PLATTEN
„YOU DON’T KNOW HOW SICK YOU MAKE ME“
„Puke“, Eminem, 2004
Betr.: Krankheitsvertretung Plattenmeister Koch hat sich eine Pizza von einem Lieferdienst, den wir hier nicht an den Pranger stellen möchten, kommen lassen und wird das vermutlich nie wieder tun. Seit zwei Wochen ist er krank. Mit zittriger Hand schickte er uns seine Texte, mit gebrochener Stimme erteilte er via Telefon Anweisungen. Für seine unerschöpfliche Kraft dankt, wünscht gute Besserung und hofft, auf diesen Seiten nichts allzu doll upgefuckt zu haben: Ersatzplattenmeister Rehm
ABOUT GROUP
BETWEEN THE WALLS
Domino/Good To Go
Das dritte Album des Soul-Pop-Blues-Avantgarde-Projekts von Alexis Taylor.
Das Schöne am Freizeitprojekt About Group: Keiner der beteiligten Musiker dürfte sich in seinen Hauptbands das leisten, was er sich hier erlaubt. Die Ausschläge in Pop einerseits und Avantgarde auf der anderen Seite würden Alexis Taylor (Hot Chip), Charles Hayward (This Heat), John Coxon (Spiritualized, Spring Heel Jack) und Pat Thomas in ihren eigenen Welten wahrscheinlich sehr übel genommen werden. Auch das dritte Album BETWEEN THE WALLS oszilliert zwischen Improvisationsmusik und einer Art Popmusik, bei der peinlich genau darauf geachtet wird, die Poppigkeit durch gezielt gesetzte Störfaktoren klein zu halten. Wenn in „All Is Not Lost“ die Stimme von Alexis Taylor, die Hot-Chip-Stimme, zu einer Blues-Improvisation erklingt, dürfte doch keiner meckern können: Hot Chip, Avantgarde, Blues, Improvisation. Dass diese komische Konstellation fähig ist, so etwas Ähnliches wie einen Hit zu schreiben, zeigt das 70er-Soul beeinflusste „Words“. Aber auch hier wird die Hookline durch geloopte Ambience sanft zerstört. Die Möglichkeiten dieser Soul-Pop-Blues-Avantgarde scheinen unbegrenzt, die Gegensätze so reizvoll wie selten: „Make The World Laugh“ ist die Pink-Floyd-Hymne, die diese seit ANIMALS nicht mehr zustande gebracht haben.
**** Albert Koch
THE BAPTIST GENERALS
JACKLEG DEVOTIONAL TO THE HEART
Sub Pop/Cargo
Unglaublich, aber wahr: Nach zehn Jahren Funkstille meldet sich die texanische Folk-Rock-Band zurück.
Es ist nicht so, dass sie es nicht früher versucht hätten. Relativ bald nach Veröffentlichung von NO SILVER/NO GOLD im Jahr 2003 setzte sich Bandleader Chris Flemmons mit seinen Kollegen hin und arbeitete mit ihnen an einem Nachfolger. Der war dann auch irgendwann im Kasten, aber Flemmons war nicht zufrieden damit. So konzentrierte er sich vorerst auf den Kampf gegen Immobilienhaie in seiner texanischen Heimatstadt Denton und auf die Organisation eines Musikfestivals. Nun ist ihm und der neu formierten Band doch noch ein Album herausgerutscht, auf dem es um eine „inkompetente Herzensandacht“ geht. Ein Song heißt „Clitorpus Christi“. Daran erkennt man, dass man es hier nicht mit bierernsten oder gewöhnlichen Leuten zu tun hat. Nur in einigen wenigen Fällen kann man von Folk-Rock im klassischen Sinn ausgehen. Sonst sind die Südstaatler merklich bemüht, die Grenzen dieses Genres zu verschieben. In „My O My“ werden Streicher nicht nur begleitend eingesetzt, sie haben auch ihren Anteil am aufwühlenden Crescendo zum Schluss. The Baptist Generals untermalen ihre Songs zudem gerne mit ungewöhnlicher Lautung. Den Trick haben sie sich von Brian Eno abgeschaut. Es gibt also Gründe, sich mit diesem Comeback zu beschäftigen.
****1/2 Thomas Weiland
JACK BEAUREGARD
IRRATIONAL
Tapete/Indigo
Das Berliner Duo läutet das Biedermeier des Elektro-Pop ein.
Jack Beauregard jedenfalls laufen auf ihrem dritten Album Gefahr, allzu sehr dem guten Geschmack zu verfallen. Das in Berlin ansässige Duo besteht aus den beiden Profis Pär Lammers und Daniel Schaub, die sich kennengelernt haben beim Studium am Konservatorium in Amsterdam und dann ihr Geld als Songschreiber für Kunden wie Lena Meyer-Landruth verdienten. Dieses Know-how ist nun auf IRRATIONAL unüberhörbar: Jeder Ton sitzt millimetergenau, jede Harmonie ist so warm wie eine Umarmung und das Klangbild beruht auf einem allumfassenden Konsens. Lammers und Schaub holen sich die Rhythmen mal aus dem Computer, setzen aber bei Bedarf auch einen Schlagzeuger ins Studio. Sie engagieren Holzbläser, stellen aber dann doch die Klänge aus den klassischen Analog-Synthies in den Mittelpunkt. Alles ist schön, aber auch erwartbar. Zum Glück können die beiden Melodien schreiben, die noch jeden um den Finger wickeln. Das Ergebnis lässt sich als Biedermeier des Elektro-Pop bezeichnen – und das ist unbedingt als Lob gemeint.
**** Thomas Winkler
BLACK SABBATH
13
Vertigo/Universal
Großartige Rückmeldung der Pioniere des Doom-Metal.
Das Ende des Anfangs oder der Anfang vom Ende? Beide Deutungsmöglichkeiten sind legitim. Das Ende des Anfangs kann es sein, weil sich der Sänger, Gitarrist Tony Iommi und Bassist Geezer Butler dazu aufgerafft haben, den Faden aufzunehmen, den sie 1978 zertrennt hatten. Ein Anfang vom Ende kann es sein, weil Iommi gesundheitlich angegriffen ist und die Band dem Alter nach so allmählich in die finale Gerade des Lebens einbiegt. Das ist eine Konstellation, die Produzent Rick Rubin gereizt hat. Seit seinen Arbeiten mit Johnny Cash und ZZ Top ist er aber auch als jemand bekannt, der Granden zur Essenz ihres Schaffens zurückbringen kann. Das ist ihm in diesem Fall exzellent gelungen. Der Geist der ersten sechs bahnbrechenden Sabbath-Alben ist präsent, stets versetzt mit dem wuchtigen Studiosound der heutigen Zeit. Bedrohlich wie ein Behemoth richtet er sich auf und weist den Weg in den Untergang, flankiert von ein paar Zwischentönen („Zeitgeist“). Mit ihren Texten packen Osbourne und Butler die Gelegenheit zur Generalabrechnung beim Schopfe. Bei der Philippika „Dear Father“ erzittern die Mauern des Vatikans. In „Age Of Reason“ wird der politische Ist-Zustand in die Verdammnis geschickt. 13 ist fraglos die Zahl des Unglücks. Wir dagegen können uns glücklich schätzen, dass diese Band noch einmal so einen urgewaltigen Ausbruch hingekriegt hat.
*****1/2 Thomas Weiland
FRANK BRETSCHNEIDER
SUPER.TRIGGER
Sub Pop/Cargo
Der Mittelaltmeister der avantgardistischen Electronica beschäftigt sich mit Beats und Rhythmen.
Die Musik, die Frank Bretschneider seit gut anderthalb Jahrzehnten verbreitet, noch als Minimal Techno zu bezeichnen, täte ihr Unrecht. War diese doch nie der Funktionalität geschuldet, sondern zeichnete sich durch eine gewisse akademische Strenge aus. Scheinbar bricht der Mitgründer des Labels Raster-Noton dies mit SUPER. TRIGGER auf, weil das Album sich hauptsächlich mit Beats und Rhythmen beschäftigt. Aber eben nur scheinbar, denn Bretschneider bleibt der Idee der Klangforschung verpflichtet. SUPER.TRIGGER zeigt, wie komplexe Rhythmusgeflechte sich auf diverse musikalische Kontexte auswirken oder diese im besten Falle selber schaffen. So ist „Flicker.Funk“ tatsächlich ein abstraktes Stück Funk. Und „Machine.Gun“ eine Fantasie über gebrochene Beats. In „Over.Load“ erzeugt Bretschneider eine kühle technoide Strenge, die als Annäherung an Funktionsmusik missverstanden werden kann.
**** Albert Koch
BARN OWL
V
Thrill Jockey/Rough Trade
Das Drone-Duo legt die Gitarren beiseite und macht auf Doom Dub.
Dort wo eine Schleiereule (engl. „Barn Owl“) auftaucht, so wollten es die Indianer gewusst haben, dort werde bald jemand sterben. Wer das fünfte Album des amerikanischen Duos Barn Owl ins CD-Fach legt, muss natürlich keine Todesängste durchleiden – sehr jenseitig hört sich das Album aber in der Tat an, denn mit den Gitarren, auf die Evan Caminiti und Jon Porras hier weitestgehend verzichtet haben, verschwanden auch die Restspuren von einer rhythmischen Struktur. Wurde auf dem Vorgänger LOST IN THE GLARE noch die Wüstennacht beschworen, mit dem Bogen über die Saiten gestrichen und den Gitarren ewig ausklingende Töne, die herrlich dunkel und sphärisch dahindröhnten, entlockt, so versucht man den Drone-Effekt auf V nun mit Keyboard und Synthesizer umzusetzen. Während jedoch die Gitarren auf LOST IN THE GLARE noch regelrecht meditativ wirkten, muss man sich in das diffuse Jenseits von V schwer reinarbeiten: Die Synthies wabern düster vor sich hin und verflechten sich mit Keyboardflächen, manchmal klackert und rasselt es von irgendwoher, viel mehr passiert aber leider nicht.
*** Martin Pfnür
BRAIDS
FLOURISH//PERISH
Full Time Hobby/Rough Trade
Das neue Album der Kanadier zählt zu den überzeugendsten Elektro-Pop-Feinarbeiten der Saison.
Abschied von der Gitarre also. Die kanadische Band Braids, die 2011 mit dem Kleinod NATIVE SPEAKER debütierte, hat sich komplett der Elektronik verschrieben. Einem radikalen Neuanfang kommt diese Veränderung dennoch nicht gleich, es gab bereits größere synthetische Flächen auf dem Debüt, für die zehn Tracks von FLOURISH//PERISH haben Braids aber intensiver an der Stofflichkeit ihrer Musik gearbeitet. „Victoria“ ist ein organisch verwobenes Stück Folktronica, das über leicht stolpernden Dubstep-Beats entsteht, eingehüllt in Keyboardwellen und Raphaelle Standell-Prestons ätherischen Gesang. Und irgendwo hinten klackert es ganz vornehm aus dem Elektronik-Baukasten. Es ist eine sanfte, in die Tiefe reichende Musik, die Melodien ganz komfortabel in Loops und Hallräumen entstehen lässt. Wenn wir das jetzt Elektro-Pop nennen, dann eigentlich nur, weil FLOURISH//PERISH manchmal so wie die Platte klingt, die Björk aufnehmen sollte, um wieder von ihrem Multimedia-3D-App-Trip runterzukommen.
**** Frank Sawatzki
BRITISH ELECTRIC FOUNDATION
MUSIC OF QUALITY & DISTINCTION VOL. 3 – DARK
Wall Of Sound/Alive
Stars aus den Achtzigern und jüngere Semester verdunkeln Klassiker des Pop, Rock und Soul.
Dieser Martyn Ware hätte auf Dauer ein großer Gewinner des Pop werden können. Was er mit The Human League und lange auch mit Heaven 17 angepackt hat, war aller Ehren wert. Und dann war da noch das All-Star-Projekt B.E. F., das bis heute wegen seiner Aufb audienste für Tina Turner gefürchtet ist. Wer weiß, vielleicht ist Boy George jetzt derjenige, der mit Wares Hilfe wieder auf die Beine kommt. Kaum ein britischer Sänger hat sich im Laufe der Jahre so in Grund und Boden gewirtschaftet wie er. Seine Stimme hat durch die Torturen hörbar gelitten, sie klingt brüchiger und rauer als gewohnt. Aber so gelingt es George, Iggys „I Wanna Be Your Dog“ und Lou Reeds „Make Up“ gut über die Runden zu bringen. Und sonst? Ziemlich viel Erwachsenen-Pop. Kim Wilde traut sich an Stevie Wonders „Every Time I See You I Go Wild“ heran und wird dabei von ungelenkem Synthesizer-Geklonke begleitet. Die Stimme von Scritti Polittis Green Gartside hat ihre Vorzüge, aber mit „Didn’t I Blow Your Mind This Time“ von den Delfonics ist sie überfordert. Das Album-Konzept, die Songs verdunkelter als im Original klingen zu lassen, kommt in Glenn Gregorys „Party Fears Two“ am besten zur Geltung. Nur Stimme und Piano, keinerlei Exaltiertheit – das geht.
***1/2 Thomas Weiland
CAFÉ DRECHSLER
STREAMER
Monkey/Rough Trade
In neuer Besetzung mischen Café Drechsler wieder allerhand Musikstile von Jazz bis Drum’n’Bass.
Das Café Drechsler ist ein traditionsreiches Lokal am Wiener Naschmarkt. Nach diesem Ort hat sich das Trio um Saxofonist und Klarinettenspieler Ulrich Drechsler benannt, das 2002 mit einem Debütalbum aufhorchen ließ, auf dem unterschiedliche Stile von Jazz über TripHop bis Drum’n’Bass vermischt wurden. Nach einer weiteren Platte ging die Band 2006 getrennte Wege. Daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben, denn nun belebt Ulrich Drechsler zwar die Marke Café Drechsler, nicht aber das alte Line-up wieder. Dementsprechend ungewohnt klingt STREAMER: Auf Gesang und Rap-Einlagen wird diesmal verzichtet, dafür fügen die Keyboarder Philipp Jagschitz und David Helbock elektronische Klänge hinzu. Die Musiker legen Wert darauf, dass alles „handgemacht“ ist und nichts gesampelt wird. So klingen die neuen Café Drechsler zwar moderner als zuvor, trotzdem wird STREAMER eher Jazz-Freunde als Elektro-Liebhaber ansprechen.
***1/2 Reiner Reitsamer
THE CAIRO GANG
TINY REBELS
Empty Cellar Records
Das 12-String-Wunder von 2013: Ein Amerikaner hat sich ein Königreich für Jangle und Delay gebaut.
Mit diesem Album wird man die Gemeinde der Byrds-Fans noch einmal in einen Sommer der Glückseligkeit schicken können. Ich bin mir sicher, dass Emmett Kelly, der Mann, der schon mit Will Oldham und Beth Orton zusammengespielt hat und hier mit zwei 12-String-Gitarren operiert, das nicht gerne hören würde. Denn an einer Begehung der großen Pop-Gedenkstätten ist dem Amerikaner nicht gelegen, eher sucht Kelly in einem musikalisch engen Rahmen (12-String, Bass, Drums, Gesang) neue Destinationen auf der Landkarte seiner Imagination: ein Königreich für Jangle und Delay, in dem seine Stimme als Double-Track umherwandern kann. TINY REBELS ist eine sehr knackige Rock-Platte geworden, deren Spitzen in den roten Bereich des Pegelmessers reichen. Sie erinnert daran, dass Reduktion immer ein guter Ratgeber für Gitarrenbands ist.
**** Frank Sawatzki
CORNELL CAMPBELL MEETS SOOTHSAYERS
NOTHING CAN STOP US
Strut/Alive
Ein jamaikanischer Sänger und eine Londoner Band machen wunderbar altmodischen Roots-Reggae.
Strut Records setzt endlich seine Inspiration-Information-Reihe fort. Nachdem in der Vergangenheit bereits Paarungen wie Amp Fiddler/Sly &Robbie, Horace Andy/Ashley Beedle oder Jimi Tenor/Tony Allen für höchsten musikalischen Genuss sorgten, fiel die Wahl diesmal auf den legendären jamaikanischen Sänger Cornell Campbell und das in London beheimatete Afro-Dub-Kollektiv Soothsayers um Frontmann Robin Hopcraft. Angebahnt wurde die Zusammenarbeit durch ein Treffen von Hopcraft mit dem Produzenten Bunny Lee. In dessen Studio in Kingston entstand dann schließlich auch der erste gemeinsame Track von Cornell Campbell und den Soothsayers: „I’ll Never Leave“, eine ergreifende Hommage an Campbells Heimatinsel. Und die kam so gut an, dass Strut Records dem ungewöhnlichen Gespann einen Vertrag anbot. NOTHING CAN STOP US ist ein im besten Sinn des Wortes altmodisches Roots-Reggae-Album geworden, veredelt mit dezenten Dub-Elementen, bei dem sich alle Beteiligten in den Dienst der Sache stellten. Entsprechend homogen klingen die zwölf Songs, denen Cornell Campbell mit seiner zuckersüßen Stimme eine ganz besondere Aura verleiht. Zu den spirituell bewegendsten Nummern zählt „Ode To Joy (Babylon Can’t Control I)“, bei der man sich an die goldenen Zeiten der englischen Reggae-Szene Ende der Siebziger erinnert fühlt.
**** Franz Stengel
IM FREIEN FALL DURCHS POP-ARCHIV
THE ELWINS
AND I THANK YOU
Affairs Of The Heart/Indigo (VÖ: 12.7.)
Die Kanadier nehmen sich die Freiheit, ganz naiv den Sixties-Pop wiederzuentdecken.
Um abzuheben, braucht es manchmal gar nicht viel. Das Klimpern einer akustischen Gitarre, ein sanft gezupfter Bass, eine verwehte Slide-Gitarre, eine schöne Melodie und schon kann’s losgehen: „Up in the sky with no aeroplane“, singt Matthew Sweeney. Dort oben über den Wolken ist die Freiheit vielleicht nicht gleich grenzenlos, aber doch immerhin groß genug, dass sich The Elwins nicht nur lautmalerische Refrainzeilen leisten können, sondern sich auch ansonsten einen Teufel darum scheren, was aktuelle Popmusik sein könnte. Für AND I THANK YOU haben sie stattdessen lieber wunderschöne Popsongs geschrieben und aufgenommen: Zeitlos statt zeitgemäß. Die Band, die 2006 an einer Highschool in Ontario, Kanada gegründet wurde, nahm verteilt über mehrere Jahre auf, mal in Philadelphia, mal in Seattle, flog dann zum Mischen nach Toronto, und veröffentlichte die zehn Songs schließlich in Eigenregie im Februar 2012. Nun endlich erscheint AND I THANK YOU regulär auch in Europa. Was lange währt, ist im Pop allerdings nicht immer gut. Doch statt nach kleingeistiger Studiotüftelei klingt AND I THANK YOU, als wäre es an einem faulen Nachmittag in einem billigen Kellerstudio eben mal rausgekotzt worden. Vom Eröffnungssong „Come On Out“, einer luftigen Hymne übers abendliche Ausgehen, bis zum Albumabschluss „Sittin‘ Pretty“, in dem die Kinks einen funky Schmachtfetzen zu spielen scheinen, reiht sich ein wundervoll warmer, freundlich-verträumter, sehnsüchtigsommerlicher Indie-Hit an den nächsten. Das Klangbild, von der Band entwickelt zusammen mit Bill Moriarty – seit seiner Arbeit für Dr. Dog ein Spezialist für organischen Vintage-Sound -, orientiert sich mit seinen wunderweichen Gitarren, gelegentlichen Bläsern und von Motown geklauten Basslines zwar an den ganz Großen, sodass die Elwins mal wie die Beach Boys klingen, mal wie Big Star und sehr, sehr oft sogar wie die Beatles. Aber sie scheitern nie an den übermächtigen Vorbildern, weil sie sich nicht mit heiligem Ernst an den Unerreichbaren abarbeiten. Stattdessen erheben sie die Naivität zum Programm. Die mag kalkuliert sein, verkommt aber nie zum Zynismus: The Elwins spielen halt so drauflos, suchen sich aus den schönsten Melodien die naheliegendste aus, singen auch bloß über die Liebe, und träumen sich in „I Miss You And I“ zusammen mit der Angebeteten an einen Strand. Aber am Ende klingen sie immer einen Tick zu verschlafen, zu verhuscht und ein bisschen zu sehr nach Mülleimer, dass die Kopie eine eigene Qualität erhält. „It’s all in a dream / It’s the best place I’ve been“, heißt es noch in dem Song übers Fliegen ohne Flugzeug. Es gibt schlechtere Orte als den über den Wolken, wo The Elwins ihre Songs finden.
***** Thomas Winkler
Story S. 27, CD im ME S. 5
ALELA DIANE
Rusted Blue Records/Believe/Soulfood (VÖ: 26.7.)
Persönliche Pein bringt die amerikanische Sängerin zum Folk und zu ihren Stärken zurück.
Auf ihrem letzten Album spielte sie mit der Band Wild Divine, zu der unter anderem Gatte Tom Bevitori gehörte. Wie ein Blumenkind lustwandelte Alela Diane durch die mystischen Weiten des Laurel Canyon, unterstützt von für ihre Verhältnisse energetischer Musik. Danach war die Welt nicht so gut zu ihr. Diane und Bevitori sind nun geschiedene Leute.
Die Band ist damit auch hinfällig. Diese und ähnliche Erfahrungen haben die Folk-Sängerin veranlasst, eingehender über das Thema des Abschieds nachzudenken. „Leaving is the hardest part, that’s what we’ve always said, once upon the other side it is best not to look back, that’s what we say about farewell“, gibt sie im Titelsong zu bedenken. Wenn es doch nur so einfach wäre! In „Before The Leaving“ singt sie von immer denselben Hotelzimmern auf Tour und wie das Leben an ihr vorbeirauscht. Wieder zu Hause bemerkt sie, wie sie das von ihm aufgestapelte Holz in der Veranda förmlich anstarrt. Es gibt angenehmere Situationen. Aber die persönliche Malaise hat dafür gesorgt, dass Diane zu ihrer Paradedisziplin zurückgekehrt ist. Sie umgibt sich wieder mit reduziertem akustischen Sound, der ihr schon auf THE PIRATE’S GOSPEL und TO BE STILL außerordentlich gut stand. So bekommt man die Gefühle und Qualitäten der Songschreiberin hautnah zu spüren. Zu traurig wird es im Übrigen gar nicht.
Das Frohlocken in „Black Sheep“ deutet an, dass diese fabelhafte Frau den Weg aus dem Tal der Tränen bestimmt finden wird.
****1/2 Thomas Weiland
DIFFERENT MARKS
UNTITLED
Pets Recordings
Ideenreicher Pop-House: Erstes und leider auch letztes gemeinsames Album des Nebenprojekts von Catz N’Dogz.
Ein penis-oder tannenzapfenartiges Monstrum fürchtet sich vor einem einsamen Blümelein. Mit dem Cover beginnt das Staunen über eine Platte, aus dem es dann erst mal keinen Ausweg gibt. UNTITLED ist gleichzeitig Debüt und Schwanengesang einer „Supergroup“ aus dem polnischen House-Duo Catz N’Dogz und dem britischen House-Produzenten Martin Dawson, der kurz nach den Aufnahmen an einer Hirnblutung in Berlin starb. Um dem letzten künstlerischen Werk Dawsons maximales Gehör zu verschaffen, verschenkt der Rest der Band dieses Album nun über die Homepage des Labels, www.differentmarks.pets-recordings.com. UNTITLED ist eine Bitter-Sweet Symphony, versprüht eine überbordende Lebensfreude, schlägt – auch dank zahlreicher Gastbeiträge von Künstlern wie James Yuill – einen Haken nach dem anderen, ist mal niedlich, mal episch, mal schweinscool, mal fast albern, unbedingt tanzbar, dann wieder verträumt. Man mag verzweifeln daran, dass dies das letzte Lebenszeichen dieses Teams sein soll. Ein Album, aus dem man locker zwei hätte machen können, zwei gute. So hat man ein sehr gutes. Das schaffen andere in viel längeren Karrieren nicht.
***** Stephan Rehm
DIRTMUSIC
TROUBLES
Glitterbeat/Indigo
Dirtmusic entfernen sich weiter denn je vom Americana-Sound der frühen Tage.
Ungefähr fünf Jahre liegt es zurück, da riefen Chris Eckman (The Walkabouts), Hugo Race (Ex-The Bad Seeds, True Spirit) sowie Chris Brokaw (Come, Codeine) Dirtmusic ins Leben. Auf dem Debüt tauchte das Trio tief in die Welt des Americana ein, auf dem Nachfolger BKO (2010) richteten die drei singenden Gitarristen ihren Blick in Richtung Afrika und verstärkt nach Mali. Eckman arbeitete mittlerweile als Produzent der Wüstenblueser Tamikrest und hatte viele Freunde in Bamako gefunden. In die Hauptstadt reisten sie nun erneut, um TROUBLES aufzunehmen. Diesmal allerdings unter völlig anderen Umständen. Chris Brokaw fehlte, sein Verbleib in der Band scheint ungewiss. Und dann ist da natürlich der Krieg, der das Restduo zunächst davon abhielt, nach Mali zu reisen. Den meisten Musikern vor Ort geht es aber finanziell so schlecht, dass man sich nach deren innigem Bitten umentschied und sich dann in dem Moffou-Studio des afrikanischen Stars Salif Keita einquartierte. Angst herrschte nicht, wohl aber eine angespannte und beklemmende Atmosphäre. Dem Album, dem bislang besten von Dirtmusic, kann man diese Atmosphäre anmerken, in den Texten und in der Musik. Chris Eckman, der dem ME freundlicherweise umgehend einige Fragen zu TROUBLES per E-Mail beantwortete, beschreibt die Tage in Bamako so: „Das Album klingt weder kompakt noch homogen, mehr wie ein Trip durch unterschiedlichste Stimmungen. Hugo Race und ich ließen uns sehr von den vielen Musikern wie Ben Zabo und den Sängerinnen beeinflussen, mit denen wir vor Ort Sessions spielten. Deswegen verlaufen die Songs auch in so unterschiedliche Richtungen.“ Vom Americana der Vergangenheit ist bis auf einige Folkelemente nicht viel geblieben. Gleich das Eröffnungsstück „Chicken Scratch“ klingt wie ein afrikanischer Rave. Auch „Fitzcarraldo“ wird wie das dubbige „The Big Bend“ von hypnotischen Beats angetrieben. Das sehr in sich gekehrte „Up To Us“ fleht nach Frieden, während das ekstatische „La Paix“ zwischen Wut und Hoffnung taumelt. Dem funkigen „Sleeping Beauty“ folgt mit „God Is A Mystery“ ein wunderbarer Song. In ihm spricht Sänger Zoumana Tereta von seinen großen Zweifeln, während Eckman und Race Percussions, elektronische Sounds und Gitarre zufügen, die sich völlig von westlicher Rockmusik gelöst haben. Allerspätestens da ist zu spüren, wie weit die beiden in Mali angekommen sind.
****1/2 Sven Niechziol
DIVERSE
KITSUNÉ SOLEIL MIX 2
Kitsune/Groove Attack
Ein inspirierter Mix, von einem lange Zeit unterschätzten Label. Und der Disco-Soundtrack des Sommers.
Das 2002 gegründete Fashion-und Musiklabel Kitsuné hat in den letzten zehn Jahren schon die eine oder andere Durststrecke überstanden. War man vor circa fünf Jahren noch der Liebling aller Hipster, so hat man in den vergangenen Jahren nicht sonderlich viel Substanzielles gehört. Mit dem von Labelboss Gildas Loaec und Produzent Jerry Bouthier zusammengestellten SOLEIL MIX 2 liefert man dafür jetzt überraschenderweise den perfekten Soundtrack für den verspäteten Sommer ab. Neben altbekannten Bands und Projekten wie Hot Chip, Alan Braxe, Two Door Cinema Club und Yelle gibt es auf dem Album durchaus auch den einen oder anderen weniger bekannten Namen zu entdecken, wie zum Beispiel den amtlichen Remix, den Aswefall von Dombrance und ihrem beschwingten Titel „The Witch“ anfertigten, oder die tief im zeitgenössischen Neo-Disco-Universum verankerte Nummer „Bo Jacksons“ von Kent Odessa. Die Remix-Arbeit besorgte bei diesem Titel Hays Holladay. Etwas zu weit ins gefällige Disco-Land wagen sich The Swiss mit dem Song „Elousia“ vor, die zusammen mit ihrem Remixer Villa nicht viel mehr als altbekannte Stereotypen auftischen. Deutlich besser aufgestellt sind da schon Saint Michel, die bei „Katherine“ gleich mal ganz tief in die Trickkiste mit Synthesizer-Sounds aus den 80er-Jahren greifen. Und auch Kamp! sind bei „Distance Of The Modern Hearts“ der Faszination dieses musikalisch so ergiebigen Jahrzehnts komplett erlegen. Duran Duran und vor allem Spandau Ballet dürften sich über diese überdeutliche Ergebenheitsadresse jedenfalls richtig freuen.
**** Franz Stengel
FAT FREDDY’S DROP
BLACKBIRD
The Drop/Alive
Eine auf Hunderten von Konzerten erprobte Reggae-Privatmusik schwankt zwischen den Temperaturen warm bis lauwarm.
Dieses Album von Fat Freddy’s Drop ist wie eine warme Dusche an einem kalten Maitag. Reinstellen, fließen lassen und für ein paar Minuten in freundlichere Zeiten tagträumen. Von Sunshine-Reggae wollen wir deshalb jedoch nicht gleich sprechen. Was das Ensemble aus Wellington, Neuseeland, in den neun Songs des nunmehr dritten Albums produziert, kommt einer privaten und durchweg liebevollen Fortschreibung von Roots-und Dub-Formaten gleich, angefangen bei der über neunminütigen, sehr organischen Midtempo-Nummer „Blackbird“ bis hin zum sanft angefunkten Finale „Bohannon“(sic!).
Fat Freddy’s Drop spielen sich ihre Lieblingsmusik in einem mit Disco-und Soul-Farben angereicherten Mix auf Albumlänge vor, Hunderttausende haben das so oder ähnlich live schon in Australien und Europa bejubelt. Hin und wieder ist es auch eine lauwarme Dusche, die hier angeworfen wird.
***1/2 Frank Sawatzki
MARCEL FENGLER
FOKUS
OstGut Ton/Kompakt
Techno: Das düstere wie introspektive Debütalbum des Berghain-Resident-DJs.
Es wurde ja schon viel geschrieben über die Dualität des Producer-DJs, den Unterschied zwischen Unterhaltung und Kunst, dem, was er im Club auflegt und dem, was er künstlerisch in seinem Heimstudio so treibt -vor allem, wenn es darum geht, ein Album aufzunehmen. Oft liegen Welten dazwischen. Berghain-Resident-DJ Marcel Fengler spielt auf seinem Debütalbum FOKUS mit offenen Karten. Wir hören mehrheitlich das, was man gemeinhin als „Berghain-Sound“ bezeichnet, obwohl es den gemeinhin gar nicht gibt. Düsterer Techno wie das manisch-flirrende „The Stampede“, das introspektive, aber nicht weniger intensive „Jaz“ oder „King Of Psi“, das Upfront-Maximal-Beats zu minimalistischen Synthfiguren bietet – all das kann man sich ziemlich gut zum einen oder anderen Zeitpunkt während einer 48-stündigen Berghain-Club-„Nacht“ vorstellen. Ambiente Tracks wie der Einstieg „Break Through“,“Distant Episode“ zur Mitte des Albums und der Epilog „Liquid Torso“ mit seinen perlenden Synthesizern dienen als Soundtrack zu den Erholungsphasen.
**** Albert Koch
FLOORPLAN
PARADISE
M-Plant/Rough Trade
Techno/House: Robert Hoods Dancefloor-Alter-Ego mit seinem Debüt.
Seit dem 2010er-Album OMEGA ist mit Robert Hood wieder zu rechnen. 1994 gab das ehemalige Underground-Resistance-Mitglied mit dem Album MINIMAL NATION einem ganzen Genre seinen Namen; zwei Jahre später rief Hood sein Dancefloor-orientiertes Alter Ego Floorplan ins Leben, das 17 Jahre danach dieses Debütalbum veröffentlicht. Während sich der Opener „Let’s Ride“ auch gut auf einer Veröffentlichung machen würde, die den Namen Robert Hood trägt, verschiebt sich der Fokus der Tracks im weiteren Verlauf des Albums in Nuancen in Richtung Soul, Piano-House und Elektro-Funk. Über alle Genres, die Hood hier kapert, legt er das repetitive Mäntelchen des Minimal Techno, das den Eindruck der Homogenität erzeugt. Und so ist PARADISE dann doch irgendwie auch ein echtes Robert-Hood-Album, wenn auch das schwächste in drei Jahren.
*** Albert Koch
FUTURE BIBLE HEROES
PARTYGOING
Merge/Cargo
Das schräge Elektro-Pop-Trio macht sich so seine Gedanken zum Thema Sucht. Für Freunde des schwarzen Humors.
Dieser Stephin Merritt hat manchmal seltsame Anwandlungen. Eine seiner seltsamsten brachte ihn vorübergehend zum vollständigen Verzicht auf elektronische Instrumente. Das bedeutete gleichzeitig das Ende für ihn, Claudia Gonson, Christopher Ewen und ihr gemeinsames Treiben als Future Bible Heroes. Zum Glück hat sich Merritt nun wieder besonnen. Jetzt geht für ihn nichts ohne Synthesizer. In melancholischen Momenten erreicht seine Stimme die Tiefe eines Phil Oakey. Ist mehr Frohlocken gefragt, geht es in die Nähe von Erasure („A New Kind Of Town“). Aber es wäre grundverkehrt, wenn man dieses Album nur an offensichtlichen Einflüssen aus der Vergangenheit aufhängt. Viel wichtiger ist, dass hier eine der schwärzesten Pop-Komödien der letzten Zeit entstanden ist. „I often find when I’m feeling low a drink is just the thing“, singt Gonson zu Beginn. Na klar, der Suff. Er spielt auch in „Drink Nothing But Champagne“ die Hauptrolle. Aber es werden auch andere Fragen gestellt. Warum soll man auf eine Herzattacke lange warten, wenn sie irgendwann sowieso kommt? Man könne sich doch auch rechtzeitig mittels einer Überdosis verabschieden, meint die Band in „Let’s Go To Sleep (And Never Come Back)“. Und die bedauernswerten Nachkommen? Darf man diesem Leben unmöglich aussetzen, deshalb: „Keep Your Children In A Coma“. Diese Lösung hätte den Vorteil, dass man sich dieses großartige Erwachsenen-Album bedenkenlos laut anhören kann. Wie es sich gehört.
****1/2 Thomas Weiland
GOLD PANDA
HALF OF WHERE YOU LIVE
Ghostly International/Alive
Mit seiner zweiten Platte verzettelt sich der britische Elektro-Produzent und Musiker Gold Panda in banalen House-Stücken.
Spoiler Alert: Irgendwie will die Platte in letzter Konsequenz nicht zünden, dabei kann es an einem Mangel von Versuchszahlen oder positiver Grundstimmung gegenüber Gold Panda nicht liegen. Vorschusslorbeeren hat sich der Brite im Jahr 2010 mit seinem Debüt LUCKY SHINER verdient, einem Album, das in gleichen Teilen von der verspielten Seite eines Four Tet und der romantischen Ader von Baths gelernt haben könnte. Das klingt dann in etwa so wie Elektronika aus dem Schlafzimmer, die auch schon mal was von HipHop gehört hat, dabei aber immer nah genug an House bleibt. In ähnliche Kerben schlagen auch die Beats des zweiten Albums, das gerade zu Beginn mit Stücken wie „Brazil“ oder „An English House“ sein bestes Pulver schnell verschießt. Über Jahrmarktpartys bis zum derzeit omnipräsenten Trend mit Balearic Disco, verspricht HALF OF WHERE YOU LIVE etwas, das es bis zum Schluss nicht hält. Dazwischen ruft immer wieder das Fließband. In Tracks wie „We Work Nights“ kann dann auch die hübscheste Harfe nicht mehr sonderlich helfen. Bis, ja bis der knisternde Rausschmeißer mit dem Piano in der Ferne und dem Vocalsample noch einmal daran erinnert, warum es dann doch bitte nicht weniger als immerhin drei Sterne für HALF OF WHERE YOU LIVE sein dürfen.
*** Christopher Hunold
DAVID GRUBBS
THE PLAIN WHERE THE PALACE STOOD
Drag City/Rough Trade
Postrock: Der US-Gitarrist präsentiert auf seinem neuen Album die gesamte Bandbreite seines Könnens.
Es war nicht immer einfach, den Spuren von David Grubbs zu folgen. Der Punkrock seiner ersten nennenswerten Band Squirrel Bait ging auf dem langen Weg durch die USA schnell verloren. Bei Bitch Magnet, Bastro, Gastr del Sol und The Red Krayola schlug sich der singende Pianist und Gitarrist immer mehr auf die experimentelle Seite des Indie-Rock. Dazu kommen neben über 20 Solo-Alben noch unzählige Gastauftritte. Jedenfalls scheint David Grubbs über ein geheimes Antiverschleißmittel zu verfügen. Auch THE PLAIN WHERE THE PALACE STOOD deutet auf keine kreative Krise hin, vielmehr ist dem Allround-Künstler ein Album von großer Bandbreite jenseits der Beliebigkeit gelungen. Sehr spartanisch arrangierten Akustiksongs („Second Salutation“,“The Hesitation Waltz“) folgen Science-Fiction-Sounds wie in „First Salutation“.“Third Salutation“ dringt gar bis in den Bereich des Industrial vor, aber auf THE PLAIN WHERE THE PALACE STOOD hört man keinen herumirrenden Musiker auf der Suche, sondern einen, der sein ganzes Spektrum auftischt.
**** Sven Niechziol
GRANT HART
THE ARGUMENT
Domino/Good To Go (VÖ: 19.7.)
Konzeptrock: Der Ex-Schlagzeuger von Hüsker Dü zeigt sich in Höchstform.
Ein wenig enttäuscht schaute Grant Hart von der Bühne in das Publikum, das nur aus einem kleinen Haufen Alt-Fans bestand. Kaum Frauen waren im Knust in Hamburg im November 2011 zu sehen, auch kein Nachwuchs. Nein, glücklich ist die Karriere des Sängers, Gitarristen und Songwriters nicht verlaufen. Dabei führte er als Teil des Trios Hüsker Dü, damals noch als Drummer, den Hardcore in neue Dimensionen. Nicht zu vergessen, dass er mit „Pink Turns To Blue“,“No Promise Have I Made“ und „Sorry Somehow“ Songs beisteuerte, die einem noch heute das Herz zerreißen.
Hat alles nicht geholfen, Hüsker Dü sind zwar Legende, waren einflussreich aber wenig erfolgreich. Während es nach dem unwürdigen, von Alkohol und Drogen angefeuerten Aus zumindest Bob Mould ganz gut erging (Sugar), dümpelte der sympathische, sichtbar gealterte Mann aus Minnesota in den Niederungen des Alternative Rock herum. Trotz bezaubernder Solo-Alben und ergreifenden Stücken („2541″, All Of My Senses“,“The Main“). Wahrscheinlich wird sich die Situation von Grant Hart nach THE ARGUMENT kaum ändern, dabei besteht das Album nicht nur aus stolzen 20 Songs, sondern 20 stolzen Songs. Als Inspirationsquelle diente das unveröffentlichte, „Paradise Lost“ betitelte Manuskript von William S. Burroughs (den Hart persönlich kannte) sowie das gleichnamige, epische Gedicht des Engländers John Milton. Darin geht es unter anderem um den Sündenfall, um den Höllensturz der Engel, was sich auch in Songtiteln wie „War In Heaven“,“Sin“ und „So Far From Heaven“ widerspiegelt. Aber keine Angst, weder klingen die Songs hier pompös und nur in seltenen Fällen sakral. Hätte Hart nämlich den ganzen Stoff von „Paradise Lost“ umgesetzt, das von Vintage-Orgel-Klängen und Gitarren getragene THE ARGUMENT wäre nach seinen Worten wohl ein Vierfach-Album geworden. Deshalb flog alles mit Religion heraus, aber es blieben noch genügend Themen, um dramatische, melancholische, aufgewühlte, erhabene aber auch verspielte Songs zu schreiben. Wer bitte schön braucht da eine Reunion von Hüsker Dü?
****1/2 Sven Niechziol
MAYER HAWTHORNE
WHERE DOES THIS DOOR GO
Universal Republic (VÖ: 12.7.)
Nicht mehr nur reiner Retro-Soul. Der Sänger tastet sich weiter in anliegende Klanggebiete vor.
Der aus der Gegend von Detroit stammende und heute in Los Angeles lebende Sänger ist bei uns erst einige Jahre bekannt. Dennoch muss er langsam zeigen, wozu er imstande ist. Ewig wird sein Retro-Soul-Trick allein nicht tragfähig genug sein, auch wenn er den wirklich gut beherrscht. Das hat Mayer Hawthorne offensichtlich begriffen. Zum ersten Mal wagt er sich in Nebengebiete des Soul vor. Ein wichtiger Bezugspunkt sind Steely Dan, die in „Back Seat Lover“ und „The Stars Are Ours“ Spuren hinterlassen haben. Wer am formidablen „Wine Glass Woman“ maßgeblich beteiligt war, hört man sofort. Pharrell Williams hat schon zu frühen Zeiten mit N*E*R*D* versucht, rüttelnden Funk mit dem Melodienreichtum des Soft-Rock zu verbinden. Durch Hawthorne fühlte er sich daran erinnert, dass dieser Ansatz nicht so verkehrt war. Britpop spielt auf diesem sehr unterhaltsamen Longplayer ebenfalls hinein. Im Titelsong entdeckt man entfernte Ähnlichkeit mit „Wonderwall“ und zum Schluss in „All Better“ klingen die Beatles durch. Nähe zum HipHop hatte der Sänger schon mal mit einem Gastspiel von Snoop Dogg suggeriert. Jetzt hat er auf Kendrick Lamar bestanden, der in „Crime“ den bösen Compton-Stil hervorkehrt. Die Synthesizer in „Corsican Rosé“ stellen ein von diesem Interpreten bisher nicht genutztes Stilelement dar. Auch sie erweisen sich als patentes Mittel, mit deren Hilfe Hawthorne sein Ziel, eine Mischung aus Tanzbarkeit und Pop-Sensibilität zu kreieren, hervorragend in die Tat umsetzen kann.
****1/2 Thomas Weiland
HOLDEN
THE INHERITORS
Border Community/Rough Trade
Brückenschlag: Sieben Jahre nach seinem Debüt vereint der englische Elektronik-Heimwerker alte und neue Welten.
2013 ist auch das Jahr der Rückkehr der elektronischen Vordenker und Eigenbrötler. Boards Of Canada, The Black Dog und Mike Paradinas haben sich bereits gemeldet. Jetzt ist James Holden dran, der sich für sein zweites Album richtig Zeit gelassen hat. Das Wunderkind will seine Musik eben mithilfe von Instrumenten machen, die er selbst baut und programmiert. Es sind Geräte, die sowohl über analoge als auch digitale Elemente verfügen. Der Gedanke an das Buch „Die Erben“ von William Golding lieferte zusätzlichen Anstoß. Die darin betriebene Zusammenführung von Ursprung und Moderne spielt auch hier die tragende Rolle. Für „Rannoch Dawn“ nutzt Holden das Geräusch, das vor dem Absenden eines Faxes ertönt. Er lässt es über einen motorischen Beat aus der Neu!-Werkstatt laufen. „Renata“ ist ein kleiner Rowdy. Das Flirren zu Beginn wirkt an sich schon sehr physisch. Wenn dann noch echtes Schlagzeugspiel hinzukommt, wird das Ding endgültig zur wilden Nummer. Ganz großartig ist „The Caterpillar’s Intervention“. Hier forciert Etienne Jaumet von Zombie Zombie mit seinem Saxofon einen Vorstoß in die Welt des Fusion-Jazz. Danach durchläuft Holden eine längere introvertierte Phase, die schließlich vom rhythmischen Titelsong und dem hymnischen Souvenir „Blackpool Late Eighties“ abgelöst wird. In Gegenwart dieses unberechenbaren Tüftlers fühlt man sich wie auf einer Forschungsreise.
**** Thomas Weiland
IKONIKA
AEROTROPOLIS
Hyperdub/Cargo
Wenn das Bindestrich-Wort Post-Dubstep einen Sinn ergeben sollte, dann für dieses Album der Britin .
„Letting the sound take flight“ nennt Sara Abdel-Hamid das. Und meint die spielerischen Manöver, die ihr über die 50-minütige Strecke dieses Albums so gelingen. Dazu zählen entspannte Elektro-Pop-Übungen, Italo-Disco-und House-Reminiszenzen und Aus-oder Rückblicke auf ein paar andere Bindestrich-Disziplinen. Wohin der Dubstep uns noch tragen könnte, deutete die unter dem Namen Ikonika produzierende und djende Britin schon auf ihrem Debüt CONTACT, WANT, LOVE, HAVE an, es zog in seiner undogmatischen, stellenweise poppigen Art am Gros der Konkurrenz vorbei. Die tief in den Tracks grummelnden Sub-Bässe waren nicht mehr als ein Ankerpunkt, an dem sich die elektronischen Kreationen Ikonikas bei Bedarf festmachen konnten. Auf ihrem neuen Album lässt Ikonika die Maschinen auch aus ihren früheren Leben erzählen: so nach dem Motto „Wie ich einmal Musik für ein Video-Game gemacht habe“. Beat-Updates treffen auf Sound-Trips in die Vergangenheit. Da schreiben wir ein „Post“ vor den Dubstep und schauen mal, wie’s weiter geht. AEROTROPOLIS ist das halb geöffnete Fenster, das Luft in die Bass-Labyrinthe im Keller lässt. Und unverschämt viel Licht.
**** Frank Sawatzki
IS TROPICAL
I’M LEAVING
Kitsuné/Cooperative Music/Universal
Das zweite Album der sich gerne vermummt zeigenden Londoner Band offenbart endgültig, dass ihr Indie-Elektro-Pop im Kern bloß Mummenschanz ist.
Es gab Zeiten, da dachte man, die Herren beim Kitsuné-Label seien mit der Gabe des Midas gesegnet. Das ist gar nicht mal so lange her. Inzwischen muss man aber an ihrem Urteilsvermögen zweifeln. Ein Grund dafür sind die Knaben von Is Tropical, die sich nun schon zum zweiten Mal gegenüber einer größeren Öffentlichkeit präsentieren dürfen. Eigentlich ist das eine tolle Sache. Da hängt man sich normalerweise voll rein. Womöglich hat das Londoner Trio das auch getan, aber es ist nicht viel dabei herausgekommen. Es fängt schon mit den Basics an. Normalerweise steht jeder britischen Band ein großartiger Blöker vor, der alles anheizt. Hier ist das nicht so. Is Tropical finden auch keinen eigenen Stil. „Video“, einer der besseren Songs, steht unter dem Eindruck der jüngsten Glanztaten von Metronomy. Gerne schielt die Band auch auf die frühen New Order, wie das gitarrenlastige Eröffnungsstück „Lover’s Cave“ zeigt. Oder es geht ein wenig mehr in Richtung Elektro-Pop wie in „Dancing Anymore“. Zu diesem Song gibt es ein versautes Video, das einen spektakulären Eindruck vorgaukelt, von dem man sich jedoch bitte nicht leiten lassen sollte. Is Tropical sind sich nämlich auch nicht zu schade, ihrem Publikum einen trivialen Kinderkarussell-Song wie „Sun Sun“ anzubieten. Ach ja, wie heißt das Album doch gleich? I’M LEAVING? Nur zu. Geht ruhig, Jungs. Schade ist es nicht drum.
** Thomas Weiland
MILES KANE
DON’T FORGET WHO YOU ARE
Columbia/Sony
Der bestgekleidete Mann des kontemporären Britpop spielt sich auf seinem zweiten Album durch ultraharmonische Retro-Nummern.
Er habe, so sagte Miles Kane unlängst, Ian Broudie, in den 90er-Jahren Vorsteher der sehr guten Lightning Seeds, vor allem deshalb als Produzent vorliegender Platte verpflichtet, weil der Pop könne. Er meint damit vermutlich Pop im Sinne von „Gefällt auch deiner Mutter, wenn’s beim Bügeln zufällig bei der BBC läuft“. Wobei: Die wippt vermutlich ohnehin mit, denn Kane bedient sich bei denen, die sie in ihrer Jugend hörte. Die Beatles und die Stones, vielleicht noch die Untertones, ein paar Twang-Gitarren. Ähnliche Einflüsse also wie bei den Last Shadow Puppets, jener Band, die Kane gemeinsam mit Alex Turner von den Arctic Monkeys betreibt. Hier klopfte er bei anderen an: Neben Broudie wirkten unter anderem Guy Chambers und Andrew Partridge (XTC) beim Songwriting mit, auch Paul Weller wird bei zwei Songs als Co-Autor genannt und brummt ein wenig im Hintergrund herum. Alte Recken also, und genau danach klingt DON’T FORGET WHO YOU ARE. Manchmal leider zu routiniert. Das aus Chambers‘ Feder stammende „Better Than That“ etwa ist mit seinen Schmalz-Streichern eher ärgerlich und schielt stark Richtung The Verve zu URBAN-HYMNS-Zeiten, auch textlich arbeitet man allzu oft mit eigentümlich bekannt erscheinenden Versatzstücken. Andererseits hört man: Der Kane kann was. Gerade wenn’s etwas lauter wird, wenn die Gitarre fröhlich dengelt, erkennt man seine Stärke, nämlich den gepflegten Großmaul-Powerpop, nachzuhören in „Bombshells“,“Taking Over“ oder dem Titeltrack.
***1/2 Jochen Overbeck
ALMUT KLOTZ & REVEREND DABELER
LASS DIE LADY REIN
Staatsakt/Rough Trade (VÖ: 23.8.)
Lebenskluge und sinnliche Rock-und Popsongs von zwei Menschen, die sich selbst einen „Frustrationshintergrund“ bescheinigen.
„Vielleicht gibt es irgendwo einen Sinn und irgendwer weiß den Weg dahin, wo Liebe wohnt.“ Die Zeile stammt aus dem Song „Oh, wann kommst du?“, der die Schlagersängerin Daliah Lavi 1971 in die Hitparaden katapultierte. Wenn Almut Klotz (früher: Lassie Singers) und Reverend Dabeler (früher: Rocko Schamoni) den Lavi-Schmachtfetzen heute wieder singen und spielen, wird keine Trash-Nummer daraus, eher eine Rekapitulation, in der Stimmungen verhandelt werden, die über der Zeit stehen – wie so vieles auf diesem Album, das schon einmal da war und sich im Hier &Jetzt neu bewähren darf (Hammond-Orgel, die Welt retten, 70er-Jahre-Rock). Vorgetragen von zwei Menschen, die selbstbewusst von sich behaupten, sie hätten einen „Frustrationshintergrund“. Wenn sich das Fragen und nach Bedeutung Suchen anhäuft, bleiben eben auch fast nur Lieder wie diese. Aus denen eine, Pardon, Sinnlichkeit und Klugheit in die Musik fällt, die auf der Stelle Soul genannt würde, hätte nur eine US-Band sie produziert. Man muss sich Almut Klotz und Reverend Dabeler wie eine Insel der Ausgeschlafenheit im hipsteristischen Berliner Umfeld vorstellen, und was auf die Insel gehört, ist supersonnenklar: das Nachdenken über Liebe, Sehnsucht und das bessere Leben sowie ein Tralali übers Tanzen. Nur einmal zieht der Jubel mit den beiden davon, dann rauschen sie im Chor durch ein beinahe klassisches Rock-Lied, das seltsamerweise zur gleichen Zeit an Joe Cocker in Woodstock und die Les Humphries Singers in Mexiko erinnert und den Titel „Geh in das Licht“ trägt.
***1/2 Frank Sawatzki
FEMI KUTI
NO PLACE FOR MY DREAM
Naïve/Indigo
Bewährte, gesellschaftskritische Afrobeat-Kost des Nigerianers, der sich diesmal verstärkt mit den kulturellen Barrieren zwischen den Kontinenten beschäftigt.
Aus dem zu Anfang seiner Karriere geradezu übermächtigen Schatten seines Vaters Fela hat sich Femi Kuti längst erfolgreich befreit. Nach dem politisch äußerst pointierten letzten Album AFRICA FOR AFRICA beschäftigt sich der Musiker auf NO PLACE FOR MY DREAM diesmal ein wenig mehr mit den kulturellen Barrieren zwischen Europa, Nordamerika und Afrika, ohne allerdings die gesellschaftlichen Probleme aus den Augen zu verlieren. Damit bleibt er seiner bereits früher formulierten Linie treu, „die Leute zum Tanzen zu bringen, während man ihnen hilft, die bittere Pille der Realität zu schlucken“. Und an bitteren Pillen mangelt es in dieser globalisierten Welt nach wie vor nicht. Entsprechend nüchtern fällt das Fazit aus, mit dem Femi Kuti in Stücken wie „The World Is Changing“ oder dem Titelsong seine Zuhörer konfrontiert. Unterlegt von vielschichtigen, pulsierenden Beats lässt er sich aber auch diesmal nicht entmutigen und gibt sich in Tracks wie „Action Time“ gewohnt kämpferisch, ohne jedoch vor der oft sehr hässlichen Realität zu resignieren. Eingespielt hat Femi Kuti NO PLACE FOR MY DREAM in Paris unter der Regie von Produzent Sodi, der bereits sein Album SHOKI SHOKI (1998), einen der Meilensteine seiner bisherigen Karriere, in Form brachte. Musikalisch setzt er bei den elf neuen Songs auf bewährte Zutaten, was aber nicht heißt, seinem Afrobeat würde es auch nur eine Sekunde lang an Schärfe und Abwechslung fehlen.
**** Franz Stengel
LIGHTNING DUST
FANTASY
Jagjaguwar/Cargo
Von wegen Folk! Das kanadische Duo nutzt jetzt elektronische Hilfsmittel.
Es gab nie den geringsten Grund, sich über Black Mountain zu beklagen. Auch das, was die Kanadier per Nebentätigkeiten in die Welt gesetzt haben, hat seinen Reiz. Das gilt auch für Lightning Dust. Amber Webber und Joshua Wells suggerierten mit Infinite Light, dass es ihnen nicht allein um entrückten Folk geht. So kamen primitive Beats aus dem Hause Suicide hinzu. Auf ihrem dritten Album spielt nun der Synthesizer eine große Rolle. Er wird nicht mit voller Wucht eingesetzt. Spartanische elektronische Kulissen lassen Webbers klarer Stimme jeden Raum. Es ist jedoch auch so, dass sich die Tracks sehr voneinander unterscheiden. Beim Opener „Diamond“ glaubt man Don Henleys Burschen des Sommers auf ihrem Weg durchs düstere Labyrinth zu entdecken. Für „Mirror“ entlockt Wells seiner Akai-Workstation den Drumsound aus Talk Talks „Such A Shame“. Der größte Mumm steckt in „Loaded Gun“. Hier ähnelt der Dialog der Musiker sehr dem von The Knife. All das sind nicht etwa ungelenke Versuche einer Neuorientierung. Webber und Wells gehen ihrer Idee entschlossen, ja mit Gier nach. Und erzielen so ihre bisher besten Resultate.
****1/2 Thomas Weiland
LILACS & CHAMPAGNE
DANISH & BLUE
Mexican Summer/Al!ve
Auf Album zwei gibt sich der Downbeat der Sample-Tüftler betont lasziv.
„Danish Blue“, das ist in erster Linie mal der Name eines deftigen dänischen Blauschimmelkäses; zudem aber auch der Titel einer Dokumentation, die sich 1968 für die Legalisierung der Pornografie in Dänemark starkmachte. Mit dem Album DANISH & BLUE verweisen Alex Hall und Emil Amos aus Portland musikalisch primär auf diese Doku. „The most beautiful thing in life is smoking pot and fucking on the waterbed at the same time“, haucht uns im Titeltrack eine Unbekannte entgegen. Viel interessanter ist an dieser Stelle jedoch die Frage, woher Hall und Amos diese Unmenge erlesener Sampleschnipsel beziehen: Immer schön, nun ja, „eingebettet“ in eine lüstern und fett daherkommende Downbeat-Soundlandschaft jaulen da herrlich überzogene Softrockgitarren auf, erklingen andalusisch anmutende Tonfolgen auf der Akustischen, oder verbinden sich süße Fender-Rhodes-Klänge mit gravitätischen Bläsern aus der Büchse, während eine andere Unbekannte dazu schluchzt. Hach, bei so viel Sexyness und Innovation braucht’s weder Pot noch Wasserbett!
***** Martin Pfnür
DAVID LYNCH
THE BIG DREAM
Sunday Best/PIAS/Rough Trade
David Lynch hat ein zweites Album mit Ambient-Swamp-Blues gemacht.
Wenn man ganz tief in sich hineinhört, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die Begeisterung über CRAZY CLOWN TIME der Tatsache geschuldet war, dass ein nicht unwesentlicher Filmregisseur im Alter von 65 Jahren sein Solodebütalbum veröffentlicht hat. CRAZY CLOWN TIME war Swamp-Blues, wie David Lynch ihn sah, Musik mit dem gewissen Gitarrentwang und dem Extrahall für die klaustrophobischen Momente im Leben. BIG DREAM ist nicht so wagemutig wie das Debüt, man kann auch sagen: Lynch hat diesmal mehr Wert auf Songwriting gesetzt, wobei die Frage zu diskutieren wäre, inwieweit Atmosphärenmusik wie diese überhaupt so etwas wie Songwriting benötigt. Was die Lynch-Musik von authentisch gemeintem, in Wahrheit aber restaurativen Blues aus den Sümpfen Louisianas unterscheidet, ist die verfremdete, verhallte Stimme, der Drumcomputer und ab und zu eine wohlgesetzte Dosis Ambience. Im Bonussong „I’m Waiting Here“ darf Lykke Li entrückt säuseln. Manchmal wünschte man der Musik von David Lynch ein wenig von der Radikalität, die seine Filme auszeichnen.
***1/2 Albert Koch
ME-Gespräch S.52, CD im ME S. 5
MAPS
VICISSITUDE
Mute/Good To Go
Auch beim dritten Mal dreht sich beim Ein-Mann-Unternehmen aus Northampton alles um Elektro-Pop.
In den knapp vier Jahren zwischen diesem und seinem letzten Album TURNING THE MIND hat man nicht viel von James Chapman und seinem Alter Ego Maps gehört. Er sitzt lieber zu Hause und brütet über Entwürfen. Minimalismus ist ihm ein Gräuel. Seine Popsongs sind wahre Prunkbauten, in denen sich der Sound machtvoll wie in der Kirche, im Shoegazer-Dickicht oder wie auf dem ersten Album von Propaganda auftürmt. Davon kann er nicht lassen, auch dieses Mal nicht. Allerdings ist er jetzt bemüht, innerhalb des Areals der gefühlvoll konstruierten elektronischen Popmusik zu bleiben. Er achtet mehr darauf, dass seine Liebäugeleien mit Indie-Rock, Techno oder psychedelischer Plusterung nicht zu sehr ausarten. Von dieser Reduzierung profitiert das Album. Ein klug kolorierter Koloss reiht sich an den Nächsten, wobei der Schwerpunkt schon mal zwischen epischem Trance-Pop („You Will Find A Way“) und Dark-Disco mit härteren Beats („I Heard Them Say“) wechseln kann. In dieser Form gibt es so etwas sonst nicht. Andere Produzenten tendieren entweder eindeutig zu Clubmusik oder zu Pop. Chapman schwebt dagegen hartnäckig auf seiner Wolke der Träumerei.
**** Thomas Weiland
TG MAUSS
DEAR STRANGER
Karaoke Kalk/Indigo
Eine elegante Zwischenmusik im Feld von Elektronik, Folk und Noise.
Was war nochmal Folktronica? Eine Vermarktungsstrategie, die für ein Indie-Rock-Publikum erfunden wurde, dem der Einstieg in die Elektronik magenschonend beigebracht werden sollte? Oder schlicht die Wachablösung der Gitarre durch den Laptop im guten Song? So einfach liegen die Dinge nicht bei Torsten Mauss. Auf seinem vierten Album spielt er sich in musikalische Regionen, die kaum Hierarchien zu kennen scheinen. Am eindrucksvollsten gelingt ihm das auf dem zweiten Track von DEAR STRANGER, sanfte Noise-Drones umfließen feine Flüsterpopgesänge, die minimalen Klicker-Beats leisten kaum einen Beitrag zur Erdung des Stücks („Tuesday“). „Don’t Argue“ nimmt Fahrt auf mit funky Gitarren und Beats, die den Talking Heads auf REMAIN IN LIGHT gut gestanden hätten. „Circle Lane“ zum Finale überrascht mit einer Slide-Gitarre, die wie ein elektronisches Rauschen im Song steht. DEAR STRANGER thront als elegant geschwungene Zwischenmusik über dem Gros vergleichbarer Veröffentlichungen, ohne dass dafür eine Etikette vonnöten wäre.
****1/2 Frank Sawatzki
MIDDLE CLASS RUT
PICK UP YOUR HEAD
Bright Antenna/Warner
Ein Album, das außer Rock-Gelärme wenig Substanzielles zu bieten hat.
Mit ihrem 2010 erschienenen Debütalbum NO NAME NO COLOR hinterließen Zack Lopez und Sean Stockham alias Middle Class Rut einen mehr als guten Eindruck. Ihr High-Energy-Rock hat auch auf PICK UP YOUR HEAD nichts von seiner Kraft verloren, wenngleich mancher neue Song nicht an frühere Glanztaten anknüpfen kann. Das Duo aus Sacramento legt zwar immer noch los, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her, aber ihr fataler Hang zu pompösen Posen und überdrehten Klangwänden kann die inhaltliche Leere diesmal nicht kaschieren und so landen Middle Class Rut immer öfter in Gefilden, die man als leicht antiquiert bezeichnen muss. Da hilft es auch nicht viel, dass man mit Dave Sardy (Johnny Cash, LCD Soundsystem) einen Experten als Produzenten verpflichtete. Das Problem sind die vielen durchschnittlichen Songs wie „Sing While You Slave“ oder „Pick Up Your Head“, die außer langweiligen Gitarrenriffs nicht viel zu bieten haben. Und selbst bei Nummern wie „Aunt Betty“, die klingen, als hätten die beiden Musiker bei den Alben von Janes Addiction noch mal ganz genau hingehört, stellt sich keine Begeisterung ein. Middle Class Rut treten mit PICK UP YOUR HEAD ganz gehörig auf der Stelle.
**1/2 Franz Stengel
SANFTE KLÄNGE AUS DER ROBOTER-WELT
MIDNIGHT JUGGERNAUTS
UNCANNY VALLEY
Siberia/Record Makers/Alive (VÖ: 12.7.)
Post-Elektro: Die australische Band wird geschmeidiger, geht mehr in die Tiefe und findet so zu einer besonderen Form von Popmusik.
Vincent Vendetta, Andrew Szekeres und Daniel Stricker haben es schon länger verdient, dass man sie richtig abfeiert. Allerdings stand dem anfangs ein Missverständnis entgegen. Man unterstellte ihnen, dass sie unter dem Namen Midnight Juggernauts im Windschatten der von Ed Banger und Justice initiierten Elektro-Randale Kapital schlagen wollten. Ganz schuldlos daran waren sie nicht. Die Beats ballerten recht heftig, gelegentlich rockte es. Man konnte sie leicht als Dance-Band für große Bühnen auffassen, nicht als intelligente Musiker mit konzeptionellem Unterbau. Aber genau das sind sie. Dieses Trio fühlt sich von Natur aus zur düsteren Seite hingezogen. Schon auf seinem Debüt sah es das Ende einer Ära kommen. Es ging Szenarien der Anti-Utopie durch und wirkte willens, auf dem Weg zur Erlösung Kontakt zu fernen Sphären zu suchen. Dieser Aspekt rückt nun voll und ganz in den Mittelpunkt. Ausgangspunkt der Überlegungen für das dritte Album ist eine Bruchstelle bei der Bewertung von künstlichen Figuren durch den Menschen. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen erreicht man diese Stelle immer dann, wenn ein Roboter in unseren Augen zu human erscheint. Diesen Punkt nennt man „Uncanny Valley“. Man kennt es seit den frühen Siebzigern, seit dem Beginn der heißen Phase der Roboterforschung. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich Midnight Juggernauts auch musikalisch auf die Zeit zubewegen, in der es solche Entdeckungen gab. Im Video zu „Ballad Of The War Machine“ spielt und tanzt die Band in Uniformen vor Kulissen von Überbleibseln aus der sowjetischen Kriegswirtschaft. Aufgenommen hat man die neuen Songs unter anderem in einer alten Kirche im französischen Loire-Tal. Dort konnten Midnight Juggernauts ungestört in die Weiten der kosmischen Musik eintauchen. Dadurch wirken sie sanfter denn je. So sanft, dass man an Air denken muss. Auch der gute alte Giorgio Moroder spielt als Einfluss mit hinein. Etwa dann, wenn mit analogen Synthesizern Klänge erzeugt werden, die an Akkorde eines Spinetts oder die Atmosphäre in alten Science-Fiction-Filmen angelehnt sind. Es tauchen aber auch Beats auf, die man von einem Rave kennt. Der Grund, warum man dieses Album so überaus lieben muss, ist jedoch ein anderer. Midnight Juggernauts waren ja immer schon zu echten Melodien in der Lage. Dieses Mal kennen sie in diesem Punkt kein Halten mehr. In „HCL“, „Streets Of Babylon“,“Sugar And Bullets“ oder „Systematic“ tönt dem Hörer unglaubliche Lust auf Harmonie und Wärme entgegen. Wer vorhat, dem zu widerstehen, bitte schön. Aber wer verpasst schon freiwillig eines der bisher besten elektronischen Alben des Jahres?
***** Thomas Weiland
ED MOTTA
AOR
Membran/Sony Music
Eine Ode an den „Adult Oriented Rock“ der 70er-Jahre.
Dieser Tipp stammt nicht von uns, sondern vom Künstler höchstselbst: Bevor Sie dieses Album hören, streifen Sie sich bitte ein Hawaii-Hemd à la Magnum über, dazu Slipper ohne Socken wie in „Miami Vice“. Setzen Sie sich in ein Cabrio und cruisen Sie in den nächsten Sonnenuntergang! AOR ist Ed Mottas Liebeserklärung an das gleichnamige ästhetische Programm und die Protagonisten des „Adult Oriented Rock“ aus den 1970ern, sie macht sich in extrem ausgeschlafenen Midtemposongs mit dezentem Soul in der Stimme und klinisch sauberen Keyboardarrangements breit – und einer Funkyness, die Füße einschlafen lässt. So soll das sein, das Gaspedal im Cabrio ist festgestellt, mit AOR düst man nicht durch Köln-Nippes, sondern über den Pacific Coast Highway aus dem Phantasialand des Pop.
*** Frank Sawatzki
MYRON & E
BROADWAY
Stones Throw/Groove Attack
Dieses amerikanische Soul-Duo liebt kleine Umwege.
Leibhaftige Soul-Narren werden Myron & E kennen. Das Duo stellte sich vor fünf Jahren zum ersten Mal mit der Single „Cold Game/I Can’t Let You Get Away“ auf dem finnischen Label Timmion Records vor. Ihre Begleitband kam ebenfalls aus dem skandinavischen Land und hieß The Soul Investigators. Nach einigen weiteren Singles vertrauten Myron & E auch bei den Aufnahmen zu ihrem Debütalbum auf die Dienste der Analogfreaks aus dem hohen Norden. Das war eine gute Entscheidung. Es gibt heute eine Menge von Soul-Produktionen, die sich an Vorbildern aus den Sechzigern oder Siebzigern orientieren. Aber keine klingt so lässig wie diese. Auch Myron Glasper und Eric „E“ Cooke verzichten auf übermäßige Kraftanstrengungen. Sie gehen es ruhig an. Normalerweise bedeutet so eine Einstellung für jede Produktion aus dem Genre Soul den sicheren Tod. Nicht aber hier. Klassiker wie Sam Cooke, The Impressions, Al Green, The Chi-Lites oder Marvin Gaye haben schon Spuren hinterlassen. Durch die zurückhaltende Art aller Beteiligter werden sie aber ein Stück weit verwischt. Am Ende hat man etwas Neues vor sich. Wollen wir es Cool Soul nennen?
**** Thomas Weiland
NEON NEON
PRAXIS MAKES PERFECT
Lex/Alive
Gruff Rhys und Boom Bip beleben ihr 80er-Jahre-Projekt wieder und begeben sich damit in die Italo-Disco.
Das erste Neon-Neon-Album STAIN-LESS STYLE erzählte die Geschichte des amerikanischen Autoherstellers John DeLorean, der die 80er-Jahre mit seinem hedonistischen Lebensstil und der Erfindung des DMC-12 (der Zeitmaschine aus dem Film „Back To The Future“) verkörperte. DeLoreans Leben passte so gut zur Synthie-Nostalgie von Gruff Rhys und Boom Bip, dass ein weiteres Neon-Neon-Album mit anderer Thematik geradezu undenkbar schien. Dann stieß Rhys wieder auf einen Geschäftsmann, dessen Biografie ihn faszinierte: Giangiacomo Feltrinelli war ein italienischer Verleger, der sich als Aktivist und Herausgeber politisch heikler Romane wie „Doktor Schiwago“ im Italien der Fünfziger bis Siebziger einen Namen gemacht hat. So wagen sich Rhys und Boom Bip auf PRAXIS MAKES PERFECT noch weiter in die Italo-Disco als zuvor. Gitarren hört man fast keine mehr, dafür Casio-Keyboards, Vocoder und die Stimmen des 80er-Jahre-Popsternchens Sabrina Salerno und der Schauspielerin Asia Argento. Songs wie „Dr. Zhivago“,
„Hammer & Sickle“ und das an DÖFs „Codo“ erinnernde „Shopping (I Like To)“ sind charmant und fast so hittauglich wie „I Lust U“ und „I Told Her On Alderaan“ vom Vorgängeralbum. Insgesamt wirkt PRAXIS MAKES PERFECT aber trotz der relativ kurzen Spielzeit von einer halben Stunde etwas langatmig.
*** Reiner Reitsamer
NO JOY
WAIT TO PLEASURE
Mexican Summer/Alive
Shoegaze und Dream Pop: Das zweite Album der Band aus Montreal.
Für eine stark vom Shoegaze geprägte Band ist das Jahr 2013 sicherlich nicht das verkehrteste, um ein neues Album zu veröffentlichen; ist es doch so etwas wie das Jahr des Erwachens aus dem Dornröschenschlaf: My Bloody Valentine, die Titanen des Shoegaze, haben im Februar nach 22 Jahren wieder ein neues Album veröffentlicht. No Joy aus Montreal haben zwar deutlich weniger Zeit in ihr zweites Werk investiert, müssen sich mit WAIT TO PLEASURE jedoch keinesfalls vor MBV verstecken, denn es ist alles wieder da: Die meterhohen Gitarrenwände, der süßlich-unverständliche Gesang, der so schön mit dem brachialen Sound kontrastiert, und schließlich die herrlichen Melodien, die in diese reißenden Flüsse aus Geräusch eingebettet sind. Während sich Stücke wie „E“ recht ungeniert der obigen Stilmittel bedienen, kombinieren Jasamine White-Gluz und Laura Lloyd gerne auch mal die Cure’sche Hallgitarre mit Sprechgesang („Blue Neck Riviera“) und schlagen besonders in Albumhälfte zwei deutlich sanftere Dream-Pop-Töne an.
**** Martin Pfnür
OMAR-S
THANK YOU FOR LETTING ME BE MYSELF
FXHE Records
House-Anführer Omar-S macht mal wieder ein Album.
Vielleicht bedarf es etwas Kontext, vielleicht reicht aber auch nur die Musik, die Alex O. Smith seit unzähligen Jahren und scheinbar pausenlos als Omar-S unter dem hungrigen Volk verteilt, um zu begreifen, dass dieser Mann niemandem mehr etwas beweisen muss. Omar-S thront unbeeindruckt aller Trends und Newcomer ganz oben, kann alle paar Monate etwas Neues in die Regale stellen, ohne dass die Qualität seiner Arbeit leidet. Sein letztes Album hieß IT CAN BE DONE BUT ONLY I CAN DO IT, und auch wenn man mit einem Schmunzeln schon abwinken will: Verdammt, er hat ja doch recht. Wer, wenn nicht er, darf sich posend vor sein Auto stellen, wenn er ein Cover braucht? Ohne noch Gamechanger sein zu wollen (die Regeln für das Spiel schreibt er schließlich sowieso mit), ist auch das nominell dritte Album wieder eine nicht überraschende, aber überragende Zusammenführung seiner Stile. Euphorisch, dreckig und kompromisslos komponiert sich Omar-S durch seine eigene Discografie, erklärt Chicago und Detroit zu Partnerstädten, nimmt von Techno bis Acid und House alles mit und lässt die nicht erlaubte Frage „Hat er es noch?“ im Keim ersticken. Das lieblich betitelte „The Shit Baby“ dient als Zusammenfassung, wenn das Piano über einen rohen Beat rollt und die HiHats applaudieren. Große Platte.
***** Christopher Hunold
OOOOO
WITHOUT YOUR LOVE
Nihjgt Feelings/Rough Trade
Witch House is dead. Nicht ganz: Chris Dexters Album schleppt sich mit letzter Kraft auf den Plattenteller.
Der Selbstversuch bleibt ergebnislos. Die Freude an „3:51 AM“ und „5:51 AM“ des Debütalbums von Chris Dexter alias oOoOO ist nicht an die vorgeschlagene Uhrzeit gebunden. Anderswo wird es dafür spannend. „Mouchette“ könnte auch die Gute-Nacht-Melodie diverser apokalyptischer Reiter sein, wie sie sonst nur auf dem Label Modern Love ihr Unwesen treiben. Ein gepresster, stampfender Beat, eine Bassdrum, die sich pumpend um das Wohl der Magengrube sorgt, dazu unkenntlich gemachte Stimmfetzen und Pianoklänge. Fertig ist der „Hit“ des Albums. Eine ähnliche Ausrichtung hätte auch dem Rest der Platte gut getan, dafür sind die weichen synthiebeladenen Beats und der teils zu verwaschene Sound nichts, was einer vernünftigen Anlage gut zu Gesicht steht. „The South“ parkt zu lange in der Trap-Hölle und der Titeltrack fühlt sich viel zu wohl in seiner Harmlosigkeit. Sobald sich Dexter an die Ursprünge dieses Internet-Genres Witch House erinnert, wird es wieder spannend. Tracks wie „Crossed Wires“ oder „Misunderstood“, die Dub Techno in die Verlosung bringen, geben der Platte Atmosphäre, die Kaderleichen wie „On It“ gerne hätten.
*** Christopher Hunold
SKLAVEREI, RELIGION UND GROUPIE-FICK
KANYE WEST
YEEZUS
Def Jam/Universal
Wenn diese Rezension erscheint, wird YEEZUS längst Kanon sein, analysiert und abgeheftet als Manifest der Rebellenphase von Kanye West.
Man wird dann über Jay-Z und seinen Millionendeal mit einem Mobilfunkhersteller sprechen, über das nächste gemeinsame Album der beiden Hip-Hop-Herrscher oder eben über irgendeine andere Eventveröffentlichung. Dennoch wird sich die Popgeschichte einteilen lassen in vor YEEZUS und nach YEEZUS, das wahrlich nicht das beste von Kanye „Yeezy“ Wests sechs Solo-Alben ist, aber mit Sicherheit eines der wichtigeren. Seine kulturelle Durchschlagskraft zeigte sich in den Stunden nach dem Leak, als sich auf Twitter das ganze Ausmaß der Verehrung, Verstörung und Verheerung entfaltete.
„OMG, does he even realize that #Yeezus sounds like Jesus?!?“ – als wäre nicht die eigentliche Frage, ob sich Jesus darüber bewusst ist, wie sehr „Jesus“ nach „Yeezy“ klingt. So wichtig ist der einst belächelte Emporkömmling aus Chicago mittlerweile, dass er mit Marketingstunts und Auftritten bei „Saturday Night Live“ eine gesellschaftliche Debatte lostreten kann, die weit über die üblichen Diskussionen um sein Ego und seine Entgleisungen hinausgeht. Weil Pop nun mal im Wechselspiel mit seiner Rezeption besteht, und weil es Kanye mit diesem Spiel ernst ist wie keinem zweiten, etwa wenn er sich seine Beats von hippen Retrofuturisten wie Evian Christ und Arca besorgt oder sich im Interview mit der „New York Times“ als moderne Mischung aus Malcolm X und Miles Davis inszeniert. Dabei ist nicht entscheidend, was er sagt – Rassismus gibt es immer noch; Unterdrückung gibt es immer noch, aber ich weiß das, und das ist, was mich zum Menschen macht -das haben auch andere gesagt. Es geht um das Wie, seinen Mut, sich angreifb ar zu machen durch Überzeugungen, Hingabe und den provisorischen Gegenangriff, den Kanye als Stilmittel kultiviert hat wie seinen schonungslosen Selbsthass inmitten all der Selbstverliebtheit. Er hat dieses Album nicht geschrieben, sondern geschrien, egal ob es um die post-industrielle Sklaverei der Erwartungsindustrie geht, um Religion, das Vaterwerden oder um den sinnlosen Groupie-Fick. Der Sound? Skizziert von Daft Punk und der Elektro-Avantgarde um Hudson Mohawke, zu pompösem Powerpop ausproduziert von West und seinem Klangingenieur Mike Dean, zu purem Punk reduziert von Rick Rubin. Rohe, radikale, rücksichtslose Rap-Nichtmusik mit verzerrten Reggae-Samples, abenteuerlichen Wendungen und der Energie von House und Trap, ohne dabei tanzbar zu sein. Die abschließende Hedonistenhymne „Bound“ ist da nur ein scheinbarer Bruch: In Kanyes Konzeptkunst wird immer auch Platz sein für Kunst um der Kunst Willen. Das macht YEEZUS zur besten überambitionierten Platte aller Zeiten.
***** Davide Bortot
Covervisionen S. 24
PET SHOP BOYS
ELECTRIC
X2 Recordings Ltd/Rough Trade (VÖ: 12.7.)
Die Best-Ager der britischen Popmusik siedeln ELECTRIC nah am Beat an – und liefern damit nicht eine Erweiterung, sondern eher ein Korrektiv zum verregneten Vorgänger.
Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, dass Neil Tennant und Chris Lowe mit ELYSIUM eine Platte veröffentlichten, die quasi ein Update des 1990 erschienenen BEHAVIOUR war. Eine eher sentimentale, retrospektive Angelegenheit, die Stimmungen transportierte, aber keine verändern oder gar schaffen wollte und deren Semi-Hit „Winner“ doch etwas hingeschlonzt wirkte, wie eine launige, bittere Pflichterfüllung. Ob von diesen Aufnahmen Material übrig blieb oder ob die beiden nach all der Einkehr doch das Bedürfnis verspürten, Kernkompentenz in Sachen Bumm zu beweisen, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall setzten sie sich noch mal mit Stuart Price zusammen, den sie von ihrer 2009er-Tour kennen, wo er die Live-Arrangements schrieb, der Hörer natürlich von seiner Band Zoot Woman, sehr vielen Pop-Produktionen und noch mehr Remixen. Gemeinsam entwarfen sie ein Album, das sich in Sachen Selbstverständnis irgendwo zwischen INTROSPECTIVE und den Remixalben der DISCO-Reihe ansiedelt. Bedeutet: Der Beat strukturiert, schafft Räume, in denen Pop eher von links nach rechts gewuchtet als verarbeitet wird. Oft wirkt das rastlos, manchmal bemüht – wie beim Skrillex-Halbpastiche „Shouting In The Evening“ -, meistens aber geht es auf, weil eben kein Platz für eventuelle Verzettelungen bleibt. Stattdessen entsteht durchaus referenzieller (IDM, Eurodance, Italo, House und, na ja, eben Dubstep) Dance, der seinen Höhepunkt im bereits bekannten „Axis“ findet und in „Inside A Dream“, einem unerhört smart um eine Bassline gebauten und mit Synthies abgetupften Produzentenmonster. Zwar covert man Bruce Springsteen („The Last To Die“), das durchaus vorhandene eigene Erzähltalent schlägt nur selten durch, eigentlich nur einmal: „Love Is A Bourgeois Concept“ ist Pop in Reinkultur und lässt Tennant zu hübschen Fanfaren und Bummzack-Beat über dieses crazy little thing called love und eventuelle Gegenströmungen (Karl Marx, Tee trinken wie Tony Blair) räsonieren. Dass Form ansonsten stets vor Inhalt geht, ist schade, denn so passgenau Price die Pet Shop Boys hier auch einkleidete: Ein bisschen Seele, ein paar Bruchstellen, ein paar Zweifel, all das hätte schon gutgetan.
***1/2 Jochen Overbeck
PURE BATHING CULTURE
MOON TIDES
Memphis Industries/Indigo
Wolkige Reflexionen aus dem Inneren eines Wattebausches. Der Dream Pop scheint das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben.
Wie war das mit den Platten von Beach House, Washed Out oder Memory Tapes? Bei allen ätherischen Zutaten – nach Fahrstuhlmusik klangen die flauschigen Songs dieser Bands nie. Dream Pop war gewiss keine Erfindung dieser Jahre, Dream Pop ist aus den Geschichten von Ambient, Shoegaze und Seventies-MOR erklärbar, vor allem aber so etwas wie das Liebchen einer Indie-Gemeinde geworden, die sich von ihrer Gitarrenfixiertheit und Folkseligkeit wieder einmal befreien musste. Man kann das in den Biografien von Daniel Hindman und Sarah Versprille wiederfinden, vor Jahren spielten sie in der Band des Neo-Folkies Andy Cabic. Auf ihrem Debütalbum als Pure Bathing Culture feiern sie die Loslösung mit einer beiläufigen Wolkigkeit, die dem Hörer, allen warmen Klangfarben zum Trotz, doch Nähe verweigert. Diese Songs scheinen in einem Wattebausch gefangen. Und wollen doch immer raus, können nur nicht. Melodien versenden sich in Wolken, Keyboards plätschern in der Sonne, der Dream Pop schläft ein. Mit Pure Bathing Culture scheint vorerst das Ende der Fahnenstange erreicht.
**1/2 Frank Sawatzki
RITORNELL
AQUARIUM EYES
Karaoke Kalk/Indigo
Das österreichische Klangkunst-Duo schwebt zwischen akustischen und elektronischen Sounds, und klingt dabei immer transzendent, ja zerbrechlich.
Wie wenig Ritornell mit Popmusik zu tun haben, demonstrieren sie mit ihrer so verhuschten wie experimentellen Coverversion von „In Every Dream Home A Heartache“. Dieser großartige Song stammt vom zweiten Roxy-Music-Album FOR YOUR PLEASURE und lässt sich nur aufgrund seiner Textzeilen dekodieren. Die Stücke des österreichischen Duos um die Klangkünstler Richard Eigner und Roman Gerold bleiben unter Mithilfe von Patrick Pulsinger auch auf dem zweiten Album, AQUARIUM EYES, schemenhaft, kaum greifbar, flüchtig, amorph, verschleppt. Sie zerrinnen zwischen den Ohren, in denen bis auf einige Erinnerungsrückstände kaum etwas hängen bleibt. Aber sie verfügen auch über so viel Eigencharakter, dass man sie beim nächsten Kontakt sofort wieder erkennt. Vor allen in den poppigeren Momenten wie in „Urban Heartware“, das ein wenig an CocoRosie und The Books erinnert. So konkret wie letzteres New Yorker Duo aber präsentieren sich Ritornell (im Übrigen ein Begriff aus der Musikwissenschaft) nur selten. Famos gerät auch die über Reverse-Töne und Pianoakzente rezitierte Meditation „Cherry Blossom“. Die häufig verfremdeten und elektronisch bearbeiteten Klänge von Kalimba, Vibrafon, Kontrabass und Klavier werden in keine Form gegossen, bekommen weder Struktur noch ein Korsett. Sogar noch weniger als auf dem Debütalbum GOLDEN SOLI-TUDE, auf dem sich noch avantgardistischer Jazz und Rhythmik finden. Dafür tauchen nun Texte mit Zeilen auf wie „I dreamed I spoke French, I dreamed on my arm was a big wound, I dreamed I broke into a cage …“, die dieser sehr stratosphärischen Musik auch keinen Halt geben. Alles wirkt so zerbrechlich, bis ins Detail inklusive jedem kleinen Nebengeräusch durchdacht, jedoch nie – und darin liegt die Klasse dieses ambitionierten Projekts – beliebig oder gar gekünstelt. Und alles sehr entspannt.
***1/2 Sven Niechziol
ROSE WINDOWS
THE SUN DOGS
Sub Pop/Cargo
Die Schwere des täglichen Blues lauert am Boden dieser Folk- und Psych-Rocksongs.
Die Geschichten von dem Bluesvater Robert Johnson, der an einer Kreuzung in Mississippi seine Seele dem Teufel vermacht haben will, damit er besser spielen kann, sind Bestandteil der Folklore, die sich wie ein Wurm durch die amerikanische Pop-Historie frisst. Rabia Shabeen Qazi begegnet dem Locken des Teufels im dunkelsten Song dieses Albums, „Schätzchen, lass mich dich ins Gelobte Land bringen“. Doch sie lehnt ab, „lass mich dort, wo ich bin“, und am Ende dieser Absage verstehen wir, dass die Sängerin lieber im Blues dieser Tage verharrt, als sich auf einen dreckigen Deal einzulassen. In gewissen Sinne ist THE SUN DOGS auch ein Blues-Album geworden, in dem die Schwere des Seins mit all den Mitteln verhandelt wird, die einer gut informierten amerikanischen Band zur Verfügung stehen. Diese hier stammt aus Seattle und besitzt eine Flötistin, die auffallend oft die Lead-Parts übernehmen darf. Rose Windows schaffen mit Pedal-Steel-Gitarre, Piano und Cello jene weiten Klangräume, in denen die Lieder hin und her treiben oder sich in fernöstlichem Klingklang verlieren können. Ab und an fahren die Psych-und Folk-Rocksongs der Rose Windows auch schwer durchs Gebälk – wie ferne Echos der Bluessongs, die Jefferson Airplane in den Sixties mit Acid aufgekocht hatten. Am Ende kehrt die Band wieder an die Kreuzung zurück, an der Robert Johnson gestanden haben soll. Die Streicher, die dazu erklingen, hörten wir übrigens schon in Led Zeppelins „Kashmir“.
***1/2 Frank Sawatzki
THE SHOUTING MATCHES
GROWNASS MAN
MiddleWest/Alive
Feelgood-Bluesrock von Berufsmelancholiker Justin Vernon (Bon Iver) und seinen alten Freunden.
Man muss sich Justin Vernon als einen glücklichen Menschen vorstellen. Als einen, der sich am Steuer seines Pickups die Sonne auf den Arm scheinen lässt. Als einen, der auch gerne mal mit Bierdose und Basecap im Stadion sitzt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Mit Bon Iver, seinem zuletzt auf Bandgröße angewachsenen Ein-Mann-Folk-Projekt, mimte Grammy-Gewinner Vernon stets den missverstandenen und verlassenen Misanthropen – der er offenbar gar nicht ist. Gemeinsam mit seinen alten Kumpels Phil Cook von Megafaun und dem Bon-Iver-Vorgänger DeYarmond Edison sowie mit Brian Moen von Peter Wolf Crier und Laarks hat Vernon nun nämlich ein lupenreines Bluesrock-Album mit entsprechendem Instrumentarium (Die Orgeln! Die Steel-Gitarren! Die Mundharmonika!) aufgenommen, dem das Prätentiöse von Bon Iver total abgeht. Vernon kann auch ohne Falsett singen, seine Bruststimme ist nicht weniger eigen. Textzeilen wie „I can’t find my love“ klingen plötzlich nicht wehleidig, sondern nach einem launigen „So what?“. „Mother, When?“ ist fast der Soulgospel, wie ihn auch Ben Harper oft zitierte; und wer will, der hört gar Tom Petty, Lynyrd Skynyrd und noch mehr Südstaatenrock heraus. Davon bitte nicht abschrecken lassen: Selten hat schwarze Musik von Middle-Class-Weißbroten so inspiriert, zitierfreudig und kurzweilig geklungen. Wie ein geselliger Abend mit Freunden an der Bar. Mit GROWNASS MAN, dem Vintage-Debüt der Shouting Matches, bewahrheitet sich also eine alte Weisheit der Popmusik einmal mehr: gut geklaut ist halb gewonnen. Und den Rest übernimmt die Gästeliste.
**** Fabian Soethof
SMITH WESTERNS
SOFT WILL
Mom & Pop Music/PIAS Cooperative/Rough Trade
Mit ihrem dritten Album zeigt die Indie-Band aus Chicago, dass ihr Entwicklungsprozess Fortschritte macht.
Als sich dieses Trio vor vier Jahren vorstellte, versuchte man sich an Garagenrock, Glam und Punk. In der Zwischenzeit hat sich einiges getan, wie man nun merkt. Bei „3am Spiritual“ denkt man unweigerlich an schwelgerischen Britpop, aber auch an die frühen guten Jahre des Elton John. Britisches gefällt Smith Westerns grundsätzlich. Das zarte Klingelgitarren-Ding der Smiths, frühen Primal Scream oder Wild Swans etwa. Bowie in seiner elektronischen Phase. Die Shoegazer-Träumer. Ein bisschen bissig bleiben Smith Westerns trotzdem. So können sie sich einen kleinen Seitenhieb auf Nörgler nicht verkneifen, die in ihnen nur eine Highschool-Band gesehen haben. Der letzte Track heißt „Varsity“, so wie eine Sportmannschaft, die es in den USA in jeder Schule oder Uni gibt. Musikalisch muss man ihn zwischen Ride und „(Feels Like) Heaven“ von Fiction Factory ansiedeln. Wären die Jungs noch grün hinter den Ohren, würden sie so einen Spagat nicht hinkriegen. Sie sind selbstbewusst geworden und triezen die Zweifler mit melodischem Gitarrenpop der Extraklasse.
****1/2 Thomas Weiland
SOCALLED
SLEEPOVER
SMD NEO-SD
Klezmer-Rap-Chaos: Socalled bringen auf SLEEPOVER alles unter einen Hut.
Zwei Songs waren es, die dafür sorgten, dass wir für den kanadischen Künstler Josh Dolgin ein wenig Platz im Gedächtnis frei räumten: „Work With What You Got“ und „Sleepover“ waren verschrobene Nerd-HipHop-Tracks, denen man die geografische wie biografische Nähe zu der Blase um Chilly Gonzales und Peaches durchaus anhörte. Fast zwei Jahre später erscheint nun das zugehörige Album. Und man erkennt: Bei aller Verschrobenheit bietet dieses Album mehr als akademisch angehauchtes Haha. Dolgin und seine Musiker bewegen sich hellwach und musikalisch versatil zwischen den Genres, verbinden Hip-Hop mit Soul mit Pop mit Klezmer mit serbischem Folk mit Klassik mit Jazz mit Dancehall und mit allem, was es da draußen eben so gibt. Das wirkt zunächst irritierend, etwa beim Cover von Peggy Seegers Folk-Klassiker „Springhill Mine Disaster“, führt aber immer dann zu interessanten Spannungsfeldern, wenn die Gegensätze zunächst groß scheinen: In „Told Me So“ etwa flankiert Gonzales‘ Klavier tieftraurigen Balkangesang und staubige Beats. „UNLVD“ verbindet Pop und Spacefunk mit hübsch akzentuierten Bläsern und Klezmer. „(Oh No There’s) No More Snow“ verbindet Disco, Funk, 70er-Pop und cheesy listening. Das Geheimnis der Platte mag sein, dass alle Beteiligten Ahnung haben: Im knapp 30-köpfigen Ensemble finden sich serbische Streicher und Trompeter, ein ukrainisches Blechbläser-Ensemble, aber auch etablierte Grüßen wie Roxanne Shanté (Juice Crew), Mocky, der 97-jährige Pianist Irving Fields, Enrico Macias, König des algerischen Sixties-Freakbeat und Mighty Sparrow, neben Harry Belafonte und Lord Melody der Hauptverantwortliche für den Pop-Durchmarsch von Calypso in den 50er-Jahren. Wilde Sache. Gute Sache.
***** Jochen Overbeck
ANDREW STOCKDALE
KEEP MOVING
Universal
Rock: Die Wolfsmutter hat ihr Rudel verloren: Andrew Stockdale macht alleine weiter.
Man kann vermuten, dass Andrew Stockdale irgendwann im Laufe seines Lebens ein paar Platten von Chuck Berry angehört hat und vermutlich auch den 1964 aufgenommenen Song „No Particular Way To Go“, eine Nummer übers Autofahren mit weiblicher Beifahrerschaft und nicht klar definiertem Ziel, bekanntermaßen eine der Lieblingsbeschäftigungen der Weltjugend. Stockdale, früher Vorsteher der Band Wolfmother, scheint diesem Hobby anzuhängen, denn gleich mehrfach postuliert er Bewegung als Heilsbringer: Das „One way ticket on an aeroplane“ („Somebody’s Calling“) scheint ein Lösungsansatz zu sein wie auch das „Just keep movin'“ aus dem Titeltrack. In „Vicarious“ wird ebenfalls das Autofahren besungen, im weiteren Verlauf des Albums wird eine alte Karre gekauft, die aber leider nur noch vor sich hinrostet. Macht aber nix, geht er halt zu Fuß, der Stockdale. Dazwischen gibt’s Lebenstipps, etwa: „Let Somebody Love You“. Es ist nicht so, dass jede Platte tiefe Wahrheiten transportieren und Geschichten erzählen muss, aber Stockdales „On the Road“-Romantik geht einem schnell auf den Zeiger, zumal ihre musikalische Auskleidung meist ähnlichen Schemata folgt: wuchtiger Rock der Led-Zeppelin-Schule, der um sich selbst kreist und diebische Freude an der Überlänge empfindet. Die Legende besagt, dass sich Stockdale früher für Bands wie Ween und Pavement interessiert hat. Diese Vergangenheit hat er offenbar erfolgreich verdrängt.
**1/2 Jochen Overbeck
S.Y.P.H.
E.X.
Tapete/Indigo (VÖ: 19.7.)
Notizen aus dem Aufwachraum von Punk und Krautrock: seltsam eckig und unfertig und (wohl deshalb) virtuos.
Daran, dass S.Y.P.H. immer schon diejenige „Neue-Deutsche-Welle-Band“ waren, die sich kaum weniger auf Can und die Geschichte der Krauts als auf den Punkrock-Impetus beriefen, darf aus Anlass dieser kaum erwarteten neuen Platte noch einmal erinnert werden. Oder ist das schon keine S.Y.P.H.-Platte mehr? Weil man mal wieder so zerstritten wie lang nicht mehr war, musste der 1a-Exzentriker Harry Rag durch den 2b-Edeljoker Doc Schoko am Mikrofon ersetzt werden, um S.Y.P.H. Gesang und Text zu verabreichen. Ein Unterfangen, das zahlreiche virtuose Ergebnisse im aktuellen Programm zeitigt -so zwischen Bluesrock, erweitertem Hörspiel und Weiß-nicht-was. „Schick mir ein neues Ritual in den Frühstückskanal, was mich zum Tanzen bringt“, sprechsingt Schoko über einem staubtrockenen Industrial-Fundament, und das klingt so krude wie vieles, was unter dem Namen S.Y.P.H. veröffentlicht wurde, als Veröffentlichungen der Band hauptsächlich die Form von Dissidenztheater und kosmischen Irritationen annahmen, die nicht das schlechteste Erbe des Punk gewesen wären. Es musste aber immer noch ganz anders werden. Hier hat’s eckige Monumente, an denen gekratzt und geschabt wird, Tonsalat, der sich anhört, als wäre er in einem Aufwachraum der deutschen Rock-Geschichte mitgeschnitten worden, aus den Worten kitzelnde Miniaturen wie „Erfolgreich erfolglos“ und Psych-Rock-Beiläufigkeit auf einem einzigen Bierdeckel. Aber auch Songs, die nicht richtig zupacken, oder keine Krallen haben. S.Y.P.H. 2013, ein Konglomerat aus hörenswerten Seltsam-und Unfertigkeiten, das eins sicher sein wird: erfolgreich erfolglos.
**** Frank Sawatzki
TEHO TEARDO & BLIXA BARGELD
STILL SMILING
Specila Records/Rough Trade
Eine spannende Exkursion in die Randbereiche zwischen Klassik, Avantgarde-Pop und Spoken Word.
Kennengelernt haben sich der italienische Musiker und Komponist Teho Teardo, der in den 90er-Jahren in der Rockband Meathead aktiv war, und Blixa Bargeld 2009, bei der gemeinsamen Arbeit am Theaterprojekt „Ingiuria“. Schnell stand fest, dass sie gemeinsam ein Album einspielen wollten. In den letzten zwei Jahren haben sie in Berlin und Rom an den zwölf Songs gefeilt, darunter eine bewegende Coverversion des Titels „Alone With The Moon“(Tiger Lillys). Gemeinsam mit dem Balanescu Quartet und der Cellistin Martina Bertoni entstand so ein mehrsprachiges (deutsch/italienisch/englisches) Album, bei dem Blixa Bargeld mit sehr intimen und persönlichen Texten überrascht, dargebracht in der ihm eigenen, unnachahmlichen Form, irgendwo verankert zwischen Spoken-Word-Passagen und oft erstaunlich melodischem Gekreische. Die Chemie zwischen den beiden, nur auf den ersten Blick unterschiedlichen Musikern stimmt von der ersten Sekunde an. Deutlich wird das in Stücken wie „Buntmetalldiebe“ oder dem nicht weniger fesselnden Titelsong. Die karge Instrumentierung lässt viel Freiraum für Bargelds Stimme, die manchmal ungewohnt zart und zerbrechlich klingt, und trotzdem den ganzen Raum ausfüllt. Vergleicht man das Album mit Bargelds letzten Arbeiten mit den Einstürzenden Neubauten, so wird klar, wie befruchtend sich diese neue Konstellation auf seine Kreativität auswirkt.
**** Franz Stengel
THUNDERCAT
APOCALYPSE
Brainfeeder/Ninja Tune/Rough Trade
Sommernachts-Funk des Go-to-Guy, für alle, die in Los Angeles und Umgebung nach etwas Besonderem am Bass suchen.
Steven „Flying Lotus“ Ellison, der besonnene Herrscher über alle Beat-Aktivitäten in Los Angeles, darf sich auch hier wieder mal auf die Schulter klopfen. Seinem sanften Druck ist es zu verdanken, dass Stephen „Thundercat“ Bruner – vornehmlich bekannt als Bassist der kalifornischen Hardcore-Punk-Institution Suicidal Tendencies von 2002 bis 2011 – , sich auch an eine Solokarriere gewagt hat. Nach dem spannenden Debüt THE GOLDEN AGE OF APOCALYPSE aus dem Jahr 2011, durfte auch vom Zweitling – originell/konsequent APOCALYPSE betitelt – wieder eine gekonnte Fusion aus Jazz, abstrakten Beats und Soul erwartet werden. Und bitte, die Platte ist ein noch feierlicher Ritt durch den Sonnenuntergang geworden. Seine Fingerfertigkeit wirft Burner natürlich nur allzu gern als Trumpf in den Ring. Besonders das ohnehin begeisternde „Heartbreaks + Setbacks“, bei dem der kapitulative Unterton von einem Basslauf konterkariert wird und eine Art Hoffnung entsteht, die präventiv das herausgerissene Herz auf dem Küchentisch drapiert, profitiert von dem Groove, den er gemeinsam mit Flying Lotus heraufb eschwört. Dieser ist als ausführender Produzent erfreulicherweise nicht so omnipräsent. Einzig „Seven“ könnte als Outtake seines letzten Albums durchgehen. „Oh Sheit, It’s X“ ist nominell vielleicht eine überschwängliche Ode an Ecstasy, kann/darf/soll/muss aber auch mit sauberen Nasen, Händen in der Luft und „I just wanna party“-Attitüde (leicht gesagt, genau das ist der Text) für Sonne sorgen, mit der wir ohnehin gerade verwöhnt werden. Das ist alles so gnadenlos stilsicher, aber mit einer ungreif baren Attitüde vorgetragen, die verhindert, dass hier mit dem erhobenen Zeigefinger musiziert wird. Nein, das hier ist Musik einzig und allein um der Musik willen und eine Kaufempfehlung sowieso.
****1/2 Christopher Hunold
FRANK TURNER
TAPE DECK HEART
Vertigo Berlin/Universal
Der britische Singer/Songwriter steigt herab von dem Thron, den er Billy Bragg abgenommen hatte
Der Albumtitel deutet es bereits an. Auf TAPE DECK HEART ist Frank Turner sentimentaler als auf ENGLAND KEEP MY BONES, das ihm vor zwei Jahren nach einer halben Ewigkeit im Untergrund endlich den Durchbruch bescherte. Tatsächlich ist das fünfte Solo-Album des britischen Barden, der bis 2005 in der Londoner Post-Hardcore-Band Million Dead sang, immer noch akustisch, geprägt von Gitarre und Klavier, bisweilen sogar auch aufrüttelnd, aber nur noch indirekt politisch. Das Kämpferische hat der 31-jährige Turner aufgegeben zugunsten der Rückschau, vor allem in seine private Vergangenheit. So erinnert er sich an erste Punkrock-Konzerte, unangenehme Drogenerfahrungen, an Mum und Dad und an Polaroid-Aufnahmen aus scheinbar endlosen Sommern, an die Zeiten eben, als Platten noch auf 90-Minuten-Kassetten überspielt wurden. Das ist immer noch recht eingängig und hitverdächtig, aber den Thron von Leftie-Singer/Songwriter Billy Bragg, den Turner zwischenzeitlich erobert hatte, von dem steigt er mit diesem Album wieder freiwillig herunter.
*** Thomas Winkler
WALTON
BEYOND
Hyperdub/Rough Trade
Ein junger Brite soll und muss sich nicht entscheiden und gewinnt mit UK Bass, Grime und House.
Auch wenn sich stets alles und jeder überholt und die Genres von heute die Samples von morgen sind, kommt der 22-jährige Walton mit einem Referenzkatalog um die Ecke, den vielleicht eher der ravende Papa ansteuern würde. Grime, UK Funky, House, Garage. Die Säulen, auf denen Hyperdub neben Dubstep und Burial sein Imperium errichtet hat, wurden zuletzt von abseitigen Popalben verdrängt, sind aber auf BEYOND wieder da. Ein bemerkenswert abwechslungsreiches Album ist das geworden. Melodischer Bass und gepitche R’n’B-Vocals fehlen genauso wenig wie die ratternden Klanghölzer von 808 State („Need To Feel“), auch einen waschechten 90er-House-Track mit Soul in der Stimme und Bläsern im Hintergrund will der junge Mann gehört wissen. Von „Every Night“ ist die Rede, ein Track, der nach den ersten 15 Minuten des Albums relativ unerwartet kommt. Zuvor treten greller, bleepender Wonky und Grime auf den Plan („Cant U See“). Und immer läuft alles flüssig zusammen. Er bleibt der einzige Koch und verdirbt seinen Brei schon mal gar nicht. Gegen Ende zitiert er noch Labelkollege Burial in „Take My Love“ und beschließt ein spannendes erstes Album mit dem dröhnenden House-Stampfer „Amazon“.
**** Christopher Hunold
WHEN SAINTS GO MACHINE
INFINITY POOL
!K7/Alive
Album Nummer drei der dänischen Elektro-Popper hält das hohe Niveau des Vorgängers.
Mit ihrem 2011 erschienenen Album KONKYLIE gelang der Band aus Kopenhagen der Durchbruch: Platz zwei in den dänischen Charts -ein großer Schritt nach dem drei Jahre zuvor erschienenen Debüt TEN MAKES A FACE, das es nur bis auf Rang 34 schaffte. Eigenwillig versponnen und entrückt präsentierte sich das Quartett auf ihrem Zweitwerk. Und genau so geht es auf „Love And Respect“, dem mit Hilfe des Rappers Killer Mike entstandenen Opener ihres zweiten Longplayers, weiter. When Saints Go Machine haben zwar diesmal einen anderen Ansatz verfolgt, das Ergebnis ist allerdings fast das gleiche. Wo andere Bands mühsam nach einer eigenen Identität suchen, scheint diese Formation damit keinerlei Probleme zu haben. „Auf dem ersten Album haben wir versucht, mit Maschinen Natur zu simulieren“, erklärt Frontmann Nikolaj Manuel Vonsild. „Mit INFINITY POOL wollten wir dagegen die Absurdität erfassen, dass die Menschheit versucht, die Natur zu konstruieren.“ Auch wenn die Übertragung dieses philosophischen Ansatzes nicht bei jedem Stück nachzuvollziehen ist, so durchzieht die zwölf Songs wieder jenes unverwechselbare Sehnsuchtsgefühl, das bereits das erste Album auszeichnete. Selbst da, wo die Popanteile relativ deutlich in den Vordergrund treten, wie zum Beispiel bei „System Of Unlimited Love“, wehren sich When Saints Go Machine erfolgreich gegen jede aufdringliche Zugänglichkeit. Und genau deshalb strahlen ihre Nummern eine Wärme und Tiefe aus, die man sonst nur von klassischer Soulmusik kennt. In manchen Momenten, siehe „Degeneration“, erinnert die Stimme von Nikolaj Manuel Vonsild dabei in ihrem klagenden, leicht nasalen Ton erstaunlich an die von Bryan Ferry.
****1/2 Franz Stengel
WOOG RIOTS
FROM LO-FI TO DISCO!
From Lo-Fi To Disco!/Broken Silence
Hier steht drauf, was drin ist: von Lo-Fi bis Disco (und Country geht auch).
FROM LO-FI TO DISCO!, noch Fragen? Das ist nicht nur der Titel des neuen Albums der Woog Riots, so heißt auch das selbst gegründete Label, auf dem Silvana Battisti und Marc Herbert seit diesem Jahr veröffentlichen. Mit ihrer vierten Platte (enthält neben neuen Songs auch Single-und Samplerbeiträge der vergangenen Jahre) spielen die beiden Darmstädter ihre Kernkompetenz aus, sie wissen, wie man Catchyness und Verschrummtheit in drei Minuten auf einen Nenner bringt. Um es im Internetversandsprech zu sagen: Leute, die Woog Riots kaufen, kaufen auch Stereo Total und die Moldy Peaches (und hier erwerben sie darüber hinaus auch noch ein flinkes Country-Stück). Pop-Diskurs, Zitatlust und Retromania, wo man hinhört: „Counter Culture (First Take)“ hätte mühelos auf einer Antifolk-Compilation der Nullerjahre Platz gefunden, „Too Funk To Drug“ nimmt die Punk-Parole der Dead Kennedys („Too Drunk To Fuck“) mit und kommt doch eher einer Wohnzimmerversion von „Le Freak“(Chic) nahe. Mit „My Andy Warhol Poster“ von The Times, „Take The Skinheads Bowling“ von Camper Van Beethoven und „Friends Of Mine“ von Adam Green sind auch drei waschechte Coverversionen dabei, die das Universum der Woog Riots ausreichend beschreiben. Aber ist dieses Album nicht ein einziges Cover, in dem sich die so geliebte Popkultur nach vorne und hinten raus spiegeln darf? Vorgetragen mit all den Unzulänglichkeiten, die die Woog Riots erst zu den Woog Riots machen. FROM LO-FI TO DISCO! ist ein so schlauer wie unterhaltsamer Pop-Art-Spaß, der sich vernünftigerweise jeden Anflug von Wichtigkeit verbietet.
**** Frank Sawatzki
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