PLATTEN

„TURN AROUND TO THE FOOL WHO BELIEVED. DON’T ASK WHY“

„Don’t Ask Why“, My Bloody Valentine, 1990

Betr.: Geheimhaltungsstrategien Was für ein Gezerre diesen Monat. Ich meine nicht, dass weite Teile der Redaktion zeitweise wegen grippaler Infekte außer Gefecht gesetzt wurden. Sondern: die Musikgeheimhaltungsstrategien der Plattenfirmen – oder besser einer Plattenfirma. Bis zuletzt wurde darüber verhandelt, ob wir das neue Album der Strokes, COMEDOWN MACHINE, hören dürfen. THE NEXT DAY von David Bowie und DELTA MACHINE von Depeche Mode durften zumindest ein paar Redaktionsmitglieder bei sogenannten Listening Sessions hören. EXILE, das zweite Album von Hurts, kam bei uns als ultrageheimer Streaming-Link an, der mehr schlecht als recht funktionierte. Dass es auch anders geht, zeigten die irischen Shoegazer My Bloody Valentine. Die veröffentlichten MBV, den Nachfolger ihres 1991er Meilensteins LOVELESS – einfach so und ohne Label. Wir haben’s angehört, für sensationell befunden und zur „Platte des Monats“ gemacht. So kann’s manchmal gehen, staunt Plattenmeister Koch

ADAM ANT

ADAM ANT IS THE BLUEBLACK HUSSAR IN MARRYING THE GUNNER’S DAUGHTER

Blueblack Hussar/Alive

Der neuromantische Postpunk-Abenteurer ist zurück und das ist schon aus Prinzip ein Grund zur Freude.

Adam Ant. Adam Ameise. Aber vor allem: „adamant“ – englisch für „hartnäckig“, „unerbittlich“,“unnachgiebig“. Nach über 35-jähriger Karriere lässt sich festhalten: Der Künstlername hat nicht übertrieben. Und was ist das für eine Karriere: Dieser Mann war 1981 gewissermaßen der Vorläufer von Justin Bieber! Er gewann den Goldenen Otto, also die höchste Auszeichnung der „Bravo“. In der Kategorie Band -damals noch mit seiner Horde, den Ants. Diese wie Freizeitpark-Darsteller kostümierten New-Romantic-Piraten, -Ritter, -Edelmänner, Postpunks aus dem Dunstkreis von Malcolm McLaren übrigens, waren damals also die beliebteste Gruppe bei den deutschen Teens. Das sieht in der Rückschau nicht nur ulkig aus, das hört sich vor allem irre an -ein so wunderbar überkandideltes Album wie PRINCE CHARMING rotierte auf den Plattentellern abenteuerlustiger Heranwachsender. Wenn da mal nicht wieder früher alles besser war. Nach Karriere-Ebbe und ernsten psychischen Problemen feiert Ant nach 17 veröffentlichungsfreien Jahren nun sein Comeback. Mit Dreispitz-Mädchen auf dem Cover und einem angemessen verwegenen Albumtitel, der sofort anzeigt: Diese Platte markiert nicht nur die Rückkehr des Musikers Goddard, es kehrt hiermit auch der kostümierte Abenteurer zurück. Allerdings ist dieses Album dermaßen kein Paukenschlag, so gar kein großer Wurf, so dermaßen einfach nur rausgehauen – dass es eine Freude ist. Nein, keine Freude in jedem einzelnen Song: Ein Homedemo-Jam wie „Punkyoungirl“ hinterlässt sogar einen bedenklich wirren Eindruck vom Künstler, fast die Hälfte der Songs kommt nicht recht auf den Punkt, die Produktion ist über weite Strecken billig zu nennen – und dieses „billig“ steht nur mit sehr viel gutem Willen für „charmant“. Und doch ist ADAM ANT IS THE BLUEBLACK HUSSAR … eine Platte, die mit spürbarer Lust aufgenommen wurde. Für die sich niemand irgendwelche strategischen Gedanken gemacht hat, die allen Zeitgeistern schief ins Gesicht grinst. Eine Platte, die einfach gemacht wurde. Und deshalb Spaß macht.

*** Oliver Götz

DEVENDRA BANHART

MALA

Nonesuch/Warner (VÖ: 15.3.)

Psychedelic-Soft-Pop – die Wörtchen „weird“ und „freak“ werden mit diesem Album rechtskräftig aus dem Folk-Vokabular gestrichen.

Erinnert sich noch jemand an Freak Folk oder New Weird Americana? Hübsche Begriffe, die Kritiker Mitte der Nullerjahre für eine Musikrichtung bzw. -bewegung aufgetan hatten, die sich um eine damals deviante Idee von Singer/Songwritertum drehten (und auf Greil Marcus‘ Wortschöpfung „Old Weird Americana“ anspielten, die sich wiederum dem Studium von Harry Smiths ANTHOLOGY OF AMERICAN FOLK MU-SIC verdankte). Devendra Banhart war als Häuptling und Pin-up des Freak Folk ausgemacht worden, auf seinen Platten durfte bald eine wachsende Schar von Freunden und Psych-Folk-Forschern bewundert werden, die, angeführt vom inkommensurablen Wimmern und Winseln des Sängers, die Wonnen des Vereinslebens feierten. Seine Songs konnten vom Sprießen des Bartes, von tanzenden Zähnen und lachenden Zitronenbäumen handeln, sie hielten das Schöne und Wunderliche des Moments unter einem psychedelischen Brennglas fest. Mit dem 2009er-Album WHAT WILL WE BE hatte Banhart sich schon ein Stück weit aus dem selbst gezimmerten Outsider-Universum fortgespielt, mit MALA findet dieser Prozess ein vorläufiges Ende. Das Falsett des schönen Troubadours kringelt sich ganz sanft in zart gestrickte Lieder, die vergessen im Raum schweben oder von Dingen erzählen, die Lichtjahre entfernt sind, plötzlich auf Housebeats davongetragen werden, begleitet von einem Wah-Wah-Wah-Chor, der Andreas Dorau und die Marinas in Erinnerung bringt, gefolgt von einem kruden deutschen Zwischentext: „Als eine flame reist du durch das essentialisierte Universum, inzwischen trinken wir unser Glas des Himmels.“ Mit anderen Worten: Devendra Banhart macht immer noch richtig Spaß, er denkt sich Hildegard von Bingen als VJ, erklärt den Dancefloor zur Domäne der jungen Männer und singt weiter hinten auf der Platte ein wirklich hübsches Come-Home-Lied. Der Mann befindet sich in seiner Softpop-Phase. In den filigran ausgestatteten Songs auf MALA wird der Synthesizer zu einem zuverlässigen Freund, Banhart bewegt sich mit der Leichtigkeit eines Caetano Veloso durch die halbelektronischen Soundräume, die Wörtchen „weird“ und „freak“ sind damit rechtskräftig aus dem Folk-Vokabular gestrichen.

***** Frank Sawatzki

Interview S. 22

KARL BARTOS

OFF THE RECORD

Bureau B/Indigo (VÖ: 15.3.)

Der Ex-Kraftwerker hat Notizen aus alten elektronischen Tagebüchern in vollwertige, manchmal zeitlos schöne Tracks verwandelt, hin und wieder verläuft er sich in Harmlosigkeiten.

So feiert jeder seine Retrospektive. Oder seinen Retrofuturismus, sollte man sagen. Während Kraftwerk in der Hütter+ 3-Besetzung ihre Klassiker in weltberühmten Kunsträumen aufführten, kündigte Karl Bartos (Bandmitglied von 1975 bis 1990) ein Album mit „Rhythmen, Riffs, Hooks, Sounds und Melodien“ an, die in den prägenden Jahren bei Kraftwerk entstanden sind. Aufgelesen aus seinem persönlichen akustischen Tagebuch und nun in vollwertige Tracks verwandelt -Hybriden auf dem weiten Feld zwischen Lost Tapes und aktuellem Sounddesign. An die Kraftwerk-Evergreens reicht das selbstredend nicht heran, es gibt aber Momente auf OFF THE RECORD, die nicht so weit von den Pioniertaten der Düsseldorfer entfernt sind. Wenn’s so locker dahinplinkert wie bei „Hausmusik“, darf man sich an „Tanzmusik“ vom Kraftwerk-Album RALF &FLORIAN erinnert fühlen, die Single „Atomium“ könnte ein Track aus der MENSCH-MASCHINE-Phase sein, leider steht die elegante Klangarchitektur auf einem reichlich klobigen Rhythmus-Fundament. „Ich fahr‘ die ganze Nacht, bis ich bei dir bin, ich hab nachgedacht, das macht doch alles keinen Sinn“, singt Bartos an anderer Stelle und das klingt dann schon wieder wie eine indie-elektronische Reminiszenz an die jüngeren Kollegen von Kreidler. Man muss Bartos zugutehalten, dass er das verlockende Spiel mit der Nostalgie über weite Strecken souverän beherrscht, peinlich wird das trotz Einsatz von Vocoder und Roboter-Stimme nie, und selbst mit dem zeitlos schönen Singen der Synthies kommt kein Rip-off-Verdacht auf. Wenn Ralf Hütter heute eine Platte aufnehmen würde, sie hätte weniger mit den 70er-Jahre-Kraftwerk zu tun als OFF THE RECORD. Er würde aber mit Sicherheit auf harmlose Elektro-Liedchen wie „International Velvet“ und „The Turning Of The World“ verzichten, die Bartos gut und gerne im Giftschrank hätte liegen lassen können.

**** Frank Sawatzki

KRIEG DER STERNE

Die Redaktion bewertet Neuerscheinungen

Oliver Götz

Großartiger Monat. Und die Strokes spielen sich mit ihrer neuen Platte fast noch mit rein in unser Synthiepop-Special. Sehr schön!

Christopher Hunold

My Bloody Valentine klingen so, wie ich sie mir 1991 vorgestellt habe. Die Strokes enttäuschen etwas.

Albert Koch

Ich finde ja MBV sogar noch besser als LOVELESS. Darf ich das, nee, Sakrileg, ne?

Severin Mevissen

MBV schön, The Knife etwas zu nervös – einzig DJ Kozes psychedelischer Rentier-Ritt rührte mich diesen Monat so wirklich an.

Jochen Overbeck

Die Skepsis, die man sich angesichts der ganzen Comebacks zu bewahren versucht, schmilzt bei My Bloody Valentine like ice in the sunshine.

Michael Pilz

#My Bloody Valentine: Ich glaube, ich habe geweint

Stephan Rehm

Mit originellerem Albumtitel hätten My Bloody Valentine die Idee der Perfektion in konkrete Form umgesetzt – und so wohl die Welt zerstört.

Fabian Soethof

My Bloody Valentine waren mir schon im Jugendzimmer eher egal. Heute liefe dort Low. Würde Mutti ohnehin besser gefallen.

Jan Vollmer

Low war spannend. Bis ich gemerkt habe, dass ich denselben Song auf zwei Playern, um eine Sekunde verzögert, abspiele.

Josef Winkler

Hm. Die sensationelle Rückkehr von My Bloody Valentine hätte für meinen Geschmack etwas sensationeller ausfallen können.

BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB

SPECTER AT THE FEAST

Abstract Dragon/Coop/Universal (VÖ: 22.3.)

Die Band aus San Francisco deckt auf ihrem siebten Album ein breites Rock ’n’Roll-Spektrum ab.

Was war das zu Beginn des vorigen Jahrzehnts für eine Aufb ruchsstimmung! In den USA tauchten überall neue Bands auf, die zum Stamm für die Rock-Zukunft werden sollten. Und was ist von ihnen geblieben? Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen ist es für Black Rebel Motorcycle Club gut gelaufen. Sie hatten zwar auch nicht das, was man eine entspannte Zeit nennt, aber immerhin sind sie konstant bei der Sache geblieben und in der glücklichen Lage, schon das siebte Album innerhalb von zwölf Jahren vorzustellen. Es gehört zu den vielfältigsten der Band. „Fire Walker“ ist ein echter Trip, mit dem sich die Band für die folgenden fast 60 Minuten aufwärmt. „Let The Day Begin“ ist eine stürmische Coverversion des Songs von The Call und eine Würdigung an Michael Been, den verstorbenen Sänger von The Call und Vater von Club-Bassist Robert Levon Been. In „Hate The Taste“ klingt nicht nur dem Titel nach eine Vorliebe für The Jesus & Mary Chain durch. Damit beginnt auch klanglich die dreckige Drang-Phase des Albums. In „Rival“ beklagt sich die Band lautstark über mangelnde Konkurrenz, was angesichts der eingangs erwähnten Situation nur allzu verständlich ist.

****1/2 Thomas Weiland

BONOBO

THE NORTH BORDERS

Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 22.3.)

Der Produzent bleibt seinem Downtempo-Stil treu. Erykah Badu findet das gut, sie ist der Stargast.

Nach dem Erfolg mit dem Vorgänger BLACK SANDS hatte man auf eine Richtungsänderung spekuliert. Man war guter Hoffnung, dass es eine Weiterentwicklung geben würde. In dieser Hinsicht wird man nicht völlig enttäuscht. Der Beginn ist vielversprechend. In „First Fires“ und „Emkay“ lässt Bonobo Simon Green durchklingen, dass er mit den Arbeiten von James Blake und Burial vertraut ist. In „Cirrus“ kommt der Beat schnell voran. Und das Engagement von Erykah Badu ist natürlich ein echter Coup. Die Space-Soul-Queen passt brillant zum Vibe des englischen Downtempo-Dons. Probleme bekommt man erst danach. Wenn gewahr wird, dass sich Sturkopf Green doch wieder nicht entscheidend von seiner Linie hat abbringen lassen. Wenn man die kurz und knapp gesampelten Stimmen hört, das Knacken und Klöppeln von Perkussionsinstrumenten und die Einflüsse aus fernöstlicher Folklore. Durch sie wird es auch dieses Mal wieder ein typisches Bonobo-Album. Kein schlechtes, wohlgemerkt, aber eben auch eines, das sich wie eine logische Fortsetzung von dem anhört, was dieser Mann schon auf seinen bisherigen Alben abgeliefert hat. In der Silvesternacht hat er dem Berliner Party-Publikum ordentlich was auf die Ohren gegeben. Warum geht das nicht auch auf Platte?

*** Thomas Weiland

BOSSE

KRANICHE

Vertigo Berlin/Universal

Der Songwriter-Rock von Bosse wird interessanter arrangiert als zuletzt.

„Erzähl mal von dem Schrank, in dem du dich Jahre lang verschanzt hast und von deiner Verlustangst“, singt Axel Bosse in „Familienfest“, während die Streicher so tun, als ob alles paletti sei, da im Schrank. Ein ganz und gar herrlicher Song voller Abgründe aus der eigenen Sippe. Ohnehin speist sich KRANICHE aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Es geht um Nirvana-Shirts und Küsse, um Istanbul, wo Teile des Albums geschrieben wurden, um Mädchen, die so tun, als ob sie 24 wären, obwohl sie 36 sind und die Sonne, die „draußen am Bordstein“ aufgeht. Eins-zu-eins-Songwriting also, manchmal zu klischeehaft, aber musikalisch mithilfe von Martin Wenk (Calexico) und Valeska Steiner (Boy) durchaus angenehm in Szene gesetzt.

*** Jochen Overbeck

BRANDT BRAUER FRICK

MIAMI

!K7/Alive

Die Techno-Klassik-Fusionierer suchen den Weg vom Track zum Song.

Auf dem ersten Album formuliert eine Band ihre Idee, auf dem zweiten wird das Konzept ausdifferenziert und auf dem dritten schließlich stellt sich die Frage: Wo geht’s hin, Freunde? Brandt Brauer Frick beantworten die Frage mit MIAMI eindeutig: Weg vom Track, hin zum Song. Das Berliner Trio, das mit dem Einfall, Technostrukturen mit klassischen Instrumenten nachzustellen, seit drei Jahren Furore macht, hat nicht nur für sieben der zehn Stücke Vokalisten engagiert, sondern sich auch vom Diktat des pumpenden 4/4-Taktes verabschiedet. Selbst Instrumentals wie „Ocean Drive (Schamane)“ wechseln nun mittendrin Stimmung, Harmonie, Lautstärke oder Rhythmus. Durch „Skiffle It Up“ trötet eine Polizeisirene und Jamie Lidell bringt gleich zwei Mal den Soul in den aufgelockerten, aber bisweilen immer noch recht mechanischen Sound. Denn gänzlich geben Brandt Brauer Frick ihre Ursprungsidee nicht auf, dazu war die viel zu gut: Für „Fantasie Mädchen“ darf Gudrun Gut so beständig die einzige Zeile „Fantasiemädchen -du rockst meine Welt“ wiederholen, als müsste die Kraftwerk’sche AUTOBAHN dringend neu asphaltiert werden.

**** Thomas Winkler

THE CAVE SINGERS

NAOMI

Jagjaguwar/Cargo

Die Folk-und Blues-Band aus Seattle nimmt Fahrt in Richtung Pop auf.

Das war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Irgendwo auf den weiten Expeditionen im Hinterland von Folk, Blues und Psych-Rock haben die Cave Singers eine Liebe zu Beats entdeckt, die bislang keinen Platz auf ihren Veröffentlichungen fanden. Nachzuhören direkt im polyrhythmisch pulsierenden Eröffnungsstück „Canopy“, das genauso gut ein Lost Track des Vampire-Weekend-Debüts sein könnte. „Have To Pretend“ klingt wie ein Beach-Boys-Remix mit leichten Afrobeat-Anklängen und perwollweichen „uuuhuhuhuuu“-Chören. Die Band aus Seattle nimmt auf NAOMI Fahrt in Richtung Pop auf und kommt kaum mehr zur Ruhe. Im Inneren der Songs wirbelt es immerzu, außen drauf sind Erinnerungsfotos in leuchtenden Farben geklebt, die von dem Mist erzählen, der einem im Leben so widerfahren kann. Das Beschwerliche und das Tänzelnde finden in dieser Musik ganz wunderbar zueinander, das eine will gar nicht mehr ohne das andere sein. NAOMI steht für diese im Studio von Phil Ek (Fleet Foxes, Built To Spill, Shins) gefundene Symbiose.

**** Frank Sawatzki

CHELSEA LIGHT MOVING

CHELSEA LIGHT MOVING

Matador/Beggars/Indigo

Mit neuer Band tritt Thurston Moore das Rock’n’Roll-Geröll los, das in seiner Erinnerung liegen geblieben war.

Wir denken uns das Dreieck Dylan-Burroughs-Sonic Youth. Holen die Bilder von Bob Dylans Elektroschock-Auftritt in Newport 1965 ins Gedächtnis, tauchen in die Bewusstseinsprotokolle des Beat-Poeten William S. Burroughs ein, erinnern uns der gewaltigen Eruptionen, die Sonic Youth der Postpunk-Gemeinde hinterließen. Diesen stilbildenden Noise-Rock-Aufnahmen war Moore schon lange nicht mehr so nahe wie heute, was daran liegen mag, dass er sich nach Soloplatten und zahlreichen Saiten-Projekten nun wieder zum Band-Konzept bekennt (zu Chelsea Light Moving gehören Bassistin Samara Lubelski, Gitarrist Keith Wood und Drummer John Moloney). Etwas Besseres hätte dem Sonic-Youth-Gründer nicht widerfahren können, im Viererbund löst Moore sich aus den akademischen Fesseln, als könne er jetzt erst das Rock’n’Roll-Geröll lostreten, das so lange in seiner Erinnerung liegen geblieben war. Dieses Album steht nun wie ein Monolith da, ein machtvolles Lebensabschnittswerk, das von Zersetzungs-und Befreiungsvorgängen erzählt, manchmal bleiben ein paar Gitarrensplitter zurück, und des Sängers Stimme setzt sich ganz verknautscht drauf. Thurston Moore hat sich an der ihn prägenden Popkultur abarbeiten müssen und nimmt Dylan, Jagger und den Dichter Frank O’Hara im „Frank O’Hara Hit“ mit.

****1/2 Frank Sawatzki

THE DEADSTOCK 33S

THE PILGRIM’S GHOST

Gomma/Groove Attack

Wer auf dem Dancefloor heutig sein will, bedient sich im Vorvorgestern.

Justin Robertson hat schon in den frühen 90er-Jahren in der Haçienda aufgelegt, später Björk und die Happy Mondays remixt. Er ist also lange genug dabei, um zu wissen: Auf dem Dancefloor ist nichts so alt wie der Sound von gestern. Als neu dagegen gilt: Der Sound von vorvorgestern. Also lässt er auf dem Albumdebüt seiner neuesten Inkarnation The Deadstock 33s die Synthies lustig piepsen, als stammten sie aus den Achtzigern, und die Beats geradeaus bollern, als hätten wir noch die Neunziger. Dann stellt er neben die Instrumental-Tracks noch ein paar Songs, als wären wir Anfang der Nullerjahre. Aber schlussendlich kombiniert Robertson aus Computer-Funk, Italo-Quatsch und Kinder-Pop doch tatsächlich irgendetwas halbwegs Frisches.

***1/2 Thomas Winkler

COHEED AND CAMBRIA

THE AFTERMAN: DESCENSION

V2/Coop/Universal

Erweiterter Metal-Begriff: Coheed And Cambria setzen ihre vertonte Comic-Saga fort.

Es braucht mehr als zwei gesunde Ohren, um vernünftige Popsongs zu verstehen. Das Gesamtwerk von Coheed And Cambria aus New York bleibt ohne Hintergrund und Überbau ein unlösbares Rätsel. Man muss ihre Comics lesen, um die Stücke zu entschlüsseln. Claudio Sanchez zeichnet sie, der erste Gitarrist und Sänger des Quartetts. Die „Amory Wars“, eine verwirrende Science-Fiction-Saga um ein Ehepaar, Coheed und Cambria Kilgannon, sie hüten die Energiequelle, mit denen die Planeten ihres Universums angetrieben werden. Auch THE AFTERMAN: DESCENSION ist der Soundtrack einer grafischen Novelle, die das Album wiederum bebildert. Im vergangenen Herbst erschien bereits THE AFTERMAN: ASCENSION. Jetzt ist die Geschichte rund. Erzählt wird, was vor allem anderen bisher geschah, vom Astronauten Sirius Amory, dem Afterman … aber vielleicht muss man den ganzen Quatsch auch gar nicht kennen und gelesen haben, um Coheed And Cambria würdigen zu können. Sie erweitern den Begriff des Heavy Metal ins Unendliche. Es fängt an mit einer Harfe und mit Sanchez‘ Engelsstimme, kommt über Pink Floyd vom Prog-zum Postrock, zweigt in „Number City“ ab zu Funk und Jazz und landet bei einer Ballade mit dem Titel „Iron Fist“, die klingt wie ein bislang verschollenes Lied von Michael Jackson. Da versteht sich die Musik ganz von allein.

***1/2 Michael Pilz

CRIME & THE CITY SOLUTION

AMERICAN TWILIGHT

Mute/Good To Go (22.3.)

Die Reinkarnation der Westberliner Drogen-Rock-Legende klingt munterer als das Original aus den 80er-Jahren.

Man muss das Westberlin der 80er-Jahre kennen, um Crime & The City Solution zu verstehen. Keine andere Band illustrierte die modisch morbide Mauerstadtstimmung so gekonnt, aber der aus Australien eingewanderte Sänger Simon Bonney kam nie so recht über den Status als Nick-Cave-Ersatz hinaus. Nach zwei Jahrzehnten Pause hat Bonney seine Band in seiner neuen Heimat Chicago reformiert. Es fehlen naturgemäß die verstorbenen Epic Soundtracks am Schlagzeug und Rowland S. Howard an der Gitarre, der von 16-Horsepower-Boss David Eugene Edwards ersetzt wird. Mit dabei aus den Berliner Tagen sind der Einstürzende Neubau Alex Hacke und auch die gepflegt suizidale Grundstimmung. Die allerdings wird nun immer wieder aufgelockert: Durch „My Love Takes Me There“ gondelt eine seltsam gut gelaunte Trompete, und selbst das wundervoll weihevolle „Domina“ schrammt an der sofortigen Selbstentleibung entlang. Diese Auffrischung tut den schwerblütigen Gitarren und Bonneys klagendem Gesang gut, sodass die neue Reinkarnation von Crime & The City Solution zwar nicht zeitgemäß klingt, aber erstaunlich gut konserviert. Das mag allerdings nur daran liegen, dass Bonney und Konsorten schon damals in Westberlin in all ihrer drogenschwangeren Verlebtheit lange vor der Zeit gealtert schienen.

**** Thomas Winkler

DAUGHTER

IF YOU LEAVE

4AD/Beggars/Indigo (VÖ: 15.3.)

Der erste Song heißt „Winter“. Bitte wörtlich nehmen. Mit dem zarten Goth-Pop der Londoner geht die kalte Jahreszeit in die Verlängerung.

Die Tochter heißt in diesem Fall Elena Tonra. Sie hat es zuerst alleine nur mit ihrer Gitarre versucht, was in England offenbar auch wahrgenommen wurde, denn in einigen Branchenpostillen werden Daughter hartnäckig als Indie-Folk-Band angekündigt. Das kann aber nur von Leuten kommen, die sich nicht richtig mit Tonras Trio beschäftigt haben. Der Song, an dem man zuerst hängenbleibt, heißt „Human“. Darin heißt es: „Underneath the skin there’s a human, buried deep within there’s a human, despite everything I’m still human but I think I’m dying here.“ Tatsächlich schrammt Tonra in diesem Fall ungehalten über die Akustische, aber wenn sich die düsteren Andeutungen der Sängerin mit einem Sound vermischen, in dem sich Hall ausbreitet, denkt man mehr an eine Kühltruhe als an einen gemütlichen Folk-Abend mit Freunden. An diesem Sound sind nicht nur Tonra und ihre Bandkollegen Igor Haefeli und Remi Aguilella beteiligt, sondern auch XL-Hausproduzent Rodaidh McDonald, zu dessen Klienten u.a. The xx gehören. Von diesem Input haben Daughter profitiert. Es gibt die Band erst knapp drei Jahre, aber schon im ersten Anlauf arbeitet sie hingebungsvoll an der Ausgestaltung ihrer Idee, vom ersten bis zum letzten Ton. Ist man einmal in der Welt von dieser Band drin, will man nicht mehr raus.

**** Thomas Weiland

DEPECHE MODE

DELTA MACHINE

Columbia/Sony Music (VÖ: 22.3.)

Es fauchen und pulsieren die Maschinen. Imposant klingen tut es ja, das Update 2013 der Synthie-Pop-Dreifaltigkeit …

Was Depeche Mode bislang fast jedem ihrer Alben voranstellten, waren fabelhafte Leadsingles – zuletzt zu SOUNDS OF THE UNIVERSE (2009) das erstaunlich aufwühlende „Wrong“. „Heaven“, der erste Release zum elften Album der Band, muss leider zu den Ausnahmen von dieser Regel gezählt werden. Das Stück trabt als Bluesrockballaden-Standard der DeMo-Schule dem Album allzu gemächlich voraus, mit einer mollnen Akkordfolge kellerwärts, wie sie sich Schülerbands ausdenken, wenn sie mit „Knockin‘ On Heavens Door“-Covern durch sind. Aber wenigstens führte „Heaven“ auch ein wenig in die Irre. Denn DELTA MACHINE ist nicht etwa ein müder Abklatsch des rockenden, gospeligen Selbsterneuerungs-Opus SONGS OF FAITH AND DEVOTION (1993). Die neue Platte hält sich mit Martin Gores Gitarren und allzu großer Erdigkeit sogar betont zurück. Dave Gahan bleibt dafür jedoch breitbeinig in der Preacherund Sinner-Ecke stehen und wird diese Rolle, von der er früher nicht zu träumen gewagt hätte, als er noch mit den Keyboards unschuldige Melodien um die Wette sang, auch niemals freiwillig räumen. Er spielt sie ja auch gut, selbst wenn er es ein wenig übertreibt, jetzt auch noch in die Kopfstimme kippt (ganz abgesehen von dem grundsätzlichen Problem, dass seine Dramatik oft in keinem Verhältnis zu den vorgetragenen Textklischees steht). Allerdings hat Gahan diesmal auch unter einem echten Schicksal zu leiden: Es ist egal, wie er sich bemüht, er wird immer der Co-Star von DELTA MACHINE bleiben. Denn die Hauptrolle gehört den Maschinen. Und damit hält eben doch wieder Gore die Zügel in der Hand, dessen großes Hobby es ja geworden ist, sich ganze Modular-Synthesizer-Wände einzurichten. Wenn man weiß, an welchen Knöpfen dieser analogen Klangerzeuger man drehen muss, faucht und kreischt, pumpt und pulsiert, dröhnt und flirrt es fast noch prächtiger als auf den großen Referenzalben der Siebziger. Gepaart mit dem über die Jahre weiter ausgebauten Talent zum gelungenen Arrangement im Hause Depeche Mode, rettet sich das Album über einige Längen hinweg. Doch spätestens zur zweiten Hälfte, wenn Songs wie „Soft Touch/Raw Nerve“ und „Should Be Higher“ sich aufschwingen zu einigermaßen geraden Synthie-Pop-Nummern, die einem Ahnung von der pathetischen Dringlichkeit der MUSIC FOR THE MASSES-Ära geben und sich dann eben doch nur verhalten können zu dieser, steckt man mit drin im Quark, aus dem DeMo da nicht so richtig kommen. Aber es gibt glücklicherweise auch Songs wie „My Little Universe“: trocken, minimalistisch und intim, nimmt sich vom Techno und den mittleren Radiohead, und weiß gleichzeitig darum, was Depeche Mode auch jenen gegeben hat. Geht doch!

***1/2 Oliver Götz

Titelstory S. 30

THE DESOTO CAUCUS

OFFRAMP RODEO

Glitterhouse/Indigo

„Mainly all kinds of Cosmic American Music“ hätten ihre Americana-Lesart beeinflusst, behaupten die Dänen.

Der Begriff wird inflationär verwendet: „Cosmic American Music“ nannte Gram Parsons einst seinen Mix aus Country, etwas psychedelischem Rock und ein wenig Soul, der die Welt eine Handvoll der großartigsten Alben ever verdankt, allen voran GRIEVOUS ANGEL. Dass Dekaden später Hinz und Kunz daraus ein Genre, Americana genannt, zimmern würden, zudem eines, das man bald nicht mehr hören mochte, konnte der viel zu früh verstorbene Visionär nicht ahnen. Und natürlich erreicht auch OFFRAMP RODEO, das zweite Album des dänischen Quartetts The DeSoto Caucus, kaum je die Grandezza der großen Vorbilder, zu denen man auch The Band und Neil Young zählen muss. Dass Nikolaj Heyman, Anders Pedersen, Thoger T. Lund und Peter Dombernowsky, die schon die Backingband für Howe Gelb, Kurt Wagner, Scout Niblett, Isobel Campbell und Mark Lanegan gaben, dennoch ein feines, klassisches Album gelungen ist, liegt an den großartigen Songs – und daran, dass sie um die Bedeutung von Dynamik wissen und die Kunst der Selbstbeschränkung beherrschen.

**** Peter Felkel

FRIGHTENED RABBIT

PEDESTRIAN VERSE

Warner

Hymnischer Indie-Rock mit Ambitionen für die Coldplay-Liga.

Das Fat-Cat-Label aus Brighton veröffentlichte zu seiner besten Zeit Alben von Sigur Rós und Animal Collective, von David Grubbs und Sylvain Chauveau. Wer sich Fat-Cat-Band nennen durfte, konnte sich also einer gewissen Aufmerksamkeit bei einem gewissen Publikum sicher sein. Das 2006er Frightened-Rabbit-Debüt SING THE GREYS erschien nicht nur auf Fat Cat, es zählte zu den auffälligsten Produktionen im weiten Feld der Rock-Melancholia, und es kam überraschenderweise in Amerika besser als im Vereinigten Königreich an. Drei Alben und sieben Jahre später legen Scott Hutchison und Band ihre erste Major-Veröffentlichung hin. Die leicht getragenen, gerne ins Hymnische drehenden Songs verraten immer noch die Handschrift der Rabbits, werden jetzt aber von größeren Piano-und Keyboard-Soundwellen und einem Sänger getragen, der sich die Seele aus dem Leib heulen darf, und mit bummerndem Schlagzeug auf Kurs gebracht. Mit PE-DESTRIAN VERSE haben Frightened Rabbit einen Schritt nach vorne getan und sich breitgemacht. Die Band meldet Ambitionen für die Coldplay-Liga an. Ob sie einen Fuß in die Türe kriegen wird, lässt dieses Album noch offen.

*** Frank Sawatzki

OLIVER DEUTSCHMANN

OUT OF THE DARK

Vidab/Rough Trade (VÖ: 15.3)

House, nicht zu weich, Techno, richtig schön deep – der DJ und Produzent mit seinem morbiden Debütalbum.

Da backt einer keine kleinen Brötchen. Es zeugt einfach von Stil, wenn Oliver Deutschmann seine Debüt-LP OUT OF THE DARK nennt. Neben seiner Quasi-Residency im Berghain/Panorama Bar betreibt der Berliner nicht nur sein eigenes Label Falkplatz, sondern gemeinsam mit Freund Stephan Hill zusätzlich noch Vidab Records, das neben dem schwedischen Rohdiamanten Tomas Svensson auch Marcel Dettmann als Remixer im Köcher hat. Genug Gründe, um unter dem Radar hervorzukommen, und wenn der Titel zusätzlich noch zur Grundstimmung des Albums passt, noch besser. „Fever“ packt zu Beginn großspurige 80s-Synthies aus, die wie Laserschwerter den Weg ins sich ankündigende Dunkel ausleuchten. Deutschmann mag es deep und straight, mit einem unterkühlten Groove und dem nötigen Schuss Futurismus. Und selbst wenn seine „New World Order“ auf Oldschool-Claps und irrlichternden Texturen fußt, kommen seine Tech-(meets)-House-Narrationen ohne jedwede Cheesyness aus. 4/4-Bekenntnisse, Detroit-Hausaufgaben mit Weitblick gemacht („Die Tiefe“) und Chicago berlinerisch ausgesprochen – OUT OF THE DARK ist abwechslungsreiches Listening, wobei der Floor als Fixpunkt nie aus den Augen verloren wird. Ein stimmiger Erstling mit klarer Kante, Herz und hypnotisierendem Spieltrieb. Kein Wunder, dass Deutschmann sein Studio AudioZoo genannt hat. Grundsympathisch, der Herr.

**** Sebastian Weiß

DIVERSE

NIGHT SLUGS ALLSTARS VOLUME 2

Night Slugs -UK-Import (VÖ: 19.3.)

Eine Rundreise durch den Katalog eines der innovativsten Dance-Labels Englands.

Als im Herbst 2010 die erste Compilation der englischen Talentschmiede Night Slugs erschien, war noch nicht abzusehen, wie stark dieses Label den Dancefloor-Sound der nächsten Jahre mitbestimmen würde. 2013 zählen Produzent wie Kingdom, L-Vis 1990, Bok Bok, Lil Silva und Egyptrixx zu den etablierten Kräften, ohne sich dabei dem Mainstream zu sehr angenähert zu haben. Und das führt dazu, dass Night Slugs und seine Künstler auch im laufenden Jahr noch ein Wörtchen mitzureden haben werden, wohin die Reise in den nächsten Monaten gehen wird. Die zwölf Tracks auf der zweiten Labelcompilation sind jedenfalls frei von Abnutzungserscheinungen, angefangen beim wundervollen Midnight-Stomper „Lost In Love“ von L-Vis 1990, zusammen mit Bok-Bok-Gründer und Betreiber von Night Slugs. Doch nicht nur die beiden Hauptverantwortlichen haben auf diesem Album Gehaltvolles beizusteuern, auch die Tracks von Girl Unit („Ensemble“), Lil Silva („The 3rd“) und Kingdom („Stalker Ha“) zeigen, wie weit die Posse ihren Kollegen noch immer voraus ist, auch wenn alle Beteiligten beileibe nicht den gleichen Ansatz verfolgen. Das beginnt beim innovativen Umgang mit Sounds und Zitaten, siehe „Silo Pass“ von Bok Bok, und hört bei den oft waghalsigen Beat-Konstruktionen (beim „Drum Track“ von Helix) noch lange nicht auf. Night Slugs ist nach wie vor das Maß aller Dinge in Sachen fortschrittlicher Clubsounds.

****1/2 Franz Stengel

DIVERSE

REASON TO BELIEVE – THE SONGS OF TIM HARDIN

Full Time Hobby/Rough Trade

Singer/Songwriter: Kaum einer, der noch nie einen Song von Tim Hardin gecovert hat. Jetzt auch Mark Lanegan, Diagrams, The Magnetic North und Gleichgesinnte.

Glaubt man der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg, hat Tim Hardin deutschlandweit im 21. Jahrhundert knapp 5000 Tonträger verkauft. Für einen Sänger, der seit 32 Jahren tot ist und als Frühverstorbener nie so verklärt wurde wie andere, hört sich das astronomisch an. Gemessen an den Plattenmillionären, die mit seinen Liedern reich und alt wurden, ist es erbärmlich: Hardins „Reason To Believe“ ist für den durchschnittlichen 68er ein Hit von Cher oder Rod Stewart. Auf dem Album REASON TO BELIEVE – THE SONGS OF TIM HARDIN singt es jetzt die junge Liverpooler Sand Band. Sie behandelt den vom Popgeschäft entweihten Klassiker wie eine kostbare Antiquität, mit Mundharmonika, Pedalgitarre und behutsamen Gesängen. „Eulogy For Lenny Bruce“ singt die Nordirin Hannah Peel statt Andy Warhols Muse Nico wie vor 46 Jahren. „Red Balloon“ interpretiert Mark Lanegan naturgemäß vergrübelter als Ricky Nelson früher. Der alternative Pop verneigt sich gern und fürsorglich vor angeblich gering geschätzten und vergessenen Ahnen, aber hätte das Tim Hardin so gewollt? Man weiß es nicht. Man weiß nur, dass er sich zu Lebzeiten nie über gut verkäufliche Versionen seiner Songs beschwert hat. Aber es ist auch sehr schön, wenn Musiker sie aufgreifen, die von der GfK noch nie gehört haben und umgekehrt.

**** Michael Pilz

DJ KOZE

AMYGDALA

Pampa/Rough Trade (VÖ: 22.3.)

Electronica mit der einzigartigen psychedelischen Note von Stefan Kozalla und zahlreichen Gästen von Caribou bis Dirk von Lowtzow.

Freilich ist das nicht ernst gemeint. Zumindest hoffen wir das. Mit dem Satz „AMYGDALA ist Kozes SGT. PEPPER!“ wird der Leser der Presseinformationsschrift zu DJ Kozes aktuellem Album gleich mal auf Spur gebracht. Wenn man das Beatles-Album als Synonym für einen gewissen unschuldigen Größenwahn im Pop ansieht, dann ist der Vergleich zu AMYGDALA vielleicht gar nicht so falsch. Das Album dauert 78 Minuten und ist damit natürlich viel zu lang für die die aktuelle Häppchen-Hörer-Generation. Neun der 13 Tracks haben Feature-Gäste, auch ein guter Hinweis auf den Größenwahn im Pop, darunter Caribou, Apparat, Matthew Dear, Ada, Milosh und einer, der eigene Erfahrungen mit viel zu langen Alben gemacht hat: Dirk von Lowtzow. Es gilt ja die Regel: Je mehr Features, desto weniger Homogenität. Wir nehmen an, dass diese gewisse Minimal-Not-Minimal-Electronica des Albums KOSI COMES AROUND (2005) der Vergangenheit angehört. SGT. PEPPER bedeutet auch eine Art Bestandsaufnahme bisheriger Musiken zu einem Zeitpunkt X, die von den Bestandsaufnehmern ihren eigenen psychedelischen Odem eingehaucht bekommen. Egal, ob Matthew Dear jenseits der Wiedererkennbarkeit singt („Magic Boy“), ob Dirk von Lowtzow bekundet, die Welt „mit deinen Augen“ sehen zu wollen, ob das ursprüngliche Backing aus relativ trockenem Techno besteht – Koze verleiht jedem Track auf AMYGDALA eine einzigartige psychedelische Note. Es ist schön verstrahlter, neben der Spur liegender psychedelischer Electronica-Eklektizismus, der den Zusammenhalt auf diesem Album bringt. Exemplarisch: „Track ID Anyone?“ mit dem Gesang von Dan Snaith (Caribou). AMYGDALA hinterlässt den Hörer mit einem guten Gefühl der Ratlosigkeit. Und über das Cover könnte man auch noch seitenweise parlieren.

**** Albert Koch

„Fotoalbum“ S.26; CD im ME S.19

FUNCTION

INCUBATION

OstGut Ton/Kompakt

Techno, irgendwo zwischen oldschooligen Synthesizer-Arpeggios und dem Sci-Fi-Musikverständnis der Electronic-Listening-Acts der 90er-Jahre.

Dave Sumner war Teil des New Yorker Techno-Labels Sandwell District, das im Frühjahr vergangenen Jahres zu Grabe getragen wurde. Im circa 20. Jahr seiner Produzententätigkeit kommt Sumner jetzt mit seinem Debütalbum unter dem Namen Function. INCUBATION positioniert sich irgendwo zwischen oldschooligen Synthesizer-Arpeggios, dem Sci-Fi-Musikverständnis der Electronic-Listening-Acts aus den Neunzigern und einem ziemlich trockenen Minimal-Techno, den man wohl immer noch zeitgemäß nennen muss. Manchmal schwingt sich die Musik Sumners in pastorale Höhen auf, manchmal wiederum reicht ihr ein mikroskopisch kleines Vocal-Sample („Modifier“), um die Spannung in einem Track über die gesamte Laufzeit aufrechtzuerhalten. All diese musikalischen Entwürfe verbindet allerdings eine ganz eigene sonische Sprache, in der der Analogsynthesizer in all seinen Facetten im Mittelpunkt steht.

**** Albert Koch

JOHN GRANT

PALE GREEN GHOSTS

Bella Union/Coop/Universal (VÖ: 19.3.)

Are Songwriters electric? Lieder zur Synthiebegleitung markieren den nächsten Soundsprung des Ex-Czars.

Man müsste Anhängern der längst verblichenen Band The Czars Stücke dieses Albums mal im Rahmen eines „Blind Date“ vorspielen. Wetten, dass auch ein paar Die-Hard-Fans den ehemaligen Czars-Sänger in diesem weithin neu vermessenen Kontext nicht mehr wiedererkennen würden? Vom gedämpften Folkrock der Czars bis hin zum opulent instrumentierten und bis in die Haarspitzen motivierten 80er-Jahre-Disco-Funk und Synthie-Pop, die Teile dieses Albums erobert haben, ist es nun mal kein Katzensprung. Wie weit er sich von seinen Ursprüngen fortbewegen mochte, dokumentierte Grant bereits auf dem mit der Band Midlake kongenial aufgezeichneten Solodebüt QUEEN OF DENMARK, das wie eine Eins im Morast der Gefühle und im MOR der Seventies stand. Hatte Grant auf DENMARK noch seiner Wut Luft gemacht („Jesus Hates Faggots“), schreitet er heute auf einem Track mit Grußadresse „Ernest Borgnine“(angeblich schwulenfeindlicher Hollywoodstar, den’s 2012 dahinraffte) ganz gemessen den Parcours der Verletzungen und Bedeutungen ab, die das Leben so mit sich bringt, wenn man schwul und HIV-positiv ist. Synthie-Pop darf man hier mit „Lieder zur Synthiebegleitung“ übersetzen, Grant hat weniger die Rolle des Songwriters als dessen angestammtes Soundterrain verlassen, die (analoge) Elektronik ist der Freund, der den galligen Worten des Songwriters so gerne zuhört und Sinead O’Connor die Sirene im Background, die auch niemanden mehr stört. In der Ballade „GMF“ zieht plötzlich eine Synthie-Melodie am Firmament auf, die Grant mit freundlicher Genehmigung von Gary Numan (mehr „Cars“ als „Are Friends Electric?“) geborgt haben muss, dazu die bislang lakonisch-witzigste Zeile, die ein Popsong 2013 abgeworfen hat: „I am the greatest motherfucker that you ever gonna meet“. Und Grant singt das, als wolle er dem gottgleichen Scott Walker Konkurrenz machen.

***** Frank Sawatzki

Story S. 16; CD im ME S. 19

HERRENMAGAZIN

DAS ERGEBNIS WÄRE STILLE

Delikatess/Broken Silence (VÖ: 15.3.)

Geglückte Reifeprüfung im dritten Jahrgang der Hamburger Schule.

Um ein mögliches Missverständnis gleich mal auszuräumen: Herrenmagazin sind keine Rainer-Brüderle-Gedächtnisband. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass sich die Hamburger 2004 gründeten, DAS ERLEBNIS WÄRE STILLE ihr bereits drittes Album ist und Herrenwitze ihnen sowieso fern liegen. Das kann man schon auf dem Cover erkennen, auf dem eben keine Hotelbar abgebildet ist, sondern ein Kinderspielplatz. An dessen Rand, das darf man vermuten, sitzen die Protagonisten der Songs auf einer Bank und sehen dem eigenen Nachwuchs, der noch Träume haben darf, beim Toben zu. Herrenmagazin schicken Nachrichten von Menschen, die plötzlich merken, dass sich das Erwachsenwerden doch nicht ewig aufschieben lässt. Sie singen zwar noch vom morgendlichen Kater, aber der ist nur mehr Katalysator für frustrierende Erkenntnisse. Denn vor allem singen sie von Gesprächen, die zu Stein werden, vom Stolz, der taub macht, und von den Triumphen, die schal geworden sind. Sie singen von den Wahrheiten, die auf Distanz gehalten werden, und dem Mist, den der Mensch hinterlässt. Das tun sie über schlichtem, aber effektivem Gitarrenpop mit zum Teil solch umwerfend eingängigen Melodien, dass der Einser-Abschluss im dritten Jahrgang der Hamburger Schule gesichert sein sollte.

**** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

RODNEY HUNTER

HUNTER EXPRESS

Hunter Recordings/Intergroove (VÖ: 22.3.)

Downbeat: Dem dritten Album des Wieners fehlen die zündenden Ideen.

Wie die Zeit vergeht. Vor neun Jahren veröffentlichte der Produzent aus Wien, der maßgeblich zum Ruf der österreichischen Hauptstadt als Downbeat-Metropole beitrug, mit HUNTER FILES sein erstes Solo-Album. Der Nachfolger, HUNTERVILLE (2007), war zwar musikalisch nicht viel schlechter, hatte aber damals trotzdem bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit erlangt, die er verdient gehabt hätte. Auf HUNTER EXPRESS erweist sich Rodney Hunter erneut als äußerst vielseitiger Produzent und Songwriter, der sich wenig bis gar nicht um die aktuellen Hypes kümmert, die heute die Musikszene in Wallung versetzen. Diese Haltung hat sowohl Vor-und Nachteile. Die 13 Songs klingen zeitlos, mit einem kleinen klanglichen Fingerzeig in Richtung 80er-und frühe 90er-Jahre. So perfekt produziert Stücke wie das zusammen mit Ola Egbowon eingespielte „Let Your Body Loose“ und „Sunshine“, das mit Unterstützung von Jay Sebag entstanden ist, auch sind, ein wenig fehlt ihnen die Frische und Unbekümmertheit früherer Werke. Rodney Hunter scheut in seinem bewährten Klanguniversum zwischen Funk, Soul, Boogie, R’n’B und Dancefloor einfach das Risiko, auch mal etwas falsch zu machen. Und so bewegen sich alle Nummern auf einem qualitativ hohen Niveau, ohne wirklich zu begeistern. Viele Stücke -wie etwa „Stringway“ und „Metamorphosis“, das Hunter zusammen mit den Stereo MCs eingespielt hat -, plätschern gefällig vor sich hin, ohne Höhepunkte. Und das ist schade.

*** Franz Stengel

HURTS

EXILE

Four Music/Sony Music

Ist das noch Musik? Oder schon Schlager? Mit ihrem zweiten Album stehen Hurts knietief im Schmalz.

Heino kommt uns näher, Hurts entfernen sich von uns mit ihrem zweiten Album. EXILE ist eine Empfehlung für das deutsche Samstagabendfernsehen in zwölf Elektroschlagern. Theo Hutchcraft wird bei Markus Lanz und Carmen Nebel als Max Raabe der gepflegten 80er-Jahre-Nostalgie auftreten. Adam Anderson wird sich im Neonlicht am Synthesizer festhalten, wenn die Regie „Somebody To Die For“ einspielt. Oder „Sandman“: Dann werden sich alle freuen über diese lustigen Sounds, die man vom „Gangnam Style“ und David Guetta kennt, über den Kinderchor und den gepfiffenen Kehrreim. Oder „Blind“, das jeder irgendwo schon mal gehört hat, bei Take That vielleicht, wie „Cupid“ und „The Road“ bei Depeche Mode. Bei „Only You“ kann gleich die ganze Leipziger Messehalle mitsingen: „The first cut is the deepest.“ Vielleicht war schon HAPPINESS ein Irrtum mit seinen zwei Lebenshilfehymnen. Warum wurden Hurts daheim in Manchester nie so gefeiert wie in Deutschland und in Osteuropa? Ihren ersten Auftritt hatten sie im Friedrichstadtpalast, dem Schlagertempel von Berlin: zwei echte Engländer vom Arbeitsamt, die unter öffentlicher Anteilnahme und in Maßanzügen etwas Ordentliches aus sich machten. Wo hört Popmusik auf, und wo fängt der Schlager an? Ästhetisch schwer zu sagen. Ironie ist auch im Volkstümlichen längst daheim wie Synthie-Pop und Dubstep. Und doch kann es jeder hören, wenn er will, bei Unheilig so deutlich wie bei Hurts: Es sind die Floskeln, die ihrer Begleitmusik nichts weiter abverlangen als pathetische Klischees. Auf EXILE gibt es jetzt auch Stadionrock-Gitarren. Hölle, Hölle, Hölle.

* Michael Pilz

Interview ME 3/2013

ISBELLS

STOALIN

Zeal Records/Cargo

Der Belgier Gaëtan Vandewoude meldet mit diesen zehn Songs Ansprüche auf einen Platz in der ersten Liga aktueller Singer/Songwriter an.

Womöglich muss man kein begnadeter Sänger oder Instrumentalist sein, um ein herausragendes Album zu machen. Für einen solchen hält der Belgier Gaëtan Vandewoude sich denn auch nicht. Was er auf den zehn Songs auf STOALIN, seinem zweiten Album unter dem Namen Isbells, aber zeigt, ist aller Ehren wert. Das reicht von akustischen Ausflügen in die Geisterreiche der Americana bis hin zu kleinen Meisterstücken im Verschachteln von Vokalsätzen. In jedem Moment darf diese Musik wie selbstvergessen fließen. „Heading For The Newborn“ ist ein extrem hübscher Westcoast-Swinger geworden , „Heart Attacks“ geht mehr ins Jazzig-Perkussive, „Falling In And Out“ direkt im Anschluss steht in der Tradition des klassischen amerikanischen Folksongs und erinnert an die spartanischeren Songs von Bon Iver. Es darf aber auch eine Nummer größer sein. Flankiert von Trompete, Chor und Handclaps shuffelt sich der Belgier mit „Elation“ in die Nähe des Pop. Dort ist auch noch ein Platz für ihn frei. Erst einmal meldet Vandewoude mit STOALIN Ansprüche auf einen Platz in der ersten Liga aktueller Singer/Songwriter an.

***** Frank Sawatzki

JEANS TEAM

DAS IST ALKOMERZ

Staatsakt/Rough Trade (VÖ: 22.3.)

Scheißdraufpop und Polkatechno von der Sozialistischen Einheizparty – die Berliner scheitern mit hintersinnig gemeinten Bierzeltbumms kläglich.

Ist das alles nur ein Witz, oder sind das die letzten Zuckungen einer am Wahnsinn der Welt gespiegelten Spaßkultur? Das Berliner Label Staatsakt lehnt sich mal eben weit aus dem Fenster und bewirbt die aktuelle Single des Duos Jeans Team als „großen Pop im Sinne Andreas Doraus“.“Menschen“, so der Titel des Songs, gipfelt in dem Refrain „Menschen sind zum Träumen da, trallali und trallala“, Jeans Team spielen einen Polkaschlager mit Billig-Keyboards aus der Mottenkiste der Unterhaltung. Dorau dürfte sich für die neuen Label-Kollegen erst mal fremdschämen, solch eine Nullnummer hat er in seiner erratischen Karriere noch nicht produziert. Jeans Team sind auch schon über 15 Jahre im Elektro-Pop unterwegs, mit spartanischen Geniestreichen wie „Keine Melodien“ (2000) haben sie reichlich Eindruck hinterlassen. Damals brauchten Jeans Team noch keine Melodien, die schaufeln sie heute kübelweise über ihre Trivialtechnotracks und Scheißdraufpopsongs: „Hallo, ich bin der Dieter und ich mache heute blau, zusammen mit Roswitha, denn das ist meine Frau“. Und weiter geht’s: „Ein kleines Bomberjäckchen, das sieht gut aus“. Wie finden Sie das? „An der Kasse bei Real, da steht eine Oma, kauft sich glaub ich einen Aal, mit viel Aroma“ zur Melodie von „Eviva España“. Jeans Team schauen in die traurige Banalität des Alltags und kontern dieselbe mit Polkafrohsinn und Bierzeltbumms. Die Idee ist dürftig, die Ausführung jämmerlich. Für ALKOMERZ wurde gleich noch eine Etikette gefunden: Prekäre Volksmusik soll das sein, viele Grüße von der sozialistischen Einheizparty. Es ist ein plärrendes Stück Hilflosigkeit, das allenfalls etwas erzählt von den letzten aufmerksamkeitsökonomischen Entwicklungen im Pop, bzw. in der Hauptstadt, wo das Ende der Spaßspirale nach den letzten Schwabenstreichen noch nicht erreicht scheint.

*1/2 Frank Sawatzki

LAPALUX

NOSTALCHIC

Brainfeeder/Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 24.3.)

Gehobenes Easy Listening, Instrumental-HipHop und experimentelle Ambitionen: Der Brite Lapalux füttert das Brainfeeder-Label mit dem, was es braucht.

Nach zwei länglichen EPs im vergangenen Jahr nun das LP-Debüt des 25-jährigen Produzenten Stuart Howard aka Lapalux auf dem Brainfeeder-Label. Wieso Lapalux als einziger Brite seine Musik auf dem Label von Flying Lotus veröffentlicht, ist schnell erklärt. Es ist die Seelenverwandtschaft zwischen Labelchef und seinem aktuellen Signing. Zwischen gehobenem Easy Listening, Instrumental-HipHop und experimentellen Ambitionen, zwischen jazzy Infusionen und Bass-Musik-Referenzen, zerdehnten, ausgefransten Beats und verfremdeten Vocals ist alles dabei auf NOSTALCHIC. Lapalux ist ein weiterer großer Pop-Dekonstrukteur auf Brainfeeder, der Fragmente aus allen möglichen Quellen zu einem einzigartigen Patchwork zusammenfügt – er wirkt wie der kleine Bruder von Flying Lotus. Die Nostalgie, auf die Lapalux im Albumtitel anspielt, bleibt codiert, wahrscheinlich auf das Samplematerial beschränkt. Der Chic ergibt sich aus der Umdeutung von Pop in Avantgarde.

****1/2 Albert Koch

THE KNIFE

SHAKING THE HABITUAL

Rabid/Coop/Universal (VÖ: 5.4.)

Sieben Jahre nach ihrem letzten „richtigen“ Album kommen The Knife mit einem fordernden und überlangen Techno-Exorzismus zurück.

Wenige Alben-Ankündigungen haben Blogosphäre und Musikgelehrte 2013 so in Alarmbereitschaft versetzt, wie die von SHAKING THE HABITUAL, dem fünften Studioalbum des schwedischen Duos The Knife. Natürlich hat man in der Zwischenzeit nicht auf Musik der beiden verzichten müssen. Das Solo-Album von Karin Dreijer Andersson als Fever Ray war mystischer und spannender Elektro-Pop, während ihr Bruder Olof unter seinem Alias Oni Ayhun diverse 12-Inches mit kaltem, experimentellen Acid-Techno veröffentlichte. Gerade die Einflüsse von Letzterem sind unüberhörbar auf dem neuen gemeinsamen Album. Die Beats sind forscher, weniger vertrackt als auf der komplett wahnsinnigen Single „Full Of Fire“, die fast zehn Minuten lang die Dämonen aus dem Ohr jagt. Solche Längen sind auf SHAKING THE HABITUAL keine Seltenheit; irgendwo müssen die 96 Minuten Spielzeit ja herkommen. Während viele Alben sich wieder auf die Kürze besinnen, werden die Tracks hier so lange durchgezogen, bis nichts mehr geht. Das ist oft sehr erfreulich. Zum Beispiel auf dem zappeligen Hochgeschwindigkeits-Fast-Instrumental „Networking“, das über einen unruhigen Techno-Beat nur auf die zerfetzte Stimme von Karin setzt. Oder beim orientalischen Beat-Mindfuck „Without You My Life Would Be Boring“. Leider ist die Platte als Ganzes schwer verdaulich. Die ausufernden, gerne 20-minütigen Drone-Exkurse, in denen entweder außer nervösem Tippeln und stetem Hintergrundnoise nicht viel passiert oder der Sound leider komplett nervt, lassen das Album eher zu einer Art Enzyklopädie werden. Die liest man ja auch nicht am Stück, sondern schaut immer wieder hinein.

***1/2 Christopher Hunold

Story S. 44

LOW

THE INVISIBLE WAY

Sub Pop/Cargo (VÖ: 22.3.)

Das zehnte Album im 20. Jahr der Slow-Mo-Folk-Band aus Minnesota.

Wir feiern 20 Jahre Low, und eine Outsider-Musik, die seit zwei Jahrzehnten gemächlich in einem Seitenarm des Hauptstroms vorantreibt. Damals hatten Alan Sparhawk, Mimi Parker und (noch) John Nichols bewusst einen Kontrapunkt gesetzt zu der Musik von Männern mit komischen Bärten und komischen kurzen Hosen. Heute, da der Begriff „Dream Pop“ die ein oder andere Redefinition hinter sich hat, darf man Low gerne als Vorreiter feiern, aber auch als eine Band, die trotz der soundästhetischen Verwandtschaft zu Folk/Country nie im Begriff war, sich von einem studienrätischen, piefigen Americana-Publikum vereinnahmen zu lassen. Gerade in den vergangenen zehn Jahren verfügte das Trio aus Duluth über das, was man „einen Lauf“ nennt. Draußen stehen sie immer noch, machen mal größere – THE GREAT DESTROYER (2005), DRUMS AND GUNS (2007) – mal kleinere Alben – C’MON (2011) -, mal minimalistischere, mal opulentere Songs, Stimmungslage: zwischen grau und schwarz. THE INVISIBLE WAY, produziert von Wilcos Jeff Tweedy, ist ein großes, kleines Low-Album mit minimalistischen, opulenten Songs. Es ist der große Auftritt von Mimi Parker, deren klare Stimme Liedern wie „Holy Ghost“ und „Just Make It Stop“ ein hübsches Brit-Folk-Flair verleiht.

****1/2 Albert Koch

STEVE MASON

MONKEY MINDS IN THE DEVIL’S TIME

Double Six/Domino/Good To Go

Der Ex-Sänger der Beta Band findet zu der Klasse zurück, für die man ihn schon im Post-Britpop bewundert hat.

„Is there a lot of love in me, I just don’t know“, singt er melancholisch. Darauf folgt ein mit Dub-Reggae versetztes Loblied auf den tödlich verunglückten Formel-1-Fahrer Ayrton Senna. Wieder ein Stück weiter erzählt Mason davon, dass jemand einsam und allein auf seinem Bett liegt, bis ein Gospelchor etwas Licht in die Angelegenheit bringt. Der unzweifelhaft talentierte und immer unter Wert gehandelte Schotte ist kein Unbekannter auf der dunklen Seite des Lebens. Depressionen und Suizidgedanken haben ihn seit dem Ende der Beta Band immer wieder begleitet. Auf diesem Album geht er der Sache einige Male auf den Grund, sucht den Auslöser in seiner Kindheit wie in einer therapeutischen Sitzung. Zu tief in den Frust vergräbt er sich zum Glück nicht. „Oh my Lord, forgive me“, fleht er zu Beginn der zweiten Hälfte. Wegen der an Primal Screams „Movin‘ On Up“ angelehnten Melodie vergibt man ihm sofort. Zum Schluss legt Mason den Fokus auf die Welt, die er vor seiner Haustür vorfindet. Mit „More Money, More Fire“ beginnt der Part des Albums, der sich wie ein politisches Manifest anfühlt. Gast-Rapper MC Mysto übernimmt die Führung und denkt über die Tage nach, als in Britanniens Städten die Häuser brannten. Die Lösung des Problems verrät Mason in „Fight Them Back“. Manchmal gehe es nur mit Fäusten, Stiefeln oder Baseballschlägern, findet er. Ein brutaler Vorschlag für einen so sensiblen Künstler. Aber auch einer, der sagt: Ich bin wieder da.

****1/2 Thomas Weiland

MATISYAHU

SPARK SEEKER

Greensleeves/Groove Attack

Kunterbunte musikalische Wundertüte, der einige Male definitiv der richtige Geschmacksverstärker fehlt.

Die Zeiten, in denen Matthew Paul Miller alias Matisyahu als Speerspitze der Global-Groove-Szene herumgereicht wurde, sind lange vorbei. An seiner multikulturellen musikalischen Ausrichtung hat sich bis heute nicht das Geringste geändert. Im Gegenteil, auf SPARK SEEKER, seinem vierten Album, spielt er so befreit auf wie seit Jahren nicht mehr. So eingängig und beschwingt wie in „Sunshine“ präsentierte sich Matisyahu schon eine ganze Weile nicht mehr. Die Mixtur aus Reggae-, HipHop-, Pop-, Folk- und Rock-Elementen funktioniert immer noch erstaunlich gut. Zu den schwächeren Titeln zählen erstaunlicherweise „Buffalo Soldier“ und „Fire Of Freedom“, in denen Matisyahu seine Worldmusic- und Reggae-Roots besonders betont. Die Songs klingen im Vergleich zum Rest des Materials seltsam altbacken. Am überzeugendsten präsentiert sich der Musiker, der zusammen mit Produzent Kool Kojak (Nicki Minaj, Travis Barker) an der Platte arbeitete, immer dann, wenn er sich auf seine poppige Seite konzentriert wie etwa bei „Live Like A Warrior“. Doch solche Highlights können Ausfälle wie „Shine On You“ nur bedingt vergessen machen.

*** Franz Stengel

ME

EVEN THE ODD ONES OUT

Lizard King Media/Rough Trade

Dem Art-Rock der Australier fehlt ein bisschen Humor.

Sensibilität ist nicht die größte Stärke des australischen Volkes. Auch den aus Melbourne stammenden ME fehlt es ein wenig an Pietät. Statt die Toten ruhen zu lassen, versuchen sie, Freddie Mercury wiederzubeleben. Auf ihrem Debütalbum EVEN THE ODD ONES OUT zitieren ME hemmungslos David Bowie, die Beatles, Led Zeppelin und Pink Floyd, aber vor allem Queen. Da bricht fröhlich der Rhythmus, imitiert die Gitarre andächtig eine Kirchenorgel und jubilieren die Chöre, als wäre Bach unter die Rocker gefallen. Vor allem das mächtig anstrengende „Working Life“ möchte, wenn es einmal ein richtig erwachsener Song ist, am liebsten „Bohemian Rhapsody“ sein. Doch bis es so weit kommen könnte, müsste Sänger Luke Ferris wohl noch ein paar Semester am Konservatorium belegen. Vor allem aber müssten ME nicht nur Strukturen und Klangbild des Art-Rock nachstellen, was ihnen allerdings -das muss man zugegeben – mit großer Hingabe und einem gewissen Talent gelingt, sondern auch den Humor adaptieren, mit dem Queen ihre bisweilen arg prätentiösen Schwurbeleien wieder zurück in den Pop holten.

***1/2 Thomas Winkler

CD im ME S. 19

THE MEN

NEW MOON

Sacred Bones/Cargo

Klassik-Rock-Radio – neu eingespielt.

Mit solch einem Bandnamen wird man zwar nicht zum Klickmonster, aber so was wie dieses seltsame Internet ist The Men eh viel zu neumodisch. Für ihr viertes Album NEW MOON zog das Quartett aus dem heimischen Brooklyn in ein Studio in den Catskill Mountains, weil dort mit „technischen Limitationen“ zu rechnen war. Dermaßen eingeschränkt sind Songs entstanden, die sich streng am popmusikalischen Wissensstand von vor 40 Jahren orientieren. Der „Bird Song“ scheint aus dem Fundus von The Band zu stammen, „I Saw Her Face“ haben Big Star auf dem Studioboden vergessen, „Supermoon“ ist nur deshalb nicht schon auf einer Led-Zeppelin-Platte erschienen, weil Jimmy Page beim Gitarrensolo nicht seinen allerbesten Tag erwischt hatte, und „The Seeds“ heißt nicht nur so, sondern könnte tatsächlich dereinst in der Garage von Sky Saxon entstanden sein. Das ganze Album klingt deshalb folgerichtig wie eine dieser Compilations, für die zu nachtschlafender Zeit auf Spartensendern geworben wird: Das Beste aus den späten Sixties und frühen Seventies auf nur einer CD!!! Die unsterblichen Hits Ihrer Jugend!!! Das goldene Zeitalter der Rockmusik!!! Und zumindest das grandiose „Half Angel Half Light“ hat solch eine Jubelarie tatsächlich verdient.

*** Thomas Winkler

MOGWAI

LES REVENANTS

Rock Action/PIAS/Rough Trade

Mogwai liefern den brillanten Soundtrack zur französischen Horror-Serie.

Seit einigen Jahren beweisen Mogwai, dass sie mehr als nur Meister der Gratwanderung zwischen laut und leise, Inferno und Introspektion sind. Zum Repertoire der Post-Rocker gehören auch Soundtrackarbeiten -die famose Untermalung der Sportdokumentation ZIDANE: A 21ST CENTURY PORTRAIT, das Drama THE FOUNTAIN. Nun also LES REVENANTS (Geister), eine neue französische Serie, die auf dem gleichnamigen Film (der englische Titel lautet „They Came Back“) von 2004 basiert. In dem Zombie-Horror-Streifen kommen die Untoten nicht zurück, um ihre ehemaligen Mitmenschen zu verspeisen, sondern friedlich einen Platz in deren sozialer Mitte zu finden. Die Bilder dazu untermalen die Schotten mit einem Soundtrack, in dem die Keyboards eine tragende Rolle spielen. Geisterhaft klingt das manchmal und erinnert wie in „Fridge Magic“ an John Carpenter und Ennio Morricone. Streicher tauchen wie in „Kill Jester“ und „Modern“ auf, wuchtige Drums und ein Cello dominieren den Opener „Hungry Face“, aber nur ganz selten türmen sich die langsam fließenden Soundscapes und epischen Klangflächen zu einem Breitwandsound auf. Völlig aus dem Rahmen fällt die Coverversion „What Are They Doing In Heaven Today?“ aus der Feder des 1880 geborenen Gospelsängers Washington Phillips. Mogwai spielen also einen richtigen Song mit akustischer Gitarre, ohne vernuschelten Gesang und sinnentleerten Text, mit richtigen Strophen. Und auch das Road-Movie-taugliche „Eagle Tax“ zeigt eine neue Seite der Band. Was mag da noch kommen von den fünf Männern aus Glasgow?

****1/2 Sven Niechziol

LEE „SCRATCH“ PERRY& ERM

HUMANICITY

Rubis Management/Broken Silence

Reggae-und Dub-Hoheit Perry begibt sich mit zwei französischen Produzenten in die vierte Dimension.

Legenden sieht man so einiges nach. Dass sie alberne gelbe Perücken tragen, rückwärts über die Straße laufen und mit einem Hammer auf den Boden schlagen, Steine und Kreditkarten sammeln, Signale von außerirdischen Truppen empfangen und die eigene Tochter zur Reinkarnation der Königin von Saba erklären. Die Vita von Lee „Scratch“ Perry wird jedes Jahr um ein paar bizarre Anekdoten reicher. Die Veröffentlichungen des Reggae-und Dub-Innovators konnten da zuletzt nicht mehr ganz mithalten, sie verblassten schnell vor allem vor dem Hintergrund der Wiederveröffentlichungen aus Perrys Voodoo-Echokammern der 70er-Jahre. „I don’t look back“ signalisiert Perry dem Publikum in einem Track auf HUMANICITY, und so ganz muss man ihm das nicht glauben, die Bassline in „4th Dimension“ erinnert doch an den epochalen „Blackboard Jungle Dub“, und für einen Seitenhieb auf Bob Marley schaut er aus der vierten Dimension auf die Blütezeiten zurück: „Reggae didn’t come from Trench Town. Bob Marley lied that’s why Bob Marley died“. Diesmal hat Perry mit dem französischen Produzententeam ERM aufgenommen, das zuvor Adrian Sherwood bei einem Bim-Sherman-Tribute assistierte. Sherwood wiederum zählt zu den Leuten, die Perry schon vor Jahren in die nächste Dimension produzierten, mit der Technologie der 80er-und 90er-Jahre. Damit schließt sich ein Kreis, in dem europäische Traditionspfleger das Hohelied auf die extraterrestrische Reggae-Hoheit Perry mit den Beats und Bässen aus dem Reggae-Labor singen. Das reicht bei ERM bis zu einem seltsamen Drum’n’Bass-Reggae-Hybriden und einem Blues-Gitarrenriff. Perry selber brabbelt sich gerne einmal um den Verstand und lässt die Fangemeinde mit einer neuen Standortbestimmung zurück: „Im the number one in the bathroom“.

**** Frank Sawatzki

KATE NASH

GIRL TALK

Fontana/Universal

Growing up in Rock: Die Britin distanziert sich von ihrer Quietsch-Pop-Vergangenheit mit einer All-Girl-Band.

Hier gilt die Elch-Regel: Die größten Kritiker des Quietsch-Pop waren früher selber Quietsch-Popper. Im Jahr 2007 schickte die 20-jährige Kate Nash ein paar becircende Cockney-Hits in die Welt hinaus, gepflastert mit Beschwerden über Boyfriends und ein paar schlauen Zeilen über das Leben als Teenager. Ihre Musik wurde einmal treffend als „Sugababes minus Sugar“ beschrieben. Die erste Platte von Kate Nash, MADE OF BRICKS, war in ihrer Überdrehtheit richtig toll, auf gleicher Augenhöhe mit Lily Allens Debütalbum ALRIGHT, STILL, das ein Jahr vorher veröffentlicht wurde. MADE OF BRICKS war eine auf den Punkt gesungene und produzierte Melange aus Motown, HipHop, Drum’n’Bass und etwas Synthesizer-Lärm. Zwei Longplayer später meldet sich das Ex-Girlie aus dem Norden Londons mit einem eher altersmilden „Fuck The Rules“ zurück, oder besser einem „Fuck The Past“. Kate Nash spielt die Rocksongs, die sie damals noch in die Tonne getreten hätte, darunter eine Uptempo-Nummer namens „Fri-end?“, die entfernt an die Girl-Groups aus den 90er-Jahren erinnert, aufgenommen mit ihrer neuen All-Girl-Band. Riot-Grrrl-Vergleiche mag man dann aber doch nicht ziehen, dafür sind die von Chören aufgehellten Songs eine Idee zu zahm geraten, woran auch die eine oder andere Gitarrenbreitseite nichts ändern kann. Mit dem „Rap For Rejection“ deutet die Sängerin und Liedautorin dann doch einmal ihre Pop-Qualitäten an. Kate Nash hat zuletzt den „Rock’n’Roll For Girls After School Club“ eingerichtet, sie besuchte Schulen im ganzen Land und interviewte Mädchen zu ihren Zukunftsvorstellungen und Ängsten. GIRL TALK ist die Fortsetzung dieser Rock’n’Roll-Sozialarbeit mit den Mitteln von – sagen wir – Liz Phair. Teenager darf man vor GIRL TALK warnen: Es ist die Platte eurer coolen Tante, die es gut mit euch meint.

**1/2 Frank Sawatzki

NIGHT WORKS

URBAN HEAT ISLAND

Loose Lips/Coop/Universal (VÖ: 22.3.)

Nach seinem Ausstieg bei Metronomy und der Überbrückungsbeschäftigung Your Twenties sucht Gabriel Stebbing Halt bei Synthie-Pop, Soft-Rock und 80er-Jahre-Soul.

Keine Ahnung, was Gabriel Stebbing jetzt darüber denkt. Ob es wirklich eine gute Idee war, Metronomy nach NIGHTS OUT zu verlassen. Die Band hat nach seinem Ausstieg einen ordentlichen Sprung gemacht. Egal, der Multiinstrumentalist macht jetzt alles alleine und fühlt sich weiter zur Nacht hingezogen. Nicht in der Art, wie man es vermuten würde. Stebbing hat sich nicht in einen Dance-Produzenten verwandelt. Jedenfalls nicht in einen, der mit Gewalt Stoff für die Tanzfläche der Gegenwart produziert. Er hat Feineres im Sinn. Seine Grooves legt er so an, dass die Pop-Qualität der Songs nicht ausgehebelt wird. Die Basslines gleiten gefühlvoll und werden selbst dann nicht künstlich überbetont, wenn in „Share The Weather“ ein Rap hinzukommt. Man soll auch hören, wie gerne Stebbing in die Guilty-Pleasures-Box greift, besonders zu Platten von Hall &Oates (etwa zur Zeit von „Kiss On My List“). Das waren in den Achtzigern groß produzierte und professionell gemachte Dinger. Stebbing fährt den Aufwand auf angenehmes Indie-Niveau herunter. Unbedingt erwähnt werden muss, dass dieser Londoner ein Freund analoger Synthesizer ist. Wie gut er sich auskennt, hört man in „Arp“. Für Night Works hat er einiges zusammengetragen, was man mögen darf, und das dann charmant verbunden und aufb ereitet. Dieses Debüt wird garantiert eine heimliche Lieblingsplatte.

**** Thomas Weiland

PHOSPHORESCENT

MUCHACHO

Dead Oceans/Cargo (VÖ: 15.3.)

So berückend kann alternativer Country sein, wenn er den Country mal für ein paar Minuten hinter sich lässt.

Schwer zu sagen, wer Matthew Houck gerne wäre. Den großen Willie Nelson hat er bereits in Albumform gewürdigt, wobei er selbst meistens wie eine Mischung aus Neil Young (die Stimme) und Will Oldham daherkommt (alles andere). MUCHACHO beginnt und endet mit einem sehr pastoralen Chorgesang („Sun, arise!“), der rahmt, was dazwischen alles passiert. Und das ist großes Theater – oder wenigstens großes Gefühl. Und – ach! – so schön auch die akustischen Pirouetten, die direkt aus dem legendären Penguin Cafe Orchestra („Music For A Found Harmonium“) stammen könnten und mit denen „Song For Zula“ melancholisch dahergekreiselt kommt. Es vergehen und verwehen ein paar weitere Kompositionen von schluchzender Schönheit („Ride On“), bis das Album allmählich preisgibt, was man bis dahin nicht ahnen konnte -es ist ja alles auf Country gebaut! Elektrifizierte Stahlgitarre, handelsüblichere Harmonien, solche Sachen. Den Country-Verächter mag das schocken, der Kenner schnalzt mit der Zunge, und der Verächter beruhigt sich dann auch wieder. Was Sufjan Stevens der Folk, das ist eben Houck die gediegene Americana. Und ähnlich wie Stevens transzendieren Phosphorescent den ursprünglichen Stil mittels purer Emphase und Melodienseligkeit. Diese Trompeten! Dieses südstaatliche Gefühl! Calexico mit ihrer, pardon, Wüstenkaktussimulationskacke passen hier zweimal rein. Was Phosphorescent leisten, ist immer eine Verfremdung zur rechten Zeit. Auch wenn sie hier sehr spät kommt, ganz am Ende, wenn der einleitende Chor als „Sun’s Arise“ wiederkehrt -und die Vielstimmigkeit plötzlich einen bösartigen Einschlag bekommt. Muss man gehört haben.

**** Arno Frank

PURLING HISS

WATER ON MARS

Drag City/Rough Trade (VÖ: 15.3.)

Mike Polizze hat sich mit seiner Band ein Stück weit vom Schredder-Rock entfernt und spielt sich an Indie-Heuler und Americana ran.

So ist das wohl, wenn eine Noise-und Schredder-Rock-Band sich der Altersmilde hingibt: Mike Polizze und Purling Hiss spielen heute Songs, die man im Programm von Wilco oder Nada Surf erwarten würde und die ganz besinnliche Titel tragen („She Calms Me Down“). Das ist nicht gerade der Stoff, den man von blutspuckenden Rock-Vampiren hören möchte, weil das die anderen doch immer noch besser können. Die Band hat ihr Basement verlassen und das Album einer „richtigen“ Produktion unterzogen, in den besten Momenten klingt das wie ein Violent-Femmes-Flashback („Dead Again“) und eine Glam-Rock-Wiedervereinigung aus dem Umfeld von Bowie oder Mott The Hoople im Titelsong. Über die Strecke eines Albums lassen Purling Hiss aber etwas die Kondition vermissen, die für ein Stück RAW POWER notwendig ist.

*** Frank Sawatzki

RETRIBUTION GOSPEL CHOIR

3

Chaperone/Cargo

Epischer Avant ’n’Noise-Rock des Nebenprojekts von Alan Sparhawk (Low). Gast: Nels Cline (Wilco).

Das Nebenprojekt der beiden Low-Mitglieder Alan Sparhawk und Steve Garrington mit dem Schlagzeuger Eric Pollard hat auf bisher zwei Alben dem Minimalismus von Low den größtmöglichen Rockfaktor entgegengestellt, ohne dabei Rock zu sein. „Can’t Walk Out“, das Kernstück der Livesets von Retribution Gospel Choir, gibt es auf Album Nummer drei in einer gut 20-minütigen Version, in der giftige Gitarren-, Feedback-und Noisekaskaden zu einem Rock-not-Rock-Mantra anwachsen – das sich irgendwo zwischen Iron Butterfly und Neil Young & Crazy Horse positioniert. Das einundzwanzigeinhalbminütige „Seven“ auf der B-Seite featured Avantgarde/Free Music-Gitarrist Nels Cline, der es 2004 irgendwie geschafft hat, eine Festanstellung bei Wilco zu bekommen. Das Stück subtrahiert den Noisefaktor von „Can’t Walk Out“, gibt sich ausufernd, episch, dramatisch und mit Repetitionsmustern aus dem Rock, die jedem ehrlichen Rocker freilich zu viel des Guten sein dürften.

**** Albert Koch

MARTIN ROSSITER

THE DEFENESTRATION OF ST MARTIN

Drop Anchor/Rough Trade

Das erste Solo-Album des ehemaligen Sängers der Britpopper Gene.

In den Neunziger- und frühen Nullerjahren veröffentlichte Martin Rossiter mit Gene, einer der besten Bands Großbritanniens, einige hervorragende Alben, die sich eine Million Mal verkauften. Schon damals war der Motor seiner Stimme eine schwer greifbare Sehnsucht. Nun, wo er nicht nur den genreüblichen Blues, sondern auch konkrete Themen wie seine Depressionen („I Must Be Jesus“) und familiäre Gewalt („Three Points On A Compass“) verhandelt, fehlt dieser Schwere natürlich die Abfederung, die Pop immer auch benötigt. Muss man sich dran gewöhnen, vor allem angesichts der musikalischen (Selbst-)Begleitung, die, sieht man von den letzten zwei Minuten des Schlusstracks ab, ausschließlich vom Klavier kommt. Doch das geht auf, auch weil Rossiter nach wie vor oft die richtigen Worte bevorratet: „If my heart skips the beat, I’ll seek medical help“, heißt es einmal knäpplich. Ein Pragmatiker, also. Davon kann die Welt nicht genug haben.

**** Jochen Overbeck

JOSH RITTER

THE BEAST IN ITS TRACKS

Yep Roc/Cargo

Schmerzlich schöne Singer/Songwriter-Kunst von hohen Gnaden.

Schmerzlich. Schön. Aufb rausend. Und dann wieder: ganz, ganz leise. Ist das der Klang eines brechenden Herzens? Gut möglich, denn THE BEAST IN ITS TRACKS, das siebte Album des Songwriters aus Idaho, ist vor allem eines: Josh Ritters Scheidungsalbum. Und ja, es tut weh, „Evil Eye“ zu hören und „Nightmares“ – so wie es gut tut, „New Lover“ und „Joy To You Baby“ zu hören. „Einige Songs sind richtig böse“, sagt der Künstler selbst. „Andere sind voller Sarkasmus oder Leichtsinn.“ Aber alle, muss man dem hinzufügen, sind sie ganz und gar wundervoll: mit ihrer James-Taylor-Lieblichkeit und der Schärfe früher Leonard-Cohen-Songs, mit ihrer Open-Mic-Beiläufigkeit und ihrem Liebeskummer-Furor. Inmitten dieses Folk-Purgatoriums setzt die Royal City Band keinen Ton zu viel, aber jeder, den sie spielt, ist genau richtig. Derweil erinnert sich Josh Ritter der Zeit, da er ziellos durch Brooklyn zog, zu viel trank, einen komischen Cowboyhut trug und Songs geschrieben hat, um seiner Verzweiflung Herr zu werden – oder einfach nur, um irgendwie durch die Nacht zu kommen. Keine einfache Kost, gewiss, aber das ist Bob Dylans BLOOD ON THE TRACKS ja nun auch nicht gerade. Und THE BEAST IN ITS TRACKS kommt diesem so anrührenden wie beizeiten mitreißenden Abgesang auf eine verflossene Liebe immerhin zumindest phasenweise ziemlich nahe.

**** Peter Felkel

BOZ SCAGGS

MEMPHIS

429 Records/Sony Music

Klassiker und eigene Songs vereint der aus Ohio stammende 68-Jährige zu einem weiteren abgeklärten Alterswerk aus Soul, Blues und entspanntem Rock.

Einem alten Fahrensmann wie William „Boz“ Scaggs ist wenig fremd: Ende der Sechziger spielte er in der Steve Miller Band zwei fabelhafte Alben (CHILDREN OF THE FUTURE und SAILOR) lang Blues grundierte, psychedelisch gefärbte Rockmusik, als Solist reüssierte er auf diversen Longplayern zwischen archaischem Blues („Loan Me A Dime“ mit, in my humble opinion, einem der formidabelsten Gitarrensoli ever, courtesy of Duane Allman), artifiziellem Pop (das Multi-Platin-Werk SILK DEGREES) und amüsanten Mainstream-Belanglosigkeiten. Mit COME ON HOME fand der damals 53-Jährige 1997 zurück zu seinen Wurzeln: Soul und Blues bestimmten sein Tun, es war der frühe Beginn von etwas, das sich als ultra-relaxtes, weil keinem mehr etwas beweisen wollendes, Alterswerk entpuppen sollte. Und in dieser Tradition steht auch das stark autobiografisch geprägte MEMPHIS mit seinem Mix aus Coverversionen von Klassikern wie „Rainy Night In Georgia“ und „Corrina Corrina“, Paradestücken von Kollegen wie Steely Dan („Pearl Of The Quarter“), Willy DeVille („Mixed Up Shook Up Girl“) und John „Moon“ Martin („Cadillac Walk“) sowie diversen Originalen. Ein entspanntes, seelenvolles, im besten Sinne altmodisches, wenn auch nicht durchgehend packendes Album.

***1/2 Peter Felkel

SON VOLT

HONKY TONK

Concord/Universal

Die Alternative-Country-Legende verbeugt sich vor dem klassischen Country, der in den Honky-Tonk-Kneipen gespielt wurde.

Farrar, Jay: Songschreiber, Sänger und Musiker in den Bands Uncle Tupelo und Son Volt. F. wurde am 16. Dezember 1966 in Belleville, Illinois geboren und lebt heute in St. Louis, Missouri.

Honky-Tonk, das: Eine für die USA typische Kneipe mit Live-Musik, in der normalerweise Country Music gespielt wird. Die ersten H. entstanden Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in den Südstaaten. Ausgeschenkt wurde an ein sich aus der Arbeiterklasse rekrutierendes Publikum nahezu ausschließlich Alkohol. Viele H. waren verrufen und galten als Hort der Prostitution ( „Honky Tonk Women“; The Rolling Stones).

HONKY TONK: Konzeptalbum von Son Volt ( ), das sich als Verbeugung vor dem Honky-Tonk ( ) versteht. Folgerichtig spielen Son Volt traditionellen Country mit viel Steel-Guitar, in dem nahezu ausschließlich von verlorener Liebe und dem Leben als einsamer Wolf die Rede ist, der sein Leid im Alkohol ertränkt. Jay Farrar () erlernte extra die Bedienung der Steel-Guitar, um einen zugleich authentischen und modernen Sound erzeugen zu können.

Nashville: Stadt in Tennessee, die als Zentrum der Country Music gilt.

Son Volt: Band aus St. Louis, Missouri, um Jay Farrar ( ), die 1994 gegründet wurde und vier Jahre nach AMERICAN CENTRAL DUST im März 2013 ihr neues Album HONKY TONK () veröffentlicht. Auf dem klingen S. nicht mehr wie die alternative Country-Band, die sie eigentlich sind, aber viel besser als alles, was momentan aus Nashville () kommt.

***** Thomas Winkler

SONNY SMITH

100 RECORDS PROJECT, VOL. 3

Polyvinyl/Cargo

Garage-Beat, Folk, Country, Homerecorded Rock ’n’Roll. Ein Fake-Band-Projekt unter Beteiligung von Musikern aus der Bay-Area.

Die Zahl 100 besitzt eine gewisse Faszination in der Welt der Popmusik. Sie hat etwas Abschließendes, Kanonisierendes, etwas beinahe Religiöses. Wir Schreiber und Leser überfliegen voller Neugierde die diversen „100 besten Alben aller Zeiten“-Listen in unseren Leib-und Magenmagazinen, wir mailen unseren Buddys unsere persönlichen Top 100, die wir am nächsten Tag schon gleich wieder revidieren wollen. Aber wir kannten bisher keinen Musiker, der 100 Bands erfunden und mit jeder von ihnen eine Single aufgenommen hat – Ihr Auftritt, Sonny Smith. Der Mann arbeitet hauptberuflich als Sänger und Songwriter bei der Beat-Combo Sonny & The Sunsets, er ist Romanautor und treibt sich in der Kunstszene der San-Francisco-Bay-Area herum. Mit dem 100 RECORDS PROJECT begann Sonny Smith im Jahr 2010, Charaktere aus einem Roman, den er gerade begonnen hatte zu schreiben, ins Leben zu rufen. Er schenkte ihnen Songs und engagierte befreundete Künstler als Artworker für die als 7-Inch gedachten Veröffentlichungen. Später ließ er die Singles der Fake-Bands in San Francisco von einer digitalen Jukebox spielen. Das alles ist weit mehr als nur ein Gimmick, Sonny Smith lässt die Rock-und Pop-Toten in neuen Kleidern reinkarnieren, schreibt die Historie aus der Perspektive der Westcoast um. Er spielt die Beach Boys mit Danny Dusk &The Twilights schwindlig, ruft Charlie Feathers als Jackie Feathers mit der Country-Ballade „Year Of The Cock“ in Erinnerung und hat einen herzzerreißend dahingesummten Folksong im Programm (Bobby Hawkins „Minimum Wage“). Ty Segall, Kelley Stoltz, der Fresh-&-Onlys-Frontmann Tim Cohen sowie Mitglieder der Sandwitches haben Sonny Smith als Garagen-Beatles und Rock’n’Roll-Boys bisher schon ausgeholfen. 100 RECORDS PROJECT VOL. 3 ist erhältlich in einer limitierten Edition auf weißem Vinyl, auf blauen, grünen und schwarzen Kassetten sowie als digitaler Download.

****1/2 Frank Sawatzki

SPACE DIMENSION CONTROLLER

WELCOME TO MICROSEKTOR-50

R&S/Alive

Science-Fiction-Funk: Das Album zu einer Geschichte, die Philip K. Dick wohl auch gerne eingefallen wäre.

WELCOME TO MICROSEKTOR-50 ist eine der ganz wenigen Platten, bei denen der Beipackzettel mehr sagt, als es jede Rezension könnte. Der nordirische Weltraumkundler in spe Jack Hamill bastelt seit Jahren an der bizarren Biografie seiner Figur Mr. 840. Die Doppel-EP „The Pathway To Tiraquon6“ erklärte, wie in der fernen Zukunft die Menschen durch Sonnendiebe in die Flucht geschlagen werden und sich auf dem Planeten Microsektor-50 eine neue Existenz aufbauen. Dort angekommen, wurde Soldat Mr. 840 zum Space Dimension Controller ernannt, durch einen Laser-Unfall aber versehentlich ins Jahr 2009 geschickt, von wo er seitdem auf dem Label R&S Platten veröffentlicht. Klar, so weit? Die neue Platte ist der Soundtrack seines beschwerlichen Heimweges und vom Sound her mehr denn je eine obskure Mischung aus Chicago House, spacigem Funk, 90er-Rave-HipHop der Marke Shut Up And Dance und fast sinnlich schleppender Electronica. Alles ohne Computer aufgenommen und bearbeitet. Ein überraschend schlüssiges Konzeptalbum, das nur anfangs durch die Backstory ablenkt. Zu überzeugend ist dieser interstellare Trip durch sein spannendes musikalisches Leben. Aufgrund von Spoiler-Gefahr verzichte ich auf Details zum Ende, aber dieses „Hörbuch“ gehört sowieso in den Schrank.

****1/2 Christopher Hunold

STORNOWAY

TALES FROM TERRA FIRMA

4 AD/Beggars/Indigo

Die Musiker aus Oxford bestätigen, dass sie zu den besseren Vertretern des Indie-Folk gehören.

In der Geschichte des Pop hat es Bands gegeben, bei denen man sich fragte: Warum ist aus denen eigentlich nicht mehr geworden? Stornoway sind so ein Fall. Die Band aus Oxford spielte auf ihrem Debüt BEACHCOMBER’S WINDOWSILL einiges durch: Ergreifend simple Songs, ausladendere kleine Kunstwerke und den ein oder anderen exzentrischen Schlenker. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung passte, das Album erschien gut ein halbes Jahr nach dem ersten von Mumford &Sons. Es tat sich dann auch etwas, gerade in Großbritannien, wo der Name der schottischen Stadt Stornoway in jedem Wetterbericht zu lesen ist. Aber es tat sich eben nicht so viel, wie man hätte denken können. Wohl auch deshalb haben Stornoway ihr Repertoire erweitert. Sie verlassen sich nicht mehr allein auf erdiges Folk-Flair. In „You Take Me As I Am“ kommen Piano, Orgel und Bläser hinzu, schon entsteht der Eindruck größerer Feierlichkeit. „The Bigger Picture“ ist ein genauso guter Popsong wie „Fuel Up“ auf dem Vorgänger. In „Hook Line Sinker“ verlassen die Musiker den bodenständigen Pfad und stürzen sich in ein psychedelisches Space-Abenteuer. „The Great Procrastinator“ ist erst eine akustische Folk-Ballade, in die sich später der Jazz aus New Orleans einschleicht. Stornoway liefern neue Beweise dafür, dass sie auf dem Gebiet des Indie-Folk zu den richtig Guten gehören.

****1/2 Thomas Weiland

SUEDE

BLOODSPORTS

Suede Ltd/ADA-Warner Music (VÖ: 15.3.)

Die Britpop-Pioniere hoffen, dass der Zeitgeist ihre lange verloren gegangene Relevanz verhüllt.

Jede große Britpop-Band, die in den vergangenen Jahren wiederkehrte, wurde in England mit diversen Titelstorys aufs Herzlichste willkommen zurück geheißen, ohne auch nur einen neuen Ton veröffentlicht zu haben. Für Suede sprang bislang keine einzige heraus. Zu gern hat man sich vor zehn Jahren von ihnen verabschiedet, zu hart war der Fall nach den gigantischen, die Welt aus den Angeln heben wollenden Alben SUEDE und DOG MAN STAR in die Niederungen der gleichermaßen an Klischees reichen wie an Aussagen armen HEAD MUSIC und A NEW MORNING gewesen. Brett Anderson löste die Band damals auf, weil er „seine Dämonen verloren“ hatte. Auf seinen hohlen vier Soloplatten danach fand er sie ebenso wenig wieder wie zusammen mit Suedes Urgitarrist Bernard Butler als Tralala-Popper The Tears. Anderson hatte einfach nichts mehr zu sagen, die Liebe und ihre Wirrungen waren durch sämtliche Metaphern gejagt. Eine neue Suede-Platte wollte er nur aufnehmen, sollte sich abzeichnen, dass sie „amazing“ werde. Das ist BLOODSPORTS – neuer Liebes-Vergleich für Andersons Floskel-Setzkasten – natürlich nicht geworden. Besser, weil nicht gar so banal wie erwartet und ein würdigeres Schlusswort als A NEW MORNING: Ja, aber bestimmt nicht amazing. Dafür ignoriert die Musik zu oft den Wegweiser, auf dem „Bowie“ steht, und biegt Richtung U2 oder Simple Minds ab, dafür gibt Anderson in seinen Texten zu oft auf, bevor er Romantik erreicht und begnügt sich mit Kitsch. Lasst euch das allen eine Warnung sein, euch Pulps, Blurs und vor allem euch Stone Roses!

**1/2 Stephan Rehm

SUUNS

IMAGES DU FUTUR

Secretly Canadian/Cargo

Der Patient Indie-Rock mag tot sein, aber die Notoperation des kanadischen Quartetts ist sehr gelungen.

Vielleicht ist ja das kanadische Gesundheitssystem schuld. Auf jeden Fall macht man sich Sorgen, wenn man „Powers Of Ten“ hört, den Einstieg zum zweiten Suuns-Album. Hier klingt die Stimme von Ben Shemie, als wäre die Entfernung seiner Polypen medizinisch dringend angezeigt. Die HNO-Behandlung des Sängers bleibt aus, aber das Quartett aus Montreal setzt noch einen drauf auf seinen grandiosen Erstling ZEROES QC und operiert den Indie-Rock am offenen Herzen. Mit am OP-Tisch: Assistenzarzt Postrock und Anästhesist Krautrock. Ob im bösartig grummelnden Atonal-Exkurs „2020“ oder im bedrückenden „Edie’s Dream“, das fast nur aus einer kaum zwei Töne benötigenden Bass-Melodie besteht: Immer gelingt es Suuns, der klassischen Besetzung und den alten Strukturen neue Ideen abzugewinnen. Mal ist es ein verschlepptes Tempo, mal ein vergessener Refrain oder die irritierend lange aufrechterhaltende Monotonie: Immer bekommt man das Gefühl, dass hier nicht einfach nur Altbekanntes rekapituliert, sondern nach vorne gedacht wird.

****1/2 Thomas Winkler

SYCLOPS

A BLINK OF AN EYE

Running Back/Rough Trade (VÖ: 22.3.)

Klassischer House mit einer Überdosis Elektro-Funk.

Genaues weiß man nicht. Syclops, so heißt es, sei das musikalische Projekt dreier finnischer Jazz-Funk-Musiker namens Sven Kortehisto, Hanna Sarkarai und Jukka Kantonen, das seine Musik vom legendären House-DJ und -Producer Maurice Fulton produzieren lässt. Andere meinen, dass es sich dabei um Fultons Soloprojekt handelt. Verbürgt ist dagegen, dass Syclops 2008 mit der 12-Inch „Where’s Jason K“ für DFA erstmals den Mainstream der Minderheiten erreichten, und ein Jahr später mit dem Debütalbum I’VE GOT AN EYE ON YOU den Vertrauensvorschuss bis auf den letzten Cent zurückzahlten. Über A BLINK OF AN EYE, dem zweiten Album von Syclops, steht auch wieder in dicken Lettern „Elektro-Funk“ geschrieben. Wir hören retrofuturistischen Maschinen-Funk, dem Maurice Fulton ein paar zwitschernde Acid-Beigaben verpasst, Wäschetrommel-Snare-Drum, psychedelische Elemente, Space-Age-Effekte, dezente Störgeräusche, housige Handclaps und Erinnerungen an Früh-Achtziger-Elektro-Funk, bei dem Gitarren noch schön „rocken“ durften. Aus all diesen heterogenen Elementen entwickelt sich ein perkussiver Groove, der in den Synapsen genauso funktioniert wie auf dem Tanzboden.

****1/2 Albert Koch

THEME PARK

THEME PARK

Transgressive/Coop/Universal

Das Debüt der Londoner Elektro-Popper: positiv in Frühlingslaune.

Wie bitte? Eine Band namens Vergnügungspark? Bei der Suche nach dem richtigen Namen hätten sich diese Neulinge aus London wirklich mehr Mühe geben können. Andererseits sagt er schon aus, worum es der Band um Sänger Miles Haughton geht. Andere Musiker mögen den Existentialismus und die Morbidität bevorzugen und der Verzweiflung nahe sein, das ist ja auch ihr gutes Recht. Für Theme Park ist das nichts, für sie zählt nur eine positive Grundeinstellung. Das spürt man in allen Tracks auf ihrem Debütalbum. Die Single „Jamaica“ war schon ein guter Hinweis, da ging es um Sommerfreundinnen, ein Haus auf der Karibikinsel und gute Getränke. Wenn man das so liest, könnte man denken, dass der Feelgood-Faktor auf der ersten Platte von Wham! neue Kreise zieht. Nun, die Dekade stimmt schon mal, aber Haughton und seine Kollegen haben sich in geschmackvolleren Regionen der 80er-Jahre umgehört. Ihre Schwäche für Indie-Funk und Jangle-Pop dürfte von Bands wie Orange Juice oder Friends Again herrühren. In „Tonight“ und „Ghosts“ dagegen gibt es Phasen, in denen elektronische Klangkulissen stärker betont werden und man auf Tuchfühlung zu jüngeren Vertretern aus der Cut-Copy-Ecke geht. Theme Park machen darum nicht viel Bohei. Ihre Songs zeugen von einer inneren Ausgeglichenheit, für die man sofort Sympathie empfindet. Happy-go-lucky, mal ganz unpeinlich.

**** Thomas Weiland

WIRE

CHANGE BECOMES US

Pink Flag/Cargo (VÖ: 30.3.)

Die Post-Punk-Legende öffnet das Archiv und befördert aufpolierte Schätze zutage.

Wire mögen ja Kinder des Punk sein, aber wie kaum eine andere Band dieser Zeit schlugen die Londoner bemerkenswerte Richtungs-und Stilwechsel ein. Dazu kommt die bis heute ungebrochene Weigerung, als Verwalter des eigenen Erbes zu fungieren. Wire experimentierten während ihrer Konzerte lieber mit Videokunst und entdeckten Welten wie Elektronik, Avantgarde und Industrial. Sie verwandelten ihre Shows gerne mal in ein dadaistisches Kabarett. Vor allem aber befanden sich Wire schon kurz nach ihrer Gründung 1976 in einem kreativen Rauschzustand, der Projekte wie Dome und Gilbert &Lewis hervorbrachte und damit eine ganze Veröffentlichungswelle -inklusive diverser Solo-Alben -auslöste. Und all das mitten in einem Streit mit ihrer Plattenfirma EMI, damals wahre Meister im Droppen von Künstlern. Aus dieser auch finanziell schwierigen Phase stammt das Material von CHANGE BECOMES US, denn Wire griffen bei Konzerten nur bedingt auf bekannte Songs zurück und spielten zur Irritation ihrer Fans viele neue Stücke, die sie auch kaum geprobt hatten. Eine Ahnung davon, wie Wire in dieser Phase tickten, bietet das Live-Album DOCUMENT AND EYEWITNESS mit seinen Songfragmenten und unausgegorenen Ideen. Die sind nach einer kompletten Runderneuerung bis auf „Eels Sang Lino“(der jetzt „Eels Sang“ heißt) kaum wiederzuerkennen. So verliert das von „Zegk Hoqp“ in „Re-Invent Your Second Wheel“ umgetaufte Stück seinen Happening-Charakter und verwandelt sich in einen Popsong. Das experimentelle „Eastern Standard“ wird zum anmutigen Song („& Much Besides“) mit Akustik-Gitarre und Synthieflächen. Was CHANGE BECOMES US zu einem klasse Album macht, ist sein selbst für Wire ungewöhnliches Spektrum. „Keep Exhaling“, das hypnotische „Magic Bullet“ und das düstere „B/W Silence“ hätten auf das Meisterwerk 154 gepasst, das harte „Stealth Of A Stork“ dagegen auf PINK FLAG. Wie aus einem Guss klingt CHAN-GE BECOMES US deshalb nicht, aber das macht gar nichts. Es weckt vielmehr die Hoffnung, dass Wire noch mehr Stoff in ihrer Rumpelkammer finden.

****1/2 Sven Niechziol

WOODKID

THE GOLDEN AGE

Island/Universal

Pop-Kompositionen in Cinemascope vom ehemaligen Videoclip-Regisseur Yoann Lemoine.

Hach. Ach. Seufz. Was soll man sagen. Lieber möchte man wohlig brummen, verliebt summen, schnurren wie eine fettgefressene Katze, so schön, so wundervoll ist THE GOLDEN AGE geworden. Der überaus erfolgreiche Videoclip-Regisseur Yoann Lemoine, der schon für Taylor Swift, Lana Del Rey und Rihanna gearbeitet hat, beweist als Woodkid, dass er sogar ein noch besserer Musiker ist. Auf seinem Debütalbum THE GOLDEN AGE, das er im Alleingang aufgenommen hat, begibt sich der musikalische Quereinsteiger in stets leicht düstere, weihevoll melancholische, von Klavier und Glocken, Rauschen und schwerelos schwebenden Drones beherrschte Klangwelten, die – Lemoines bisheriger Profession verpflichtet -eine cinematografische Qualität entwickeln. Allerdings: Wenn das aktuelle Popgeschehen schnödes Fernsehen wäre, dann ist THE GOLDEN AGE ein epischer Spaghetti-Western in 5-D. Und dass Yoann Lemoine hier zu singen versucht wie Antony Hegarty, ihm dazu aber der Stimmumfang fehlt, macht er wett mit dem überlegten und effektiven Einsatz seiner beschränkten Mittel. Das Ergebnis sind Balladen, in denen sich der Schmerz in Wohlgefühl verwandelt und Schönheit zu Musik wird. Wenn das Goldene Zeitalter tatsächlich so klingen sollte, dann kann es gar nicht früh genug beginnen.

**** Thomas Winkler

YOUNG FATHERS

TAPE ONE

Anticon/Indigo

Drei junge Schotten bestellen einen Acker für hybride Umtriebe: psychedelische Marschmusik, HipHop-Rock-Amalgamierungen und Afrofuturismen.

Young Fathers könnte das Projekt sein, das sich ein stilistisch weit gereister Indie-Rock-Sammler in einer stillen Stunde mit seiner Plattensammlung ausgedacht hat. Drei Jungs aus Edinburgh gründen eine Basement-Band, deren Plattensammlungen wiederum ein großes Interesse an Leftfield-Rock, R’n’B, Singer/Songwritermusik und HipHop verrät. Erschienen ist das Debüt der Young Fathers auf einem anfangs für seine experimentellen HipHop-Veröffentlichungen bekannt gewordenen kalifornischen Label: Anticon. Es steht heute für genreübergreifende Erkundungen zwischen dem, was einmal schwarzen und was einmal weißen Künstlern zugeschrieben wurde. Dass in dieser hochinteressanten Grauzone noch Raum für richtige Großtaten ist, demonstrieren die Young Fathers mit den acht Tracks auf TAPE ONE. Das Album ist clever, klingt beseelt und dreht ein paar Runden in den Sphären futuristischer Klangkünstler. Man höre nur die psychedelische Marschmusik „Dar-Eh Da Da Du“, den unter schwerem Gepolter kämpfenden Popsong „Deadline“(habe ich da ein Sample aus einem House-Of-Pain-Song gehört?) oder den Afroragga-Trommelworkshop namens „Sister“ direkt im Anschluss. Wohin das alles noch gehen kann? Keine Ahnung. TAPE ONE ist vielleicht die Platte, die Yoni Wolf alias Why? immer schon einmal machen wollte, aber sie dann doch eine Idee zu clever fand.

****1/2 Frank Sawatzki