auf „Shiny Happy People“ zu sprechen, und da gesteht auch Stipe Gedächtnislücken: „Ich habe völlig vergessen, dass der Song und ‚Losing My Religion‘ auf dem selben Album waren. Was für ein Widerspruch!“
Wer außerdem Zeuge von Michael Stipes zahlreichen modischen Reinkarnationen werden oder erfahren möchte, warum der Songschreiber die Zeile „That’s me in the corner / That’s me in the spotlight / Losing my religion“ besser als die Ursprungsidee „that’s me in the kitchen“ hielt, dem sei „Song Exploder“ ans nostalgische Herz gelegt.
R.E.M. gründeten sich 1980 in Athens, Georgia. Sie brachten 15 Album heraus, darunter den Meilenstein AUTOMATIC FOR THE PEOPLE (1992) mit Singles wie „Drive“, „Man On The Moon“ und „Everybody Hurts“. 2011 lösten sie sich auf – aber im Guten: In der „Losing My Religion“-Folge berichtet der Frontmann dazu, dass die ehemaligen R.E.M.-Mitglieder noch immer beste Freunde seien und gerne Zeit miteinander verbringen. Nur gemeinsame Musik machen sie eben keine mehr.