Severin Kantereit im Interview: „Ich hatte das Gefühl, dem Album fehlte noch etwas Glückliches“
AnnenMayKantereit veröffentlichten über Nacht ihr drittes Studioalbum. Schlagzeuger Severin Kantereit spricht im Interview über das Musikmachen im Homestudio, wie sich der Lockdown musikalisch im Album wiederfindet, warum es den mysteriösen Titel „12“ trägt und was er allein im Wald verloren hat.
2020 kam es für die deutsche Rockband AnnenMayKantereit wie für viele andere Musiker*innen anders als geplant. Sie wollten gleich zwei Konzerte in Moskau spielen – über Hamburg nach St. Petersburg und Istanbul. Doch dann machte ihnen das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung. Im Lockdown arbeitete die Band um Henning May also an einem neuen Album, so finster wie die Umstände sind nun auch einige Lieder ausgefallen. Mit Schlagzeuger und, wie sich herausstellte, Multi-Talent Severin Kantereit verabredeten wir uns, um über das Durchhalten im Lockdown zu sprechen und wie ihn die Einsamkeit inspirierte.
Musikexpress.de: Was steckt hinter 12, dem Titel Eures dritten Studioalbums?
Severin Kantereit: Für unsere vorherigen Alben haben wir immer Zeilen aus dem Album herausgeschnitten. Auch die Zahl 12 taucht in einem Track auf, nämlich im Intro. Wir dachten uns, das beschreibt es ganz gut, ein bisschen komisch, so wie unsere Lage momentan. Wir wollten uns an etwas Anderem ausprobieren und so entstand auch das Bild zum Album-Cover. Im Sommer trafen wir uns mit Markus Ganter im Studio. Er hatte die Idee anstelle eines Objektivs einfach die Schutzkappe auf die Kamera zu klemmen. Vorher bohrte er drei Löcher hinein und so entstand dieser verschwommene geisterhafte Effekt, der für uns sehr zum Album passte.
Getrennt voneinander ein Album aufnehmen, wie funktioniert das?
Die Form, wie wir an dem neuen Album gearbeitet haben, war für uns komplettes Neuland. Zuvor haben wir größtenteils gemeinsam an einem Ort gespielt und Songs geschrieben. Im Lockdown mussten wir auf eine andere Art und Weise kreativ werden. Chrisi (Christopher Annen, Anm.) schickte Instrumentals rum. Ich spielte Gitarre und Klavier ein, nahm es mit dem Handy auf und schickte die Sounds an Henning (May, Anm.). Was ihm dazu einfiel, war das, was er in diesem Moment fühlte. Er lief singend durch seine Wohnung. Wir wollten genau diesen Moment festhalten und dafür ist „Spätsommerregen“ ein gutes Beispiel. Am Ende liefen alle Tonspuren wieder bei mir und Chrisi zusammen und das Material blieb so, wie wir es aufgenommen hatten. Im Studio haben wir im Spätsommer unseren Produzenten rangelassen, mit dem wir den Songs den Feinschliff gaben.
„Wir konnten uns für keinen Song entscheiden, den wir auskoppeln wollten, deshalb legten wir gleich das komplette Album hin.“
Was bedeutete es für Euch, Songs wie „Gegenwart“ beim Globalen Klimastreik das erste Mal vor Publikum zu spielen?
Es war die einzige Gelegenheit unsere Songs sozusagen zu testen. Die Songs entstanden alle direkt nach der Tour, als wir im Lockdown festsaßen. „Fridays For Future“ fragten uns an und dann stand relativ schnell fest, wir spielen in Berlin auf der Straße des 17. Juni. Zu dem Zeitpunkt waren wir uns schon sicher, dass wir bald ein neues Album veröffentlichen wollen. Bei unserem Soli-Konzert für „SOS Mediterranee Germany“ haben wir Ende Oktober auch wieder zwei Songs getestet. Inhaltlich passten die Songs jeweils gut zum Anlass, was uns aber erst in der Vorbereitung auf die Auftritte so richtig bewusst wurde.
Ende September gabt Ihr bekannt, dass sich Euer E-Bassist Malte Huck zurückzieht. Inwiefern konntet Ihr ihn ersetzen?
Malte hat für das Album noch ein paar Bässe eingespielt, genauso wie Markus, der Bassist war, bevor er Produzent wurde. Dass Malte fehlte, war nicht Grund dafür, dass ich häufiger als früher zum Bass griff. Wir arbeiteten größtenteils so wie früher, als wir auch nur zu dritt waren.
Was dachtet Ihr Euch dabei, das komplette Album über Nacht herauszubringen?
Überraschungseffekt. Montagabend, wo alle im Bett sind, noch einen Livestream zu kreieren, reizte uns von der Idee her. Wir wollten unsere Fans dazu bewegen, an einem Montagabend mal wieder etwas Verrücktes zu tun und bis halb zwölf wachzubleiben. Wir konnten uns für keinen Song entscheiden, den wir auskoppeln wollten, deshalb legten wir gleich das komplette Album hin. Gleichzeitig sehen wir keinen Song als diese klassische Single an. Das Album ist in einem Kontext und an einem Stück entstanden, weshalb wir unsere Fans dazu anhalten, sich das Album am Stück anzuhören.
„Ich hatte das Gefühl, dem Album fehlte noch etwas Glückliches.“
Im Song „Spätsommerregen“ kommen sehr unterschiedlichen Percussion-Elemente zum Einsatz. Hast Du auch Sounds aus Deinem Trip nach Äthiopien einfließen lassen?
So ganz konkret kann ich das nicht sagen. Viele Aufnahmen aus Äthiopien sind mittlerweile in meiner Sound-Bibliothek gelandet. Ich habe die Klänge überall eingestreut, wie im Song „Gegenwart“. Vor allem aber habe ich viele Parts auf dem Klavier und der Gitarre für das Album eingespielt. Das Klavier im Song „Paloma“ habe ich bei mir zu Hause aufgenommen. Ich habe auch schon für ältere Alben oft die Instrumente gewechselt, beim neuen war es aber extremer. Zuhause konnte ich nicht auf einem Schlagzeug spielen, sonst wären mir die Nachbarn aufs Dach gestiegen.
Welcher Song vom neuen Album ist Dein Lieblingslied?
Den Song „Zukunft“ finde ich auf Grund seiner Klangästhetik megaschön, denn dabei ist es uns gelungen, diesen bestimmten Vibe zu kreieren. Beim russischen Einschub im Song „Warte auf mich“ gefällt mir das Arrangement und die Zusammensetzung verschiedener Instrumente. So könnte ich womöglich stundenlang durch jeden Song gehen! Das Instrumental vom Track „Aufgeregt“ habe ich irgendwann mitten in der Nacht zusammengebastelt, von einer kleinen Gitarre aus, die ich mir mal in Istanbul gekauft habe. Ich hatte das Gefühl, dem Album fehlte noch etwas Glückliches. Für uns bleibt es vor allem spannend, welche Songs von unseren Fans rauf und runter gehört werden.
„Am Ball zu bleiben, war nicht immer leicht.“
Das Album fügt sich aus düsterem Beginn, Aufwachen danach und süß-bitteren Wahrheiten zum Schluss zusammen. Welche Phase war im Lockdown bei Dir am stärksten ausgeprägt?
Dieser Schock am Anfang, wenn alles einem unbegreiflich scheint. Das was uns die letzten acht Jahre herumgetrieben hat, nämlich gemeinsam Musik machen und auf Tour gehen, wurde uns von heute auf morgen unter den Füßen weggerissen. Und verdammt, ich war noch nie solang am Stück einfach nur zu Hause. Ich habe mir alles was ich brauchte aus meinem und unserem Studio geholt. Es entstand eine kleine Klavierecke, die zwei Gitarren nahm ich von meiner Wand und mein Mini-Schlagzeug-Set aus Koffer und Snare Drum ist eh immer am Mann. Im Homestudio läuft man vier Meter und ist bei der Arbeit, am Ball zu bleiben, war da nicht immer leicht. Wir hatten uns aber vorgenommen, dass wir eine Woche lang jeweils von 11 bis 18 Uhr einen Song schreiben und so entstanden die ersten Skizzen. Glücklicherweise konnten wir noch Musik machen und das bringt uns in eine sehr privilegierte Position gegenüber unserer Crew.
Anfang Oktober warst Du fünf Tage lang allein im Wald. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
In den letzten Jahren habe ich diese Einsamkeit regelmäßig gesucht. Nach den Touren mit der Band brauche ich es öfter einmal, einfach für mich zu sein. Über einen Bekannten bin ich an ein Häuschen mitten im Wald gekommen. Diesmal war ich aber konsequenter, ich bin angekommen und habe mich auf der Suche nach W-LAN gegen Internet entschieden. Die ersten paar Tage lief ich regelmäßig gegen eine Glaswand. Ich wollte Musik hören, ging nicht. Ich wollte mir auf Instagram die Langeweile vertreiben, ging nicht. Um zu arbeiten, hatte ich aber Gitarre und Laptop dabei. Mich hat die Zeit im Wald sehr inspiriert, denn ich war komplett allein mit den Dingen.
„Wir müssten die Lieder erstmal spielen lernen.“
Wie steht es um eine Tour zum neuen Album?
Alle Termine der einstigen Tour haben wir abgesagt, was für uns eine sehr schwierige Entscheidung war. Natürlich will man Konzerte spielen, aber vor allem Anfang dieses Jahres erschein uns das Verschieben von Auftritten als nicht Sinn bringend. Wir werden zu gegebener Zeit schauen, in welchem Rahmen man unter den Corona-Bedingungen wieder Musik machen kann. Es fühlt sich sehr komisch an, ein Album herauszubringen und dann nicht freudestrahlend sagen zu können, wir gehen damit auf Tour. Dadurch, dass wir bei den Aufnahmen fast nie im gleichen Raum waren, müssten wir die Lieder, wenn dann erstmal gemeinsam spielen lernen. Dafür können wir uns aber sehr gut vorstellen, in nächster Zeit wieder einen Live-Stream zu starten.
Das Album 12 von AnnenMayKantereit ist am 17. November 2020 erschienen.