Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 6: … She soft, she radical
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen:
1. always ultra
Zwei Gegensätze bestimmen die Gegenwart: soft und radikal. Wie anstrengend diese Gegenwart ist, lässt sich daran ablesen, dass es besonders gegenwärtig ist, beide Pole zu vereinen, also radical soft zu sein. Seinen Gefühle derart freien Lauf zu lassen, dass das Aushalten der eigenen Schwäche zur Stärke wird. Ursprünglich ist Radical Softness eine queere Bewegung, die das Ziel hat, die maskulin dominierte Auslegung von Stärke zu zersetzen. Der britische Produzent KINDNESS machte 2019 einen Song daraus: „Softness As A Weapon“. Dessen Titel auf die Künstlerin Lora Mathis zurückgeht, die 2015 ein Bild veröffentlichte, das drei Messer um Buchstabenperlen herum zeigt, die „Radical Softness As A Weapon“ ausbuchstabieren.
Perlenketten mit Buchstaben – wie sie früher nur Babys im Krankenhaus trugen – sind gerade en vogue. Die feministische Kolumne der Stunde heißt „Freie Radikale“ (Teresa Bücker) und ein viel geteiltes Sachbuch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ (Şeyda Kurt), während sich auf Spotify die Playlisten mit Softness im Titel häufen und es im TikTok-Hit „Soft“ des Kreuzberger Rappers Pashanim heißt: „Saka Wasser kauf’ ich oft, Vapormax, ich laufe soft.“ FERIEN, das dazugehörige Album, ist gerade erschienen.
2. social media
Radikal und Soft sind auch die Determinanten, nach denen Social Media funktioniert. Ein Beispiel: Als die offen ADHS-diagnostizierte Schriftstellerin Kathrin Weßling in einer Instagram-Story bekannt gab, ihre zweite Covid-Impfung zu erhalten, wurde sie radikal angegangen. Sie evoziere Neid, hieß es. Und Weßling verteidigte sich, postete ein Foto ihrer zahlreichen Medikamente. Psychische Krankheiten werden von der breiten Masse noch immer unterschätzt. Gelten als „nicht ganz so schlimm“ – wie die vermeintlich organischeren Krankheiten – jedenfalls nicht schlimm genug für Impf-Prio-Gruppe-2.
Sie mache das nicht gerne, schrieb Weßling, das Offenlegen ihrer Medikation sei mit Angst und Scham belegt. Radikalität – so lässt sich an dieser Begebenheit gut ablesen – provoziert Softness, provoziert, dass man sich von seiner verletzlichsten Seite zeigt. Vielerorts wird derzeit gepostet, man sei erschöpft von den sozialen Medien, erschöpft vom radical/soft Bildschirm-Life, dass so viele Monate beinahe alternativlos war.
3. déjà-vu
Da der hochkantige Handy-Bildschirm uns stärker und stärker bestimmt, hat er auf die vielfältigste Arten und Weisen seinen Weg in den Pop gefunden. Im „Guardian“ regt der Journalist Dorian Lynskey die Überlegung an, dass die Tatsache, dass es heute mehr Solo-Künstler*innen denn Bands gibt, damit zu tun haben könnte, dass sich Bands nicht so gut auf schmalen Bildschirmen darstellen lassen. Fritzi Ernst – vormals Teil des Duos Schnipo Schranke – lässt das Video zu ihrem Chanson „Trauerkloß“ im Hochkant-Storyformat beginnen, nur um dann im Breitbild einen Trauerkloß-Filter in Instagram-Ästhetik um das Gesicht herum zu tragen.
Olivia Rodrigos omnipräsentes High- School-Rock-Video „Good 4 You“ beginnt mit einem sichtbaren Ringlichtkreis in ihren Augen – YouTube-Ästhetik –, bevor sie durch eine Reihe von Klapphandys betrachtet wird, die im Zuge der 2000er-Nostalgie von Samsung und Motorola gerade wieder neu aufgelegt werden. Man kann also sagen: Olivia Rodrigo verhält sich zu Avril Lavigne wie ein Samsung Galaxy Z Flip 5G (2021) zu einem Moto Razr VR (2004).
Als Miley Cyrus im vergangenen Jahr mit PLASTIC HEARTS Pop-Rock herausbrachte, hieß es seitens der Kritiker*innen noch, das sei völlig aus der Zeit gefallen. Nun aber ist nicht nur Rodrigo überall, auch der Eurovision Song Contest 2021 wurde von Pop-Rock gewonnen: Måneskin rief mit seinem Kajal-effeminierten Sänger Erinnerungen an early 2000s Ville Valo (HIM) wach. Eigentlich sollte die Wiederkehr des Pop-Rock aber keine Überraschung sein, ist er doch vor allem eins: radikal soft.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 08/2021.