PLATTEN

„MY LOVE FOR YOU WILL STILL BE STRONG AFTER THE BOYS OF SUMMER HAVE GONE“

„The Boys Of Summer“, Don Henley, 1984

Betr.: alles Es gibt nicht viel zu sagen. Außer dass hier der fetteste Review-Teil seit Langem beginnt.“Die Industrie“ kommt nach der Sommerpause wieder in die Gänge. Das spiegelt sich in einem veröffentlichungsstarken und qualitativ hervorragenden Musikherbst wider. Es schweigt und genießt: Plattenmeister Koch

AU REVOIR SIMONE

MOVE IN SPECTRUMS

Moshi Moshi/[PIAS] Cooperative/Rough Trade (VÖ: 20.9.)

Nach einer längeren Pause becirct das Trio aus Brooklyn wieder mit seinem zarten Dream Pop.

„Ooh, you girls you drive me crazy“, singen Heather D’Angelo, Erika Forster und Annie Hart. Es ist ein Moment, der sich einprägt, weil diese Frauen darin Ausgelassenheit zelebrieren. Sie müssen jetzt auch mal etwas aus sich herausgehen, damit man merkt, dass es Au Revoir Simone noch gibt. Vor ihrer vierjährigen Pause waren sie auf dem richtigen Weg. Ihre Alben werden nicht als die großen Klassiker gehandelt, einzelne Songs („All Or Nothing“) aber schon. Manchmal hörte man sie in Fernsehserien und deutschen Filmen („Keinohrhasen“). Jetzt machen die Ladys zusammen mit Produzent Jorge Elbrecht gemeinsame Sache, der mal bei Lansing-Dreiden war und seit Kurzem für die Slumberland-Band Violens singt. Der Mann ist als Fan von OMD und Ladytron bekannt. Gerade der Einfluss letzterer Band hat Spuren hinterlassen. Es werden drei Keyboards bzw. Synthesizer auf einmal gespielt, und zwar so, dass sich der Sound der Geräte kraftvoll und körperlich anfühlt. Wenn Drum Machines stolpernde Beats von sich geben und die Stimmen wie in David-Lynch-Soundtracks über den Songs schweben, ist man mehr als angenehm berührt. So war das schon immer bei Au Revoir Simone, so ist es auch jetzt wieder.

**** Thomas Weiland

WILLIS EARL BEAL

NOBODY KNOWS

XL/Beggars/Indigo

Minimal Blues: Man braucht nicht viel Töne, um große Musik zu erschaffen.

Die Geschichte vom singenden, schreibenden, zeichnenden, aber obdachlosen Universal-Genie, das bei „X-Factor“ schon in der Vorrunde scheitert und im heimischen Chicago per Flyer nicht nur seine Künste anbietet, sondern auch eine Freundin sucht, ist so gut, man kann sie ruhig noch einmal erzählen. Vor allem, weil NOBODY KNOWS, das zweite Album von Willis Earl Beal, noch besser geworden ist als das ACOUSMATIC SORCERY vom vergangenen Jahr. Majestätisch und erst einmal ohne Begleitung, denn so etwas hat sie nicht nötig, erhebt sich seine Stimme im Eröffnungssong „Wavering Lines“ – und wenn die Streicher einsetzen, ist der Blues schon in der Gegenwart angekommen. Im weiteren Verlauf rettet Beal auch den Gospel („Coming Through“), zerrt Elvis aus dem Schattenreich („Everything Unwinds“) und pflückt Baumwolle im Mississippi-Delta („Too Dry To Cry“). Ob irgendwas Elektromagnetisches knistert oder ein Schlagzeug verloren vor sich hin trommelt, ob eine akustische Gitarre ein wenig Unterstützung bietet oder seltsames Schaben irritiert: Im Mittelpunkt stehen Beals Stimme und seine Songs, die so gut sind, dass sie nicht einmal das bisschen Begleitung nötig hätten. Willis Earl Beal beweist mal wieder, dass man nicht viele Töne braucht, um große Musik zu erschaffen.

***** Thomas Winkler

BETTY FORD BOYS

LEADERS OF THE BREW SCHOOL

Melting Pot Music/Groove Attack

Beats, Beats, Beats: Das multikulturelle Produzententrio zeigt auf 16 Tracks, was man mit Macbook, MPC und Moog so alles anstellen kann.

Die Betty Ford Boys, das sind Dexter, Brenk Sinatra und Suff Daddy, welche wiederum die Allergeilsten sind, zumindest in Fragen des fachgerechten Zerhackstückens und Zuwahrenbretternzusammenbauens von Samples aus allen Ecken des Expedit-Regals. Seit einigen Jahren versorgt das multikulturelle Produzententrio – Brenk ist stolzer Repräsentant von Wien-Kaisermühlen, Suff entstammt der True School rheinländischer Prägung, Dexter einem mit Papas Platten reich gesegneten Heilbronner Haushalt – das Volk mit Beats, Beats, Beats. Bislang geschah das meist unter eigenem Namen und bisweilen auch mit Rappern wie MC Eiht (Brenk) und Casper (Dexter). Nun aber haben sich die drei zur Supergruppe zusammengetan und zeigen auf 16 Tracks, was man mit Macbook, MPC und Moog so alles anstellen kann. Die Lehrer heißen nach wie vor J Dilla, Pete Rock und Marley Marl, aber das Ergebnis klingt genauso nach Kalifornien, Köln und dem Kater zum besten Rausch der Welt. Ein roter Faden ist der Einsatz von plakativen Stimmfetzen von Dr. Alban bis Lauryn Hill, ein Highlight das Intro „The Time Has Come (4 Us To Be One)“. Solo mögen die Boys noch eigenständiger und aussagekräftiger klingen. Als Manifest der hiesigen Beatbewegung aber taugt das Album dennoch.

****1/2 Davide Bortot

MARLA BLUMENBLATT

IMMER DIE BOYS

Four Music/Sony Music

Die Schlagersängerin übernimmt den Thron der Berliner Retro-Welle.

Berlin ist immer noch arm, nicht mehr so sexy, aber dafür sehr retro. Die Protagonisten der hauptstädtischen Vintage-Welle nennen sich Petting, Frau Schmidt, Betty Dietrich, Louise Gold und Kitty Hoff, aber die Königin des Trends ist die in Wien aufgewachsene und früher als Tänzerin im Pariser Crazy Horse tätige Marla Blumenblatt. Auf ihrem Debüt IMMER DIE BOYS erklärt sie sich über einem forschen Marschrhythmus zum „schönen bunten Schmetterling“ und ihre Wahlheimat Berlin zum „wunderbaren Ort“. Ihre Lieder sind im schönsten Schlagerduktus gehalten und bevölkert von einem Personal, das „sonnenbaden“ geht, auf der „Liegewiese“ ruht oder „unter der Linde im Abendlicht“ sitzt. Natürlich „singt der Wind ein Lied“ und die albumtitelgebenden Boys sind schuld, dass Frau Blumenblatt „bei Nacht nicht schlafen kann“. Noch der scheinbar harmloseste Song wie der vom Cornetto-Eis ist gespickt mit verschämten sexuellen Anspielungen. Marla Blumenblatt steckt aus vollster Überzeugung fest im Westdeutschland der 50er- und 60er-Jahre, und ihre Band kopiert so tadellos die Hitparadenmusik jener Zeit. Und sollte das Ganze ironisch gemeint sein, dann ist diese Ironie sehr gut getarnt.

*** Thomas Winkler

BODY/HEAD

COMING APART

Matador/Beggars/Indigo (VÖ: 13.9.)

Sonic Youths Kim Gordon unternimmt mit Bill Nace eine Feedback-Expedition ins Elementargewurschtel des Rock. Wenn es möglich wäre, die Musik von Sonic Youth in Tausende Elementarteilchen aufzulösen und sich mit einem überschaubaren Teil aus ihrer Mitte an eine Neuordnung zu begeben, würde man wahrscheinlich darin Sequenzen aus den Solo-Alben von Lee Ranaldo und Thurston Moore entdecken. Und aus dem Gitarrenfeedback-Werk, das Kim Gordon jetzt mit Bill Nace (X. O. 4, Vampire Belt) aufgenommen hat. So unterschiedlich all das ausfällt, was die Sonic-Youth-Mitglieder in ihren „Soli“ vorstellen, ist es dem Opus von Sonic Youth in einer vertrackten Art von Liebeserklärung verbunden. Gordon und Nace gehen im seit Jahren locker dahinwuselnden „Projekt“ Body/Head den womöglich steinigsten Weg, sie improvisieren sich aus den eleganten Gitarrenmonströsitäten des Mutterschiffs in zerrissene, zerhäckselte Kleinteilarbeiten fort. Yoko Ono hätte das nicht eindrucksvoller hingekriegt. Ursprünglich gab es keinen Gesang in diesem Programm, und dieser ist tatsächlich am ehesten verzichtbar (er ist das dritte Instrument hinter den beiden Gitarren), Gordon scheint mit ihren giftigen Gitarrenschlieren an die frühen Sonic-Youth-Aufnahmen anzudocken, dann aber fallen alle Noises auf den Tonspuren auseinander. Und man weiß gar nicht, wohin. COMING APART sucht nach einer Glücksformel im Elementargewurschtel des Rock. Eine weitere Body/Head-Platte dieser Art kann ich mir schwer vorstellen.

**** Frank Sawatzki

CHVRCHES

THE BONES OF WHAT YOU BELIEVE

Universal (VÖ: 20.9.)

Don’t believe the hype: Das Trio aus Glasgow reitet das erschöpfte Pferd Synthpop unter Einsatz von viel Hall zu Tode.

Chvrches sind ein gutes Beispiel für das Des-Kaisers-neue-Kleider-Syndrom im Pop. Das Trio aus Glasgow wurde ab der Veröffentlichung seiner ersten Single „Lies“ im Frühjahr 2012 durch die üblichen Hype-Kanäle („NME“, BBC, „The Guardian“) gejagt. Dergestalt beeinflusst findet der aufgeschlossene, interessierte Hörer die Musik dann ja schon irgendwie gut, obwohl er vielleicht insgeheim ahnt, was wirklich dahintersteckt. Das ist bei Lauren Mayberry, Iain Cook (Ex-Aereogramme, Ex-The Unwinding Hours) und Martin Doherty nicht viel. THE BONES OF WHAT YOU BELIEVE ist weder Song noch Track. Für Songs sind diese Sphärenklänge zu banal, und als Tracks funktionieren sie nicht. Es ist viel Klangtapete, die die Löcher in der Kreativitätswand nur unzureichend kaschiert. Eine Niedlichkeit wie „Lungs“ und das tatsächlich gar nicht so schlechte „Lies“ verbessern den Gesamteindruck des Albums, vertreiben aber nicht die Ahnung, dass hier das erschöpfte Pferd Synthpop mit viel Hall zu Tode geritten werden soll. Aber das liest sich viel zu dramatisch. Eigentlich sind Chvrches ja doch: ziemlich egal.

** Albert Koch

CALIFONE

STITCHES

Dead Oceans/Cargo

Bei der Indie-Band ergeben traditionelle und experimentelle Elemente ein stimmiges Ganzes.

Es wird generell viel zu wenig über Tim Rutili geredet. Das verstehe, wer will. Der Sänger, Gitarrist und Keyboarder macht schon seit 25 Jahren Musik, die volle Aufmerksamkeit verdient. Die meiste Zeit des letzten Vierteljahrhunderts hat Rutili als Leader der Band Califone verbracht. Diese ist deshalb jede Bewunderung wert, weil in ihr viele Dinge zusammenfließen, die nicht ganz selbstverständlich sind. Rutili kennt sich im Folk und Blues aus, aber er versteift sich nicht darauf, Vorlagen kommentarlos zu übernehmen. In seinen Songs kommen Beats aus der Maschine, Gebrumme, Surren, Knarren und andere Geräusche vor, die auf ein Interesse an der Avantgarde schließen lassen. Wichtig ist auch der cineastische Aspekt. Zum letzten Album ALL MY FRIENDS ARE FUNERAL SINGERS hat Rutili einen Film gedreht. Den kann man sich auch zu diesem Album denken. Der Musiker hat sein geliebtes Chicago zum ersten Mal verlassen und ist mit dem Auto durch den Süden der USA gefahren. Seine Eindrücke schildert er ohne übertriebene Aufregung. Er ist ein Mann, der die feine Feder schwingt. „Magdalene“ ist ein schleichender Country-Soul-Song, „Bells Break Arms“ ein Track mit viel Ambient-Charakter, und durch „We Are A Payphone“ ziehen sich Bläser aus dem Jazzlokal. Fans von Grandaddy, Bon Iver und Iron &Wine sollten sich das unbedingt zu Gemüte führen.

****1/2 Thomas Weiland

GLEN CAMPBELL

SEE YOU THERE

Surfdog/Membran/Sony Music

Einer der ganz Großen singt ein letztes Mal einige seiner größten Songs zwischen Country, Gospel und Pop. Bewegend.

Einst war er der Inbegriff des strahlenden All-American Boy, ein Multitalent, das als Sessiongitarrist (unter anderem für Elvis Presley, Frank Sinatra, die Beach Boys, die Monkees), als Solokünstler mit unzähligen Hits, als Moderator einer Fernsehshow und als Schauspieler (etwa in „Der Marshal“ an der Seite von John Wayne) reüssierte. Später wurde es stiller um Glen Campbell. Anfang 2011 kündigte er ein neues Album (GHOST ON THE CANVAS) und eine Abschiedstour an. Abschiedstour? Er sei an Alzheimer erkrankt und wolle seine alten Songs noch einmal singen, solange er sich noch an sie erinnern könne, ließ er verlauten. Die heimtückische Krankheit war auch der Grund, warum der damals 75-Jährige parallel zu den GHOST-Aufnahmen einige seiner Klassiker neu interpretierte: nur der Mann und seine Gitarre. Diese Takes dienten nun als Basis für SEE YOU THERE. Die Produzenten Dave Darling und Dave Kaplan trommelten eine Reihe von Studiocracks zusammen und arrangierten unsterbliche Songs wie „Wichita Lineman“,“Galveston“,“By The Time I Get To Phoenix“(alle aus der Feder des großen Jimmy Webb),“True Grit“ und „Gentle On My Mind“ strikt nach den Vorlagen des Meisters: intim, brüchig, melancholisch, altersweise. „Rhinestone Cowboy“ etwa, einst ein Country-Pop-Megahit von Spector ’schen Dimensionen, entbehrt in der neuen Version jeglichen Überschwangs. Da sitzt einer und erinnert sich an ein Leben mit vielen Höhen und manchen Tiefen: unsentimental, bar jeden Selbstmitleids und gerade darum so bewegend. Ein Klotz ist, wer keinen Kloß im Hals spürt, wenn Mister Campbell ein letztes Mal singt: „I’ve been walkin‘ these streets so long, singin‘ the same old song.“ Am Ende ist er sicher: „I’m gonna be where the lights are shinin‘ on me.“ Möge sich sein Wunsch erfüllen. SEE YOU THERE ist ein Abschied. See you there, Sir.

***** Peter Felkel

NEKO CASE

THE WORSE THINGS GET, THE HARDER I FIGHT, THE HARDER I FIGHT, THE MORE I LOVE YOU

Anti/Indigo

Die Singer/Songwriter-Lady mit den Alternative-Country-Wurzeln gibt sich auf ihrem siebten Album einer gnadenlosen und schmerzhaften Innenschau hin.

Nein, leicht hat es Neko Case ihren Hörern nie gemacht. In ihren guten Momenten, die’s nicht nur auf ihren besten Alben so far – BLACKLISTED (2002) und MIDDLE CYCLONE (2009) – zuhauf gab, zog sie einen hinein in einen Mahlstrom aus verstörenden Songs, verstörenden Lyrics, verstörenden Gefühlen. Mögen ihre Songs auch ihre Wurzeln im weiten Feld von Alternative Country/Americana haben – was immer das auch sein mag -, so geht ihnen doch alles Klischeehafte dieses Genres ab. Nicht anders auf THE WORSE THINGS GET, THE HARDER I FIGHT, THE HARDER I FIGHT, THE MORE I LOVE YOU, das zwischen aufgekratztem Lärm („Man“) und sanftem Folk („I’m From Nowhere“) changiert. Das A-cappella-Stück „Nearly Midnight, Honolulu“ ist eine zweieinhalbminütige, durchaus autobiografisch zu verstehende Suada, die in dem Satz gipfelt: „My mother, she did not love me.“ Kuschelig ist auf diesem Album gar nichts, konfrontativ alles, auch das kongeniale Remake von Nicos „Afraid“. Trauer sei bei ihr das beherrschende Gefühl der vergangenen drei Jahre gewesen, sagt die Künstlerin selbst. Freunde starben, Vater und Mutter starben, Erinnerungen an eine traumatische Kindheit drängten zurück in ihr Bewusstsein – all diese Tränen, der Schmerz, das Gefühl, von allen verlassen zu sein, nicht geliebt zu werden, am Rande des Wahnsinns zu stehen, flossen in diese Musik ein. Nennen wir es: Katharsis.

**** Peter Felkel

COLA & JIMMU

ENIGMATIC

Herakles/Rough Trade

Jimi Tenor zieht irritierende Meta-Ebenen ein in die House-Tracks, die er gemeinsam mit seiner Frau aufgenommen hat.

Das Gute liegt ja bekanntlich oft überraschend nah. Hat sich wohl auch Jimi Tenor gedacht und nach unüberschaubar vielen Gemeinschaftsproduktionen mit Musikanten aus aller Welt einfach mal zu Hause nachgeguckt. Dort ist er auf seine Ehefrau gestoßen. Die heißt Nicole Willis und kann sehr gut singen, was schon länger vor allem die Soul Investigators und nun eben auch der eigene Gatte ausnutzen. Als Cola und Jimmu hat das Paar zusammen zehn Tracks zwischen Disco, R’n’B und House aufgenommen. „Zwischen“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen, denn Jimi Tenor und Nicole Willis verzichten auf ENIGMATIC auf eindeutige Clubhits oder sortenreinen Neo-Soul. Stattdessen pulsieren viele ihrer Tracks zwar im Herzschlag des Tanzbodens, fühlen sich dann aber zeitweise doch in einem Jazzkeller wohler oder möchten lieber zurück in die goldenen Tage von Motown reisen. Fast scheint es, als wollten sich Cola &Jimmu absichtlich zwischen alle Stühle setzen, so wie zum Beispiel in „Transcend Our Love“, wenn Tenor die Soulröhre seiner Frau mit einem kindlichen „dududu“ konterkariert und später synthetische Streicher so kräftig über den trockenen Rhythmus packt, dass sie wie eine Karikatur ihrer selbst wirken. Dank solcher Irritationen wird fast jeder Track auf ENIGMATIC mit einer unerwarteten Meta-Ebene versehen.

**** Thomas Winkler

ERIC COPELAND

JOKE IN THE HOLE

DFA – US-Import

Ein Soloalbum des Black-Dice-Kopfes: Patchwork-Musik zwischen Noise und psychedelischen Soundschleifen.

Black Dice waren bis 2005 drei Alben lang die Ausnahme der tanzmusikalischen Regel auf dem DFA-Label: elektronisches Noise-Avant-Chaos, an dem man sich wunderbar abarbeiten und das man nach der üblichen Gewöhnungsphase sogar für leichte Popmusik halten konnte. Jetzt kehrt Black-Dice-Chef Eric Copeland zumindest für ein (Solo-)Album zu DFA zurück. Eine Konstante ist seine pubertär anmutende Vorliebe für billige Pornoästhetik – das Artwork, der Titel der begleitenden, hier nicht enthaltenen Single: „Masterbater“(hahaha!). JOKE IN THE HOLE – auch ein Joke, den man besser nicht erklärt haben will – ist offensichtlich aus Samples zusammengebastelte Patchwork-Musik, in der sich psychedelische Soundschleifen, mikroskopische Versatzstücke aus 8-Bit-Musik und Jazz um maschinelle Beats winden. Manchmal – bei „Babes In The Woods“ – umkreisen sich eiernde Melodien und Beats, die für mindestens drei Tracks gereicht hätten. Trotzdem geht es auf JOKE IN THE HOLE eine Spur geordneter zu als auf den Black-Dice-Alben. Und „Grapes“ ist fast ein „ganz normaler“ Minimal-House-Track

**** Albert Koch

ELVIS COSTELLO & THE ROOTS

WISE UP GHOST

Blue Note/Universal (VÖ: 13.9.)

Soul, Funk, HipHop, Jazz: Das ungleiche transatlantische Bündnis harmoniert bestens.

Bei Declan MacManus aka Elvis Costello hatte man zuletzt den Eindruck, dass er sich zunehmend als Songschreiber versteht, der Country und Folk erkundet. Er ist gerade 59 Jahre alt geworden, da kann man schon mal solche altersmilden, rückwärtsgewandten Gedanken haben. Andererseits weiß man bei Elvis Costello nie, was als Nächstes kommen wird. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass er mit The Roots gemeinsame Sache machen würde? Die ungleiche Partnerschaft hat in New York Gestalt angenommen. Der Sänger lebt dort, und die Band spielt regelmäßig in der Late-Night-Show von Jimmy Fallon, wo Drummer Questlove seinen Helden einfach mal auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit angesprochen hat. Der Umgang miteinander ist respektvoll. Die Band sorgt wie gewohnt für ein Fundament, das von Soul, Funk, HipHop und Jazz getragen wird. Sie tut es, ohne die Rolle des Hauptdarstellers zu beeinträchtigen. Los geht es mit „Walk Us Uptown“ und nur zaghaft verdeckten Verweisen auf den Ska-Pop der Specials. In „Refuse To Be Saved“ tritt Elvis Costello wie ein Sprechsänger auf, der viel Gil Scott-Heron gehört hat. „Tripwire“ ist eine raffinierte und zu Herzen gehende Ballade, in der sich die ganze Klasse dieses Interpreten offenbart. Aus der Reihe tanzt man in „Cinco Minutos Con Vos“ mit Tango-Grooves im Stil des Gotan Projects. Schon allein die Ankündigung der Zusammenarbeit von Elvis Costello und The Roots hat überrascht; die Zusammenarbeit selbst überrascht auch immer wieder während des Albums. Aber sie tut es im absolut positiven Sinn.

***** Thomas Weiland

ROBERT COYNE WITH JAKI LIEBEZEIT

THE OBSCURE DEPARTMENT

Meyer Records/Rough Trade

Eine überraschende Zusammenarbeit, in der Folk-und Avantrock-Erbhöfe aufeinandertreffen.

Das sind dann mal so die Geschichten, die niemand auf dem Zettel hatte. Am wenigsten vielleicht die beiden Akteure, die auf THE OBSCURE DEPARTMENT zusammengekommen sind: Robert Coyne, Sohn des im Jahr 2004 verstorbenen britischen Underground-Singer/Songwriters Kevin Coyne, und Jaki Liebezeit, der Urzeit-Drummer des Rock, der dem überwältigenden Reduktionsprogramm des Kölner Ensembles Can den unverwechselbaren Takt schenkte. In diesem Fall waren es ein Labelchef und ein enger Freund von Robert Coynes Vater, die an den Strippen zogen, die diese Zusammenarbeit möglich machten. Im Eröffnungstrack „Signature Song“ scheint das familiäre Erbe der beiden Musiker deutlich auf, wenn Robert Coyne seine Folk-Poesie über Jaki Liebezeits handgedengelte Maschinenbeats streut, eine Akustikgitarre ist noch mit im Spiel. Mehr braucht dieses Joint Venture der überraschenden Art nicht, um höchste Präsenz zu erzielen. Man darf sich auch Cans Damo Suzuki am Mikrofon oder Kevin Coynes Gitarrengeschrabbel dazu vorstellen, oder Holger Czukay, wie er ein paar Loops und Bassläufe in den Blues schiebt. Aber Robert Coyne und Jaki Liebezeit halten ihre Musik mit minimalen Mitteln auf Kurs, die Zeilen, die der Brite singt, bohren sich mit einer Sanftheit ins Gedächtnis, die sich dann doch von dem Markenzeichen-Brabbeln und -Krächzen seines Vaters unterscheidet: „Oh what a delicate flower. Man you won’t last an hour. It gets brutal up here, you’ll be out on your ear.“ THE OBSCURE DEPARTMENT erinnert an die Magie des ersten Moments, die nicht allzu viele Künstler im Kennenlern-Modus aufbringen. Die Erbhöfe von Coyne und Can warten auf weitere Vertonungen.

**** Frank Sawatzki

CRYSTAL STILTS

NATURE NOIR

Sacred Bones/Cargo (VÖ: 20.9.)

Auf ihrem dritten Album kümmern sich die New Yorker Indie-Heroen zur Nachtzeit um die Verfeinerung ihrer Arbeit.

Mit ihrem Debütalbum ALIGHT OF NIGHT wollte diese Band aus New York im Jahr 2008 genau da hin, wo die britischen C86-Bands über zwei Jahrzehnte vor ihnen waren. Es schrammelte wie bei den frühen Wedding Present, man schlug stoisch wie Moe Tucker auf die Trommeln, und der Gesang klang so, als hätte sein Urheber drei Nächte durchgemacht. Jetzt sind solche eindeutigen Parallelen zur musikalischen Vergangenheit aus dem Sound von Crystal Stilts verschwunden. Erlaubt ist eigentlich nur noch der Vergleich mit der Stimmung auf DARKLANDS von The Jesus & Mary Chain. Crystal Stilts zelebrieren die gleiche Abschottung vom Rest der Welt mit dunkler Stimme. Ansonsten fallen die gesteigerten Bemühungen bei der Veredlung des Sounds auf, die sich vor allem durch die Benutzung von Streichern bemerkbar machen. In „Spirit In Front Of Me“ kommen eine Orgel und gleich mehrere Gitarren inklusive obligatorischer Fuzz-Effekte zum Einsatz. Statt an das Jahr 1986 denkt man da mehr an 1966 und die erste Welle von Garagenrock-Bands. Mit der exzellent rumpelnden Deklaration „Future Folklore“ bringen Crystal Stilts aber auch zum Ausdruck, dass es ihnen nicht allein um das Schwelgen im Gestern geht. Es lugt in diesem Fall auch etwas Tagesmentalität durch. In der Mehrzahl der Fälle kommt der psychedelische Indie-Pop von Crystal Stilts aber zu später Stunde am besten zur Geltung. Licht aus, Album an, und schon erlebt man, wie diese Band den Geist massiert.

****1/2 Thomas Weiland

DAPAYK & PADBERG

SMOKE

Mo’s Ferry/Rough Trade (VÖ: 27.9.)

Die Electronica auf dem vierten Album des Glamour-Pärchens fasst die Trauer über den Verlust des Minimal Techno in Töne.

Auf dem Cover zieht der titelgebende SMOKE – vermutlich der einer Zigarette – vom Munde Niklas Worgts durch den seiner Lebensgefährtin Eva Padberg und hinaus aus dem Bild. Was soll das bedeuten? Ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam gegen die Rauchergesetzgebung? Ein Statement für den ungehinderten Genuss? Ein Sinnbild für den Hedonismus? Man weiß es nicht, aber es sieht schon sehr gut aus. Und über das vierte Album von Dapayk & Padberg wäre zu sagen: Man hört es gern, aber man weiß nicht so recht, wieso. Denn eigentlich passiert auf SMOKE nicht sehr viel. Die Beats wackeln unbeirrt, aber bisweilen ziellos, ab und an pumpen sie auch ein bisschen. Ein paar Geräusche wabern durch die Szenerie, manchmal schaben sie etwas aufdringlich. Mitunter beginnt dann Frau Padberg zu singen. Oder irgendjemand summt. Es scheint fast so, als versuche Dapayk auf SMOKE seiner alten Liebe Minimal Techno neues Leben einzuhauchen, indem er ihn mit möglichst vielen klanglichen Überraschungen, einigen rhythmischen Ungereimtheiten und wenigen strukturellen Verwerfungen konfrontiert. Das Ergebnis klingt zwar immer noch reduziert und spartanisch, ist aber eben kein Minimal mehr. Vielleicht, weil Minimal heute kaum mehr möglich ist. SMOKE ist die Platte, die die Trauer über diesen Verlust mit der Abgeklärtheit eines glücklichen Exrauchers in Töne fasst.

**** Thomas Winkler

DAWES

STORIES DON‘ T END

Hub/Universal

Eine Reise zurück zum klassischen kalifornischen Softrock der 70er-Jahre.

In den USA schlägt der Band aus Los Angeles nach wie vor eine Welle der Begeisterung entgegen. Durchaus verwunderlich, haben die Dawes doch auf ihrem dritten Album STORIES DON’T END nichts wirklich Spektakuläres zu bieten, außer ein paar ordentlichen Songs, die alle perfekt eine in den letzten Jahren neu entstandene Sehnsucht nach dem klassischen kalifornischen Soft-und Folkrock der 70er-Jahre befriedigen. Als reine Retrokapelle sollte man das Quartett um Sänger und Gitarrist Taylor Goldsmith aber auch nicht bezeichnen, denn dazu klingen viele der Songs doch zu wenig nach Nostalgie. Produzent Jacquire King (Kings Of Leon, Modest Mouse, Norah Jones) hält die Truppe die meiste Zeit auf Kurs und verzichtet weise darauf, den Sound glatt zu polieren. Spannung will trotzdem nur bedingt aufkommen. Handwerklich ist der Band, die vor zwei Jahren für ihr Vorgängerwerk NOTHING IS WRONG noch als Heilsbringer der stagnierenden Americana-Welle gefeiert wurde, nichts vorzuwerfen. Vieles aber hat man so ähnlich schon mal besser gehört. Und auch die Geschichten, die Taylor Goldsmith in zurückhaltender Weise erzählt, wirken bis auf wenige Ausnahmen reichlich uninspiriert.

*** Franz Stengel

DELOREAN

APAR

True Panther/Beggars Group/Indigo

Eine Band auf der Suche nach einer neuen musikalischen Vision.

Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise Spaniens hat durchaus auf das neue Album von Delorean abgefärbt. Doch im Zustand anhaltender Depressionen befindet sich das Quartett aus Barcelona deshalb trotzdem nicht. War ihr 2010 veröffentlichter Longplayer SUBIZA eine Hommage an die Ausgelassenheit mediterraner Dancemusic, so mischen sich diesmal vereinzelt ein paar dunklere Töne dazwischen. Aufs Tanzen muss man deshalb trotzdem nicht verzichten, auch wenn sich weit weniger Songs dazu wirklich eignen. Delorean haben auf APAR Mühe, nicht komplett aus der Bahn getragen zu werden, denn nur wenige Stücke besitzen das Format, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Vieles klingt zu beliebig: die Melodien im Breitwandformat, die seltsam verwaschenen Beats, die so gut wie jeden Druck vermissen lassen. Den vier Musikern scheinen in den letzten Jahren die Ideen und Visionen ausgegangen zu sein.

**1/2 Franz Stengel

DELTRON 3030

EVENT II

Bulk Recordings/Universal (VÖ: 27.9.)

Drei Protagonisten des HipHop schwärmen zum zweiten Mal in die ferne Zukunft aus.

Neues Jahrtausend, neuer Sound. So fühlte es sich im Jahr 2000 an, als sich Rapper und „Mistadobalina“-Legende Del Tha Funkee Homosapien, Produzent Dan The Automator und Turntablist Kid Koala zusammentaten und dem HipHop mit Grooves, Inhalten und Witz Impulse gaben. Gastsänger Damon Albarn holte sich dort erste Anregungen für den späteren Gorillaz-Start. Mit einer Fortsetzung hat man nicht gerechnet. Da es zurzeit aber nicht vor visionären HipHop-Produktionen wimmelt, fühlten sich die drei Koryphäen offenbar wieder animiert. „Deltron is a hero, if he can’t do it, nobody can“, heißt es in Anspielung auf die Notwendigkeit, dass mal jemand kräftig aufräumt, auch politisch gesehen. Damon Albarn ist erneut dabei, ebenso Zack De La Rocha und Jamie Cullum. Eine Überraschung ist die Beteiligung von Schauspielerin Mary Elizabeth Winstead, die sich in Vorbereitung auf ihr Projekt Got A Girl mit Dan The Automator einsingen darf. Das zweite Deltron-Event reicht mühelos an die Qualität des ersten heran und verfügt überdies über mehr Pop-Potenzial.

****1/2 Thomas Weiland

MARCEL DETTMANN

DETTMANN II

OstGut Ton/Kompakt (VÖ: 16.9.)

Techno und darüber hinaus: das zweite Album des Berliner Produzenten.

Auf DETTMANN, seinem Debütalbum aus dem Jahr 2010, hat der Produzent, Resident-DJ im Berghain und Remixer Marcel Dettmann die industrielle Kühle von abstrakter, experimenteller elektronischer Musik mit den Erfordernissen des Tanzbodens verheiratet. Das geht auf dem Nachfolgealbum DETTMANN II schön so weiter. Zum Beispiel in „Soar“, da kämpfen abstrakte Soundschleifen gegeneinander an und darüber liegt eine beinahe schon enervierend kickende Bassdrum. Und schon ist beiden geholfen, dem Tänzer im Berghain und dem Wohnzimmerhörer in Bielefeld. Es gibt auf DETTMANN II aber auch Experimente wie „Outback“ und „Stranger“, die so weit draußen sind, dass sie nach Genrezuschreibungen rufen, die sehr wenig mit Techno zu tun haben. Oder der spooky abstrakte Minimalismus von „Seduction“ mit dem wortlosen Gesang von Emika, die hier wie eine Sängerin aus einem Ennio-Morricone-Soundtrack, circa 1968, agiert. Im Gegensatz dazu: „Radar“ ein, ähem, Brecher und potenzieller Tanzbodenfüller, der aber seine Herkunft aus der Experimentierkammer der elektronischen Musik gar nicht erst verleugnen will. Es sind die düsteren Atmosphären und die daraus resultierende beinahe pessimistische Stimmung, die Marcel Dettmanns Soundkonstruktionen zu etwas ganz Besonderem machen. Und die vielleicht sogar unbewusste Weigerung des Produzenten, sich mit nur einer einzigen Sache musikalisch zufriedenzugeben.

****1/2 Albert Koch

DIANA

DIANA

Jagjaguwar/Cargo

Neue kanadische Band mit einem It-Girl an der Spitze und wohligem Chillwave-Pop.

Diese Besprechung kann nicht ohne Erwähnung der 80er-Jahre auskommen. Das geht einfach nicht bei einer Band, die sich nach der Prinzessin der Herzen benannt hat. Das geht auch deshalb nicht, weil Keyboarder und Saxofonist Joseph Shabason bei seinen Einsätzen auf dem wunderbaren KAPUTT-Album von Destroyer gelernt hat, wie man mit analogen Synthesizern einen watteweichen Sound kreieren kann, der sich gut anfühlt. In „Perpetual Surrender“ dirigiert er die Band in Richtung des ersten Sade-Albums und des dritten von Tears For Fears. Die Sängerin nennt sich Carmen Elle und haucht verführerisch wie Lana Del Rey. Am Ende säuselt sanft das Saxofon. Für „Strange Attraction“ hat man sich das Grundmotiv von „People Are People“ von Depeche Mode als Ansatzpunkt ausgesucht. Auch sonst wirkt dieser Song bissiger, für Diana-Verhältnisse jedenfalls. Generell geht es dieser Band aber schon um gefühlvolles Einlullen und die Vermittlung von Lebensfreude an späten Sommerabenden und darüber hinaus. Für „Born Again“ gilt das besonders, allein schon wegen der Ohrwurmzeile des Albums: „Now’s the time for believing, lay your hands on me, I need healing, born again tonight“. Man sollte an diese Band glauben. Sie hat eine interessante Frontfrau in ihren Reihen, verfügt über das richtige Rüstzeug und dürfte mit dem zweiten, spätestens dritten Album ein Thema sein, an dem man nicht mehr vorbeikommt.

**** Thomas Weiland

DIVERSE

IN FUZZ WE TRUST – 60S PSYCH AND GARAGE LEGENDS SALUTE THE FUZZTONES

Stag-O-Lee/Indigo

Hut ab vor den Fuzztones: Garagenrock-Helden von einst verbeugen sich vor ihren Nachfahren.

Shadows Of Knight. The Electric Prunes. Monks. Arthur Lee. Sky Saxon. Question Mark &The Mysterians. Strawberry Alarm Clock. The Pretty Things. Vanilla Fudge. Namen, ach was: Legenden sind das, bei deren bloßer Erwähnung allen Freunden des psychedelisch-fiebrigen bis rechtschaffen-rabaukigen Garagenrocks Freudentränen übers Gesicht laufen. Und all die alten Helden, die zum Teil seit 50 Jahren mehr oder weniger dick im Geschäft sind, erweisen auf diesem gut 70 Minuten langen und 18 Tracks starken Tributalbum, das als CD oder – extra gefühlsecht – als Doppel-LP zu haben ist, einer Band ihre Referenz, die sich im Jahr 1980 in New York zusammenfand und uns nicht nur durch diese finstere Dekade, sondern mittlerweile durch ein halbes Leben begleitete: The Fuzztones um das unverwüstliche Rock ’n’Roll-Animal Rudi Protrudi. Der hat über zehn Jahre Arbeit in dieses Projekt gesteckt, hat argumentiert, appelliert und insistiert, bis er all die Coverversionen seiner Musik zusammen hatte. In den mit Herzblut geschriebenen Liner Notes stellt Protrudi fest, dass sich für ihn ein Kreis geschlossen habe. A labour of love, ein Göttergeschenk, nicht weniger, ist dieser Sack voll Garagenrock-Perlen, die die der legendären NUGGETS-Kompilation in nichts nachstehen. Magic. Mindblowing. Unbedingt laut hören! IN FUZZ WE TRUST! Hallelujah!

***** Peter Felkel

ERDMÖBEL

KUNG FU FIGHTING

jippie!/Rough Trade (VÖ: 27.9.)

Mit den federleichten Pop-Songs auf ihrem neunten Album bringen Erdmöbel wahrscheinlich sogar Kopfläuse zum Tanzen.

„Goldgeist Forte“, Eltern wissen das genau, ist oft der letzte Ausweg, wenn die Kinder mal wieder mit Kopfläusen aus dem Kindergarten nach Hause gekommen sind. „Goldgeist Forte“ ist normalerweise nicht unbedingt Gegenstand für einen gewöhnlichen Popsong. Nun aber sind Erdmöbel auch keine gewöhnliche Popband. Auch für KUNG FU FIGHTING, das neunte Album der in Köln ansässigen Band aus Münster, ist Sänger, Gitarrist und Texter Markus Berges wieder tief eingetaucht in den schier unerschöpflichen Fundus der deutschen Sprache und hat dabei Wörter zutage gefördert, die sich bislang noch niemand im Pop zu singen getraut hat, Wörter wie „Speisebrei“, „Kaffeesatzversicherung“, „Erkenschwick“ oder „Zahnspange“. Doch damit nicht genug, Markus Berges erfindet auch gleich neue Begriffe dazu – wie zum Beispiel – die „Hauhechelbläulinge“ und baut damit die wundervollsten, trockenen Reime, während er Kindheitserinnerungen, Alltagsbeobachtungen und wild mäanderndes Assoziieren vollkommen schwerelos miteinander verschmelzen lässt. In einem Schwimmbad beobachtet Berges den Tidehub, vom Sportplatz klaut er den Kreidewagen, mit dem die Linien über den Fußballplatz gezogen werden, und beim Frühstück erzürnt er sich über das Schmatzen der Tischgenossen, während die Band vorbeischleicht wie ein hungriger Tiger auf dem Sprung – gleichermaßen geschmeidig und angespannt. Denn dieses Wunder darf wieder einmal bewundert werden: Wie Erdmöbel noch aus dem sperrigsten Reim, aus der seltsamsten Idee und aus dem widerspenstigsten Thema einen federleicht swingenden, harmonisch berückenden und teuflisch geschmackvollen Pophit fertigen. Lieder, die man ebenso schwer wieder aus dem Ohr bekommt wie die Läuse vom Kopf.

****1/2 Thomas Winkler

FACTORY FLOOR

FACTORY FLOOR

DFA/[PIAS] Cooperative/Rough Trade

Deep House, No Wave und Noise: Das Debütalbum des Trios aus London.

Dieses Trio aus London ist ein hervorragendes Beispiel zur Darlegung der Homogenität des scheinbar inhomogenen DFA-Sounds. Factory Floor stehen so ziemlich in der Mitte zwischen dem Deep House (The Juan MacLean) und dem Avant-Noise (Black Dice, Eric Copeland), die als äußerste Eckpunkte das Sounduniversum des New Yorker Labels markieren. Die Musik der Londoner, die mit dem offiziellen Segen von New Order Stephen Morris belegt wurde, verfügt einerseits über die rhythmischen Repetitionsmuster, die sie für den Dancefloor empfiehlt, andererseits über „unsaubere“, dunkle Sounds und Effekte, die die gewisse experimentelle Komponente beisteuern. FACTORY FLOOR ist das Debütalbum der Band, die seit ihrer Gründung vor acht Jahren eine Reihe von Singles und EPs auf Labels wie Blast First Petite, Optimo und DFA veröffentlicht hat. Dass man in die Musik sowohl die Einflüsse von britischem Postpunk (Cabaret Voltaire, New Order) als auch amerikanischen No Wave/Disco-Underground hineininterpretieren kann, spricht auch nicht unbedingt gegen sie. Das Album FACTORY FLOOR ist ein hübscher Hybride. Man kann das Trio als Clubact und als Band verstehen – je nach persönlicher Disposition.

**** Albert Koch

FOREST SWORDS

ENGRAVINGS

Tri Angle/Rough Trade

Im Spaghetti-Dub von Forest Swords wird jede Nacht zu einem Ereignis.

Vorab, bevor jemand meckert: Dieses Album funktioniert gewiss sogar auf der Picknick-Decke am See (ein Schatten werfender Baum vorausgesetzt, denn die Sonne scheint auf ENGRAVINGS nur bedingt), aber die Kinnlade sinkt exponentiell mit vorangeschrittener Uhrzeit. Ist eben so. Der Liverpooler Matthew Barnes, der 2010 mit der „Dagger Paths“-EP seine Zuhörer bereits für obskuren Lo-Fi-Gitarren-Exorzismus sensibilisierte, kommt nun mit seinem ersten Album. Vordergründig sind darauf Klänge zu hören, die man von den experimentellen Platten des Labels Tri Angle ja eigentlich gewöhnt sein sollte. Tatsächlich bringt Barnes aber neue, andere Stile mit. Die Musik aus Italo-Western wird nach Asien verlegt und verursacht dumpfe, dronige Albträume. Geisterhafte R’n’B-Samples sind ja mittlerweile eh obligatorisch. Ennio Morricone meets Burial, wenn man so will. Unterstützung findet Barnes auch bei Artist-Hopperin Anneka, die so gut wie jedem britischen Produzenten im breit gefächerten Kosmos der Instrumentalmusik ein paar Minuten lang ihre Stimme geborgt hat. Angenehm ist, die Platte verlangt gar nicht, als besonders bedrohlich oder düster wahrgenommen zu werden. Sie ist nicht weniger zelebrierend als z.B. das aktuelle Thundercat-Album. Getanzt wird eben ein paar Etagen tiefer. Sechs Fuß zum Beispiel.

****1/2 Christopher Hunold

RAS G

BACK ON THE PLANET

Brainfeeder/Rough Trade

Ein Free-Jazz-HipHop-Manifest, das erstaunlich nachvollziehbaren Regeln folgt.

Gregory Shorter Jr. alias Ras G kommt in der weltweiten HipHop-Community durchaus eine Ausnahmestellung zu. Keinem anderen Produzenten gelingt die Verschmelzung von Jazz und HipHop auf vergleichbar aufregende Weise. Shorter, dessen unüberhörbare Obsession für das umfangreiche Werk des Space-Jazz-Pioniers Sun Ra seit Beginn seiner Laufbahn seine Produktionen prägte, erreicht mit BACK ON THE PLANET eine neue, extrem spannende Entwicklungsstufe seines nach allen Seiten hin ausufernden Sounduniversums. Der Musiker aus South Central Los Angeles, der wie so viele außergewöhnliche Künstler aus dieser Stadt schon früh in seiner Karriere dank der Low-End-Theory-Clubnächte mit der Brainfeeder-Crew in Berührung kam, ist mit seinem neuesten Werk endlich auf jenem Label gelandet, das auch musikalisch perfekt zu ihm passt. Die 16 Tracks zeigen, welch atemberaubende Entwicklung Ras G in den vergangenen zwei Jahren vollzogen hat. So komplex verschachtelt seine Tracks auch nach wie vor sind, BACK ON PLANET EARTH ist über weite Strecken erstaunlich klar strukturiert und damit weitaus zugänglicher als noch DOWN 2 EARTH aus dem Jahr 2011. Seine Experimentierlust hat Ras G aber keineswegs eingebüßt, was er mit Songs wie „One 4 Kutmah“ und „Culture Riddim“ unterstreicht. Wie hier subsonische Bass-Sounds mit vertrackten Beats und allerlei eigentümlichen Samples mit Hilfe einer MCP und einer SP-303 zu einem vibrierenden Gesamtkunstwerk zusammenfügt werden, ist schon eindrucksvoll. Und Ras Gs Liebe zu Sun Ra kommt in Stücken wie dem mit afrikanischen Polyrhythmen unterlegten „All Is Well“ und dem schwerelosen „Cosmic Lounge Kisses“ ebenfalls nicht zu kurz.

****1/2 Franz Stengel

DR. DOG

B-ROOM

Epitaph/Indigo (VÖ: 27.9.)

Die Retro-Rock-Band aus Philadelphia findet wieder in die Spur – zurück in die Vergangenheit.

Zu behaupten, Dr. Dog seien hingebungsvolle Traditionalisten, ist bekanntlich eine unverzeihliche Untertreibung. Auch auf B-ROOM surft das Sextett aus Philadelphia mal wieder voller Hingabe durch die gewichtigsten Kapitel der amerikanischen Rockgeschichte. „Distant Light“ mit seinem Bar-Piano und dem schluffigen Rhythmus ist die schönste Reinkarnation von The Band, die seit Langem zu hören war. Für „Love“ scheinen die Beach Boys in einen Jungbrunnen gestiegen zu sein. In „Phenomenon“ geht es mit Banjo und Fiedel in die Appalachen. „Long Way Down“ schnauft wie eine Dampflok auf dem Weg durch die Prärie. „Cuckoo“ klingt so, als mussten bei der Aufnahme mehrere LSD-Trips dran glauben. Und ein Song wie „Rock’n’Roll“ könnte auch vom frühen, von Pete Seeger und Bob Dylan geprägten Bruce Springsteen stammen. Keine Angst, moderner wird es kaum. Auch die Texte handeln von Frauen, die Männer verlassen, und Benzin, mit dem man Automobile füttern muss. Während der Albumvorgänger BE THE VOID, so hatten manche geklagt, noch zu sauber produziert worden war, hat die Band mit B-ROOM nun ihren nostalgischen Charme wiedergefunden. Man hört die Röhren der Verstärker geradezu knistern, die Gitarren klingen nicht wie Elektronikbausteine, sondern als wären sie lebendige Wesen, und die Orgel leidet an Atemnot. Es lebe die Tradition.

**** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

GLASVEGAS

LATER … WHEN THE TV TURNS TO STATIC

BMG Rights Management/Rough Trade

Schottischer Breitwand-Herzschmerz-Stadion-Rock in der dritten Auflage.

Der Hype ums Debüt war riesig – die Enttäuschung über den Nachfolger von 2011 ebenso. Schließlich konnten Glasvegas die Erwartungen so gar nicht erfüllen. Sei es, weil Mastermind James Allan ein Monster-Ego entwickelte, Unsummen für Studios und Produzenten verballerte, aber musikalisch wenig zu bieten hatte. Logische Folge: Vertragsauflösung mit ihrem Label, Schaffenspause und ehrgeiziger Neuanfang. Ab sofort produziert James alles in Eigenregie und treibt den melodramatischen Breitwandsound auf die Spitze. So klingen „Youngblood“, „Choices“ und „Secret Truth“, als würde sich der Mann mit der Elvis-Tolle und dem breiten Glasgow-Akzent gleich die Pulsadern öffnen. Die Welt ist so gemein, die Liebe endet prinzipiell im Schmerz („I’d rather be dead than be with you“), und alles dreht sich ums Geld („It’s all about the money – I hope it makes you happy“). Was eine Abrechnung mit der alten Plattenfirma sein dürfte und mit so viel Leidenschaft und Pathos daherkommt, als wollten Glasvegas Coldplay vom Thron des Stadion-Pop stürzen. Das Problem: Es fehlen die großen Melodien – und ein bisschen Optimismus.

*** Marcel Anders

CD im ME 9/13

GOGOL BORDELLO

PURA VIDA CONSPIRACY

ATO/[PIAS] Cooperative/Rough Trade

Der perfekte Anheizer für die nächsten Gypsy-und Grölpunk-Bühnen-Eruptionen der Immigranten-Band.

Dieser Humta-Humta-Punk. Die in Bier und Balkan-Beats gegossenen Hymnen über das Leben und die Menschen, bis zum glibberigen Rand mit Sentiment gefüllt. Sie können aber auch Songs schreiben, die wie gebaut für die großen Festival-Bühnen dieser Welt sind und immer noch ein bisschen Consciousness für die Sekunden zwischen den Eruptionen bieten. Gogol Bordello sind ein Faszinosum und eine Band, die keine Plattitüde und kein billiges Gepolter scheut, ihr humanitär inspiriertes Party-Programm unters Volk zu streuen. Das weiß das Publikum, und deshalb kommen die zwölf neuen Stücke auf PURA VIDA CON-SPIRACY vor allem wie Anheizer fürs nächste Live-Ding rüber. Die aktuellen Höhepunkte: ein High-Speed-Akkordeon-Hit namens „Lost Innocent World“, ein Mitsing-Ding in Shanty-Manier, das ich meinem Sohn für die nächste Piraten-Fete in der Schule brennen muss („The Way You Name Your Ship“) und das Stakkato-Blasmusikfest für Stagediver aller Nationen („We Rise Again“). Wenn wir uns Freddie Mercury in der Russendisko vorstellen wollen, wie er eine Gemüseraspel in der Kehle balanciert, sind wir nah dran.

***1/2 Frank Sawatzki

GOLDFRAPP

TALES OF US

Mute/Good To Go

Das sechste Album des Duos aus London: kammermusikalischer, kleinorchestrierter, minimalistischer Folk.

Was Alison Goldfrapp und Will Gregory tendenziell von anderen Musikern, zum Beispiel Kings Of Leon, unterscheidet: Sie haben noch nie zwei gleiche Alben gemacht – zumindest nicht unmittelbar aufeinanderfolgend. Goldfrapp bewegen sich – seit nun auch schon 13 Jahren – in einem Koordinatensystem aus Ennio-Morricone-mäßigem Dream-Folk-Ambient-Pop und Disco/Elektro-Pop – mal glamy, mal in die 90er-Jahre weisend. Mit sanften bis radikalen Verschiebungen in die eine oder andere Richtung und allen erdenklichen Mischformen. Ausgehend von diesem Gedanken ähnelt TALES OF US, das sechste Album des Duos aus London, bei oberflächlicher Betrachtung dem Debütalbum FELT MOUNTAIN. Mit einem gar nicht so kleinen Unterscheid: Das Ätherische, der dreampoppige Schleier, der über den Liedern von FELT MOUNTAIN lag, ist hier ganz weit aufgezogen. Es gibt auf TALES OF US ziemlich konkreten kammermusikalischen, kleinorchestrierten minimalistischen Folk, Bezugspunkt: Großbritannien, circa späte 60er-Jahre. TALES OF US ist ein Album, das zum aufmerksamen Zuhören zwingt, sonst geht’s hier rein und da raus, sonst bleiben die Streicherarrangements, das Piano, der akustische Bass im Hintergrund verborgen. Alison Goldfrapp kann beides: die leichtbekleidete Disco-Diva geben und die introspektive Poetin. Und mit der warmen, ohrenschmeichelnden Produktion dieser Platte wollen wir gar nicht erst anfangen.

***** Albert Koch

Story ME 9/13

LARRY GUS

YEARS NOT LIVING

DFA/[PIAS] Cooperative/Rough Trade (VÖ: 13.9.)

Beim Zeus! Der Grieche setzt sich über Genre-Grenzen hinweg und zelebriert perfekte Vorlagen fürs Kopfkino.

Man hat sich über die Jahre ja ein fundiertes Bild vom Sound des New Yorker Labels DFA machen können. Das hilft aber leider gar nicht, wenn man sich der Musik von Larry Gus nähert. Der aus der griechischen Stadt Veria stammende Sänger, Multiinstrumentalist und Produzent liefert keine Musik für schweißtreibende Verausgabung auf der Tanzfläche ab. Bei ihm spielt sich eigentlich nichts von dem ab, was in den Metropolen gerade cool ist. Auch der Einfluss griechischer Folklore ist nicht feststellbar. Larry Gus, der eigentlich Pananagiotis Melidis heißt und früher mal in einer Band namens Ginger spielte, schwebt in Sphären, die sich nicht innerhalb von Landesgrenzen oder Genres lokalisieren lassen. Gefühlvoll und gedankenverloren setzt er sich über Stereotypen hinweg. Vieles dreht sich um die Free-Jazz-Philosophie eines Sun Ra, um die exzentrischeren Klangkulissen eines Madlib und um psychedelischen Pop. Das Spiel mit exotischen Elementen beherrscht er ähnlich gut wie der Spanier El Guincho, etwa durch Adaption von Klängen aus dem orientalischen Kulturkreis in „Taxonomies“. Wie es auch kommt, es nimmt sofort gefangen. YEARS OF LIVING belohnt Leute, die sich auf der Suche nach dem besonderen Kick sonst unterfordert fühlen.

**** Thomas Weiland

HAIM

DAYS ARE GONE

Vertigo/Universal (VÖ: 20.9.)

Zwischen Midtempo-AOR und modern inszeniertem Pop: Das Debütalbum der drei Schwestern weiß nicht ganz genau, was es sein will.

Kalifornien an sich ist eine große Behauptung, die ununterbrochen Matrizen ausspuckt, die wiederum der Vervielfältigung des American Dream dienen. An diesem System der permanenten Selbstüberhöhung haben sich viele abgearbeitet, ganz früher etwa The Standells, irgendwann mal Dead Kennedys, zuletzt EMA. Andere haben es vorgezogen, die Traumwelt, in der es niemals regnet (Albert Hammond, 1972, natürlich nicht wörtlich zu nehmen) so fest zu umarmen, bis sie Teil ihrer selbst wurde. Das ist ein völlig valides Vorgehen und schenkte uns einige der besten Popsongs der vergangenen Jahrzehnte. Haim taten das im vergangenen Jahr mit der hervorragenden Single „Forever“. „You tried to bring yourself up without envolving me“, hieß es da, und im Video malten Jungs mit schweren Motorrädern Kreise auf den Asphalt. Die Musik bewegte sich im Spannungsfeld von Fleetwood Mac und Wilson Phillips, der wohl kalifornischsten aller Popbands. Auf Albumlänge bleiben diese Bezugspunkte bestehen. Die drei Schwestern und der (nicht verwandte) Drummer spielen sich durch Radiopop, der manchmal etwas zu vokalakrobatisch wirkt und eher auf klassisch ausgefuchste Arrangements setzt als auf sofort antizipierbare Hooks. Das ist eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Schnellerhöherweiter-Popzüchtungen aus dem Klanglabor, die dieser Tage den Mainstream dominieren. Gut funktionieren vor allem die Songs, in denen auch Platz für Pausen ist, in denen sich etwas Luft zwischen die einzelnen Spuren schmuggelt. Der wirklich tolle, von Jessie Ware mitgeschriebene Titeltrack ist so ein Lied, oder auch das bereits bekannte „Don’t Save Me“. Leider gelingt es Haim noch nicht, diese Stärken auf Albumlänge auszuspielen. Vor allem in der zweiten Hälfte von DAYS ARE GONE können sich die Stücke nicht zwischen gepflegten Midtempo-AOR und modern inszeniertem Pop entscheiden, was in „My Song 5“ gipfelt, wo plötzlich ultratiefe Wobble-Bässe auf Schweinerock-Gitarren treffen. Vielleicht eine Produzentenidee, immerhin lud man mit Ariel Rechtshaid den Mann ins Studio, der auch schon Ushers „Climax“ mitschrieb. Womöglich dauert es einfach eine Zeit, bis Haim eine stringente Klangsprache gefunden haben. Wir freuen uns jedenfalls auf das, was noch kommt.

***1/2 Jochen Overbeck

ROY HARPER

MAN AND MYTH

Bella Union/[PIAS] Cooperative/Rough Trade (VÖ: 20.9.)

Der Björn Borg des Folk: Roy Harper legt ein gelungenes Comeback hin.

Wäre Roy Harper ein Tennisspieler, dann wäre er Björn Borg. Jemand, der es Jahre nach seinem Rücktritt noch einmal wissen will, aber mit dem alten Holzschläger antritt, weil er mit den neuen Hightech-Rackets nicht zurechtkommt. Harpers Schläger allerdings, die akustische Gitarre, ist gerade wieder angesagt, eine neue Folk-Generation hat den 72-jährigen Briten für sich entdeckt. Es war die Wertschätzung von Joanna Newsom und der Fleet Foxes, die Harper seinen Ruhestand beenden und ein 22. Studioalbum einspielen ließen. MAN AND MYTH ist sich dieses Vermächtnisses schon im Albumtitel bewusst. Vorbildlich rekonstruiert Harper seine eigene Legende von den mäandernden, langatmigen Songs über das lässige Gitarrenspiel bis hin zum gemütlich deklamierenden, immer etwas belehrenden Gesang. In nur sieben Songs, die aber bis zu einer Viertelstunde lang sind, singt Harper nur mehr von den wichtigen Dingen: In „The Exile“ vom Leben, das ewig währt, und in „Time Is Temporary“ davon, wie flüchtig ein Augenblick ist und doch alles verändert. Ein gelungenes Comeback. Das Schicksal von Björn Borg, der bei seiner Rückkehr nur verprügelt wurde, bleibt Roy Harper erspart.

**** Thomas Winkler

MAREK HEMMANN

BITTERSWEET

Freude am Tanzen/Rough Trade

Ein Glanzstück zeitgemäßer elektronischer Popmusik.

Vier Jahre nach IN BETWEEN präsentiert der Musiker aus Gera sein zweites Solo-Album für Freude am Tanzen. Zwischendurch veröffentlichte Marek Hemmann zusammen mit Fabian Reichelt unter dem Projektnamen Marian noch das zeitlose Wunderwerk ONLY OUR HEARTS (2011). Doch nun ist er wieder ganz allein unterwegs und verblüfft von der ersten Sekunde an mit jener schnörkellosen Eleganz, die allen seinen Produktionen seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts innewohnt. Dabei hat sich Hemmann deutlich weiterentwickelt. Statt krampfhaft nach Innovationen zu suchen, hat er sein Geflecht aus pulsierenden Beats und vorwärtsdrängenden Popmelodien verfeinert, ohne dabei zu viel Wohlklang zuzulassen. Immer wieder verhindert er („Zunder“,“Lindwurm“) jeden Anflug von Bequemlichkeit mit knarzigen Synthesizersounds. Die stilistische Bandbreite von BITTERSWEET ist erstaunlich und reicht von Deep-House-Nummern bis hin zu Ambient-Stücken. Trotz dieser Vielfalt geht die einheitliche Linie nicht verloren. Hemmann ist ein Liebhaber elektronischer Musik mit einem ausgeprägten Gespür für Spannungsbögen. Und genau das zeichnet Songs wie „Topper“ und „Endless“ aus und hebt sie aus der grauen Masse ähnlicher Produktionen heraus.

**** Franz Stengel

KINGS OF LEON

MECHANICAL BULL

RCA/Sony Music (VÖ: 20.9.)

Die Followills machen sich nun gar keinen eigenen Reim mehr auf die US-amerikanische Rock ’n’Roll-Tradition. Ein Klagelied:

Rockzipfelboy

Nein, unten rum, da gab’s nie Kummer Der Bumms, der Bass, so tight, so tight These boys do it noch im Schlummer Win aus der Hüfte every fight

Kommt altes Fieber auch nie wieder Out of Dosenbier und Groupiesex Dieser fest im Sattel settled Leute Lieder Schmücken sich mit rock’n’rollin‘ Text

Refrain: Reit auf dem Mechanikbullen Streich dir Löwenkönigssenf auf Stullen Shake mittelstark Schmecke mittelscharf Abenteuerscheu Rockzipfelboy

Tonight somebody’s lover zahlt fürs Sünden Dafür wird sich schon ein Sünder finden Der Westen ist weit und davon zu künden Muss kein Dichter sich groß schinden

Zwischenteil: Jaule on als biste horny Und don’t forget the Leid Beziehungstrouble macht dich zorny Bis in alle Ewigkeit It’s your Tätigkeit It’s your Tätigkeit

Gebt uns a little bit more Sporen To follow Bono, Boss und Petty-Tom On this Highway geht keiner mehr verloren Til Joshua Tree WC-und Raststation

Refrain (2 x): Spring auf den Mechanikbullen Streich dir Löwenkönigssenf auf Stullen Shake mittelstark Lecke mittelscharf Abenteuerscheuer Zipfelrockwiederkäuer

**1/2 Oliver Götz

Interview ME 9/13

MARK LANEGAN

IMITATIONS

Heavenly/[PIAS] Cooperative/Rough Trade (VÖ: 13.9.)

14 Jahre nach I’LL TAKE CARE OF YOU präsentiert der düstere Blues-Barde wieder ein Album mit fremden Stücken.

Lange Zeit war Mark Lanegan unter eigenem Namen musikalisch abstinent, aber jetzt jagt eine Aktivität die andere. Nach BLUES FUNERAL im vergangenen Jahr und der Zusammenarbeit mit Duke Garwood in diesem hat Lanegan immer noch nicht genug. Jetzt gibt es noch ein Cover-Album obendrauf. Grundsätzlich ist das kein Problem. Es kommt allerdings schon darauf an, welche Songs er sich für so ein Projekt aussucht. Beim ersten Mal gab es keine Beanstandungen. Material von Jeffrey Lee Pierce, Tim Hardin, Buck Owens, Tim Rose und Leaving Trains ergab aus Lanegans Mund absolut Sinn. Schwieriger ist es bei der Auswahl, die er dieses Mal getroffen hat. Wenn er sich bei Chelsea Wolfe, Greg Dulli, Nick Cave und John Cale bedient, macht er nichts falsch. Anders ist es bei den Titeln, deren Originale im Plattenschrank seiner Mutter stehen. Die Stücke, die einst ein gewisser Andy Williams gesungen hat, um genau zu sein. „Solitaire“,“Lonely Street“ und „Autumn Leaves“. Da wird dem sonst so harschen Lanegan plötzlich ganz weich ums Herz. Da lässt er sich sogar zu Streicherbegleitung hinreißen. Noch diffiziler wird es, wenn er sich die nicht gerade selten gecoverte Moritat „Mack The Knife“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill vornimmt. Gar nicht mehr akzeptabel ist die Aufnahme von Gérard Mansets „Elégie Funèbre“. Mark Lanegan mit französischem Gesang? Das ‚ört sisch dann schon sèhre gestellt an.

*** Thomas Weiland

JESSY LANZA

PULL MY HAIR BACK

Hyperdub/Cargo

Das Debütalbum der Kanadierin mit von Bassmusik-Strukturen durchzogenem Pop. Oder: die Alternative zum Mainstream-R’n’B.

Erinnert sich noch jemand an Magnetic Man vor drei Jahren? Das Projekt von Benga und Skream hatte mit dem gleichnamigen Album (immerhin Top 5 in Großbritannien) und GastsängerInnen wie Ms. Dynamite, Katy B und John Legend denen, die schon seit Jahren behaupteten, der Dubstep sei jetzt aber endgültig am Arsch (also im Mainstream gelandet), ein Argument mehr für ihre These geliefert. Wer damals DMZ-Weißmuster-12-Inches von Mala und Coki nach wie vor für das Maß aller Dinge in der Bassmusik gehalten hat, musste natürlich die Nase rümpfen angesichts dieser offensichtlichen Poppigkeit der Magnetic-Man-Musik. Ein paar Jahre später – und unter Kenntnis von Acts wie Jessie Ware und AlunaGeorge – wird klar, dass Benga und Skream ihrer Zeit und der musikalischen Entwicklung sehr weit voraus gewesen sind. Der von bassmusikalischen Strukturen durchzogene Pop gilt mittlerweile als höchst glaubwürdig und – was viel wichtiger ist – er stellt eine ernst zu nehmende Alternative zum amerikanischen Designer-R’n’B dar. Wobei wir bei der kanadischen Musikerin Jessy Lanza wären. Bei der Musik auf ihrem von Junior Boy Jeremy Greenspan produzierten Debütalbum handelt es sich strukturell um R’n’B. Der ist eingebettet in weiche und perlende Analog-Synthesizer-Sounds; die Einflüsse von Synthie-Pop (Junior Boys), House und natürlich Bassmusik sind evident. Der Popfaktor dieser Musik ist vor allem der großartigen Stimme der Musikerin aus Hamilton, Ontario geschuldet, die manchmal die Grenzen des Pop aufb richt („Fuck Diamond“) zugunsten einer sehr überraschenden Experimentierfreude.

**** Albert Koch

LAWRENCE

FILMS & WINDOWS

Dial/Kompakt (VÖ: 16.9.)

Das sechste Album des Techno-Pioniers, gibt sich als Freund des bewegten Bildes.

Es ist erst wenige Ausgaben her, da wurde die letzte Dial-Platte von John Roberts mit einer angemessenen Sternenzahl verabschiedet. Dial, das von Carsten Jost und eben Lawrence geführte Hamburger Label, auf dem seit jeher die romantische und melancholische Ader des Minimal gefördert wird. Lawrence, der nach zwei Platten auf Mule nun wieder in den eigenen Stall zurückkehrt, legt mit FILMS & WINDOWS ein Album vor, das besser nicht in den Katalog passen könnte. Laut eigenen Aussagen inspiriert von Filmen, vertont Lawrence 70 Minuten lang Momentaufnahmen diverser Reisen von Südamerika („In Patagonia“) bis nach Japan („Kurama“). Es gibt die gewohnt sanften Beats, die Ambient-Anleihen und einen Groove, der daran erinnert, dass die langweiligen und überraschungsarmen Jahre des Minimal Ende der Nullerjahre Vergangenheit sind. Das wunderschöne „In Patagonia“ ist mit seinen 454 Sekunden noch viel zu kurz, wenn in der Ferne die Synth Pads immer lauter werden und irgendwann mit der Bassdrum verschmelzen. Gewinner des Ganzen ist das fliepende, leicht aufgeregte „Angels At Night“. Ein schönes Album, das Lawrences Discografie aber nichts berauschend Neues hinzufügt.

**** Christopher Hunold

LITTLE AXE

RETURN

Echo Beach/Indigo

Ein mit allerlei exklusivem Material angereicherter Blick auf die ersten beiden Alben der Blues-Erneuerer.

Mit ihrem 1992 ins Leben gerufenen Projekt Little Axe hatten Gitarrist Skip McDonald, Bassist Doug Wimbish und Schlagzeuger Keith LeBlanc, die ehemalige Hausband des legendären Labels Sugar Hill, dem Blues vor zwei Jahrzehnten mit neuen Impulsen aus Dub und Elektronik eine Frischzellenkur verpasst. Bis heute sind sie ihrer Mission treu geblieben, wenn auch mit leicht nach unten zeigender Formkurve, zuletzt auf dem 2011 veröffentlichten Album IF YOU WANT LOYALTY BUY A DOG. Wie zeitlos ihre Anfang der 90er-Jahre erstmals vorgestellte Vision von zeitgemäßem Blues wirklich war, lässt sich mit Abstand von gut zwei Jahrzehnten nun auf RETURN überprüfen, einer Zusammenstellung der besten Tracks ihrer ersten beiden Alben, THE WOLF THAT HOUSE BUILT (1994) und SLOW FUSE (1996), angereichert mit bisher unveröffentlichten Songs und Remixen. Bereits die auf 999 Exemplare limitierte CD bietet mit 16 Nummern einen sehr guten Überblick. Die digitale Variante enthält 13 Stücke mehr, die zum tieferen Verständnis dieser Band nicht unwichtig sind. Zu den herausragenden Remixen auf der CD-Version zählt neben dem Control-Tower-Remix des Titels „Ride On“, der in der Originalversion 1994 das Debütalbum von Little Axe eröffnete, vor allem die elektrisierende Bearbeitung des Songs „Storm Is Rising“, für die Herbaliser verantwortlich zeichnet.

**** Franz Stengel

MAX LODERBAUER

TRANSPARENZ

NSP/Hardwax

Elektronische Avantgarde: Referenzen an die Clubmusik sind auf dem ersten Solo-Album des Berliner Produzenten nur auf einer Meta-Ebene vorhanden.

Clubmusik, so hat Ricardo Villalobos einmal gesagt, sei eine Vereinfachung von Musik, mit der der DJ wie ein Lehrer seinem Publikum etwas vermittele. Das Wahre, Gute, Schöne scheint sich beim DJ zu Hause abzuspielen, wenn er sich der Musik widmet, die nichts vereinfacht, weil sie nicht deckungsgleich ist mit der, die er auflegt. Max Loderbauer stand noch nie im Verdacht, ein Vereinfacher zu sein. Der nicht gerade unbekannte Produzent, Musiker und Komponist war Mitglied des Ambient-Duos Sun Electric, ist Teil des Moritz von Oswald Trios, betreibt Projekte mit Tobias Freund (NSI) und Sasu Ripatti (Heisenberg) und arbeitet seit Jahren mit Ricardo Villalobos zusammen. Es steckt viel von Loderbauers anderen Projekten in TRANSPARENZ, das auf Non Standard Productions, dem Label von Tobias Freund, veröffentlicht wird. Loderbauers Musik – komplett improvisiert auf Hardware-Instrumenten -ist entkoppelt von jeglichen Clubkontexten und richtet sich an die Avantgarden. Auch wenn der Rezipient, vielleicht aus Hilflosigkeit, immer wieder soundästhetische Verwandtschaften (Ambient, ja, auch Spurenelemente von Techno und House) in diesen dunkelschwarzen Soundkonstruktionen zu entdecken glaubt. Vielleicht darf der schmerzhaft repetitive minimalistische Track „SSSEQ“ sogar als Kommentar zur Clubmusik verstanden werden. Wenn der Beat einmal gerade ist („Shelf“), dann lässt Loderbauer ihn von experimentellen Sounds begleiten. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass das Album mit dem Track „Kontur“ endet, in dem das Echo freier Jazzimprovisation und Neuer Musik nachhallt.

***** Albert Koch

MACHINEDRUM

VAPOR CITY

Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 20.9.)

Der schönste Schnurrbart der Bassmusik taucht tiefer in die Soundwelten von Juke, Rave und Jungle.

Es ist manchmal schwer, überhaupt noch mitzukommen. Gerade noch hat Travis Stewart aka Machinedrum aus heiterem Himmel mit Kollege Braille eine EP ihres gemeinsamen Projektes Sepalcure auf Hotflush veröffentlicht, nun steht das zweite Solo-Album als Machinedrum an, das nach dem überragenden Vorgänger ROOM(S) in ordentlich große Fußstapfen tritt. Erinnern wir uns: Die Platte war eine zeitgemäße Überführung des aufkommenden Footwork-und Juke-Revivals in den musikalischen Rahmen der klassischen britischen Bassmusik. ROOM(S) ist immer noch das Album, das man braucht, wenn man auch nur einen Fitzel Interesse für abenteuerliche Verrenkungen zu blitzschnellen Garage-Beats hat. Album Nummer zwei, das fällt auf, ist etwas ruhiger und versponnener. Die markanten Vocalsamples, gerne sehr dramatisch und voller Herzschmerz, fehlen nicht. Mit ein paar Ausnahmen (wie das grandiose „Eyesdontlie“) scheint es in VAPOR CITY jedoch düsterer zuzugehen als in den ROOM(S). Entstanden ist die imaginäre Stadt in einer Reihe von wiederkehrenden Träumen, die Stewart mit seiner Musik nachzeichnet.

***1/2 Christopher Hunold

MANIC STREET PREACHERS

REWIND THE FILM

Columbia/Sony Music (VÖ: 13.9.)

Rock: Die erste von zwei neuen Platten, melodieselig wie selten und politisch wie immer.

Ein „paar Jahre“ Auszeit wollte sich das Trio nach POSTCARDS FROM A YOUNG MAN gönnen, und es wurden dann nicht nur genau zwei Jahre, sondern auch gleich zwei Alben, die gleichzeitig aufgenommen wurden. Das „härtere“ der beiden ist für 2014 angekündigt, das „akustische“ liegt vor und klingt sooo akustisch nun auch nicht. Gut, eine elektrische Gitarre erklingt nur im hymnischen Opener „3 Ways To See Despair“, aber auch die übrigen Titel entwickeln genug Wucht – wofür gibt’s mehrstrahlige Bläsersätze und all die vielen Tonspuren, mit denen akustische Gitarren aufgetürmt werden können? Trotzdem beginnt man die Gitarre vom Anfang und damit die typisch instrumentierten „Manics“ zu vermissen. Nichts gegen das Songwriting, das hier klar und melodiös im Vordergrund steht. Dafür, nicht für den Lärm, darf man sie lieben. So ist etwa das Titelstück, größtenteils gecroont von Britpop-Legende Richard Hawley und gekonnt gekontert von James Dean Bradfields druckvollerem Organ, eine Liebeserklärung an die verflossene walisische Bergbauindustrie – und damit ein weiterer Schmähsong auf die inzwischen ebenfalls selige Radikalprivatisiererin Margaret Thatcher. Die Band setzt mit ihrem Protest auf Folk und klingt stellenweise so konventionell rural wie Fairport Convention; später wird sogar der Woody Guthrie der DUST-BOWL-BALLADS-Ära zitiert. Musikalisch bleibt das süffig bis aufregend. Die Manics minus ihre Wut, das ist purer Pop. Was aber aus den gefälligen Kompositionen allzu gefällige macht, ist die dezidiert linke Gesellschaftskritik mit den sentimentalen Beschwörungen besserer Zeiten. Ästhetisch wie inhaltlich ist REWIND THE FILM einer Nostalgie verhaftet, die sich ihrer Tränen nicht schämt und deshalb zu oft die Grenze zum Kitsch überschreitet.

***1/2 Arno Frank

ME AND OCEANS & THE ENSEMBLE MISTRAL

THE BAY

Analogsoul/Cargo

Pop-Miniaturen mit kratzigem Soul in der Stimme: das Leipziger Projekt Me And Oceans und sein drittes Album -die deutsche Antithese zum Bombast-Pop.

Der Name als Transportmittel des Vibes: Analogsoul, das Kreativnetzwerk aus Leipzig, ist seit Jahren Plattform für beeindruckend eigene und „handgemachte“ Musik, die modernes Songwriting auf digitale Beats oder gleich auf ein Streichertrio treffen lässt. Wie bei Me And Oceans, dem Projekt von Fabian Schuetze. Der Mitbegründer des Leipziger Labels präsentiert auf seiner dritten Veröffentlichung, THE BAY, neue Stücke, inszeniert alte Songs neu, wirft viel Digitales über Bord, um die ohnehin melancholische Stimmung mit Instrumenten wie Bratsche, Cello und Violine noch offener zu inszenieren. Erste Attraktion ist Schuetzes raue und bedeutungsschwangere Stimme, sie spricht eine verletzte, rohe Sprache, die mitunter kalt wirkt und ganz sicher limitiert ist. Doch der Leipziger spielt mit diesem Mangel, weiß um die Imperfektion und macht seinen Bass durchlässig, evoziert Transparenz, die mit der Fragilität der Arrangements der Kompositionen wundervoll harmoniert. „When I Was A Dancer“ und „A Quarter“ sind nüchterne Stücke, liebevoll und gedankenverloren. Trauer und Hoffnung im ewigen Duell, mit nur einem möglichen Sieger – hoffentlich. Das Raue von Fabian Schuetze wird von Freund und Ein-Mann-Faszinosum Arpen (googeln Sie bitte diesen Namen!) flankiert, der mit seiner Tastensentimentalität mal als Kontrapunkt, mal als Emotionskatapult fungiert. THE BAY hat viele kleine und große Momente zu bieten, schon recht: Es ist mehr eine Suite als eine Liedersammlung. Und wer einen grenzdebilen Karnevals-Stimmungsklassiker wie „Polonaise Blankenese“ von Gottlieb Wendehals in ein Quasi-Lamento verwandelt, hat sowieso schon mal gepunktet. Diese sympathischen Leipziger.

**** Sebastian Weiß

IAN MCCULLOCH

HOLY GHOSTS

Demon/Edsel/Soulfood

Melodramatischer Orchester-Pop von Liverpools einstigem Post-Punk-Gott.

Mac The Mouth beißt nicht mehr: Der 54-Jährige hat Alkoholprobleme, steckt im Karrieretief und versucht sich immer wieder im Alleingang. Dabei weiß er, dass er ohne Gitarrist Will Sergeant, mit dem er seit den späten 70ern Echo &The Bunnymen anführt, nur die Hälfte wert ist. Doch motiviert durch die jüngsten UK-Tourneen, bei denen Albumklassiker wie OCEAN RAIN mit großen Sinfonieorchestern dargeboten wurden, wagt er sich nun auch solo an Bläser, Streicher und Kesselpauken. Was sogar funktionieren würde, wenn die Songs stärkere Melodien hätten und sich der Mann mit der angewachsenen Sonnenbrille nicht in weinerlichem Selbstmitleid der Marke „Das Haus ist leer“, „Die Party ist zu Ende“ oder „Meine Träume sind tot“ ergehen würde. Da wirkt er im Gegensatz zu seinen Idolen Leonard Cohen und Roy Orbison einfach unerträglich, schreckt weder vor Kinderchor, triefendem Kitsch noch einer gruseligen Major-Tom-Hommage („Me And David Bowie“) zurück und erreicht allenfalls in „Raindrop On The Sun“ und „Fiery Flame“ Normalform. Umso besser ist er auf der einstündigen Bonusdisc mit Orchesterversionen bekannter Bunnymen-Songs, die geradezu gänsehauterzeugend sind. Aber: Die hat er auch nicht alleine geschrieben.

** Marcel Anders

MÚM

SMILEWOUND

Morr Music/Indigo

In einen Fluss gebrachte Erzählungen aus Elektronik, Funk und Folk.

„Underwater Snow“ heißt das zweite Stück auf dem neuen, mittlerweile siebten Album der Isländer Múm, und es gibt nicht nur ein wunderbares Bild ab für diese über weite Strecken im engeren Sinne wunderbare Musik. Es ist auch ein Experiment auf Pop-Niveau: Wie hier die Elemente zueinanderfinden, die man sich nicht in einem Atemzug denken kann, wie das ätherische Folklied in eine Keyboardgirlande eingewickelt wird und plötzlich mit einem Spaceship aus der Krautrock-Ära Bekanntschaft macht, erzählt von einer Band, die sich selbst von Platte zu Platte neu kennenlernen möchte – in einem Akt des freien Fließenlassens. Das Metier der sozialen Gruppe Múm, die sich immer mal wieder um das eine oder andere Mitglied verändert (oder eine frühere Mitstreiterin wie Gyða neu an Bord begrüßt), ist die Kunst der Zusammenführung; das kann ein funky Drum’n’Bass-Track sein, der mit einer lieblichen Pop-Melodie lächelnd flirtet („The Colorful Stabwound“) oder der Nerd-Funk, der sich ganz selbstverständlich auf eine orientalische Weise legt. Man möchte dieser Musik ständig zunicken. Ob das dann noch Folktronica heißen muss? Am Ende singt Kylie Minogue für Múm, dafür darf man ihr auf der Stelle einen Altar bauen.

****1/2 Frank Sawatzki

NIGHTMARES ON WAX

FEELIN‘ GOOD

Warp/Rough Trade (VÖ: 13.9.)

Der englische Produzent bringt auf dem ersten Nightmares-On-Wax-Album seit fünf Jahren klassische Flavours der Dance-Music meisterhaft zusammen.

So ganz sicher war man sich nicht, ob sich George Evelyn noch mal so in die Musik hineinknien würde, wie er es früher getan hat. Evelyn ist vor sieben Jahren von Leeds nach Ibiza gezogen, um sich dem mythischen Ort britischer Dance-Exzesse hinzugeben. Jeder Mensch, der schon mal mediterrane Inseln bereist hat, weiß längst, dass man dort gut leben, aber nicht gut arbeiten kann. Entsprechend indifferent wirkte das, was auf dem ersten Album von Nightmares On Wax, das unter dem Einfluss von Ibiza enstanden ist, THOUGHT SO aus dem Jahr 2008, enthalten war. Nightmares On Wax light war das. Seitdem sind fünf Jahre ins Land gegangen, die George Evelyn zum Auftanken genutzt hat, dem neuen Arbeitsnachweis FEELIN‘ GOOD nach zu urteilen. Evelyn hat seinen Sound nicht ausgehebelt und auf neue Füße gestellt. Er ist im Prinzip dem Bauplan seiner Musik treu geblieben, hat allerdings die einzelnen Teile noch einmal mit Liebe verschraubt. In den ersten Tracks auf FEELIN‘ GOOD geht es geruhsam zu. Es kommt ein gewisser Jazz-Einfluss zum Vorschein, den der Arrangeur Sebastian Studnitzky mit zarter Orchestrierung verschönert. Mit dem Track „Now Is The Time“ endet das Vorglühen, und es beginnt der lebhafte Teil des Albums. Nacheinander arbeitet George Evelyn Dub-Reggae, Soul alter Schule und Andeutungen von dem ab, was es vor 22 Jahren auf dem Debütalbum von Nightmares On Wax, A WORD OF SCIENCE, zu hören gab. Höhepunkt des Albums ist der fette Bass-Groove in „Tapestry“, der jede Disco zum Kochen bringen dürfte. Auf Ibiza oder sonstwo. Es geht eben doch nichts über eine alte Liebe.

****1/2 Thomas Weiland

OCTO OCTA

BETWEEN TWO SELVES

100% Silk – US-Import

Hände hoch, Hosen runter. 100% euphorischer Deep House aus der Hitschmiede 100% Silk aus Brooklyn.

Die Hitschmiede von Labelchefin Amanda Brown hat in jüngster Vergangenheit ein bisschen unter dem Fließbandsyndrom gelitten. Es gab zu viel Masse statt Klasse bei den Veröffentlichungen von 100% Silk; mit dem ersten Longplayer von Octo Octa hat sich das dankenswerterweise wieder gedreht. In der Tradition der bisherigen Platten des Labels steht mit BETWEEN TWO SELVES wieder der dekadentere Deep House im Anzug vor der Tür, der das schwindelerregend teure Taxi bezahlt und dir eine Nacht voll Maßlosigkeit, Euphorie und „Nachmir-die-Sintflut“-Attitüde beschert. Die krispen Beats von Michael Morrison aka Octo Octa sind voller getragener Synthesizer-Melodien über tief wandernden Bässen und bewegen sich in einem faszinierenden Umfeld zwischen der Romantik von Dial Records und den leuchtenden, ravenden Sternen der letzten Veröffentlichungen von Lone. Heruntergepitchte Vocalsamples britischer Bauart und ein Tempo für die After Hour tun das Übrige. Mit Tracks wie dem fast bedrohlichen „Come Closer“, dessen Drop von einer vernünftigen Anlage besonders lieb gehabt werden dürfte, „Bad Blood“, das hier ganz dringend seine eigene Zeile zur Huldigung bekommen muss, und dem grell strahlenden Exzess von „His Kiss“ gibt es genug Argumente für dieses Album. BETWEEN TWO SELVES ist ein Überraschungsgewinn für das laufende Musikjahr, das sich über einen Mangel an formidablen House-Platten zwar nicht beklagen muss, durch dieses Album aber um eine weitere Facette reicher wird.

***** Christopher Hunold

OKKERVIL RIVER

THE SILVER GYMNASIUM

ATO/[PIAS] Cooperative/Rough Trade (VÖ: 27.9.)

Ein musikalischer Themenabend: Will Sheffs Jugenderinnerungen zeigen Okkervil Rivers Indie-Rock so gelungen wie lange nicht mehr.

Inhaltlich glänzten die Alben von Will Sheffs Okkervil River bisher meist durch fein ziselierte Gedankenwelten, deren Bezüge zur Realität stets chiffriert waren und sich nur selten auf Sheff selbst bezogen. Es wird schon im Opener „It Was My Season“ klar, dass das auf THE SILVER GYMNASIUM nicht mehr der Fall ist. Sheff nimmt uns mit auf eine Art Heimaturlaub, erzählt vom Aufwachsen in Meriden, New Hampshire, singt vom Ärger mit den Eltern und den Zukunftsplänen und von der Freundschaft, vielleicht auch von der Liebe: „They say that I’ll go to college. They say that you will stay home and watch while I’m leaving“ heißt es da, und auch im weiteren Verlauf der Platte blicken wir mehrfach in den sperrigen Alltag eines Heranwachsenden („When I first saw your mom I was right and she was wrong about just the type of man she was bringing back“ aus „White“), aber auch in die Tiefen einer troubled soul, etwa in „Pink-Slips“. Hier erkennt man nicht genau, ob die zerbrochenen Träume, die da besungen werden, die von Amerika oder die von Will Sheffs am Abgrund sind. Interessant ist, was uns Sheff als Beiwerk mitgibt: Zu einem von Will Schaff (ja, der Mann, der für das Artwork der Band verantwortlich ist, heißt fast genau wie der Sänger) gezeichneten Digital-Diorama seiner Heimat erzählt er von der Kindheit, vom ersten Weglaufen und von Akademiker-und Trailer-Park-Kids. Das ergibt zusammengenommen eine Welt, mit der man sich gerne weiter beschäftigen würde, zumal die Platte Okkervil River musikalisch so stark zeigt wie zuletzt auf THE STAGE NAMES (2007): warm inszenierte Indie-Rock-Hymnen, über die Sheff expressiv singt wie selten, ein wenig erinnert er an Jarvis Cocker zu „Do You Remember The First Time“-Zeiten.

***** Jochen Overbeck

Story S. 20, CD im ME Seite 19

O EMPEROR

VITREOUS

K&F/Broken Silence

Musikalischer Gemischtwarenladen mit balladesken Pianoklängen à la Paul McCartney, Progressive-und Psychedelic-Rock.

Nachdem das irische Quintett O Emperor erst voriges Jahr mit HITHER THITHER ein strahlend schönes und vielschichtiges Debüt vorlegte, das leider viel zu wenig Beachtung erfuhr, muss man jetzt leider schon wieder „leider“ sagen, denn: Das beachtliche Niveau kann die Band aus Waterford mit VITREOUS nicht halten. Zwar wird auch auf dem Zweitling wieder fleißig der Hut vor den späten Beatles und den frühen Pink Floyd gezogen, doch fehlt es vor allem an der Dringlichkeit, an den einprägsamen Melodien, an diesen herrlichen „Radiohead-zu-THE-BENDS-Zeiten“-Anleihen des Vorgängers. Was natürlich nicht heißen soll, dass wir es hier mit einem schlechten Album zu tun haben; sehr inspiriert geht es los, wenn die Piano-Ballade „Grandmother Mountain“ plötzlich in verstrahlte Psychedelic-Rock-Sphären ausbricht, „Holy Fool“ mit Powerchords und huschigem Aaah-Whoooo-Gesängen in euphorischem Uptempo losprescht oder es mit dem von massiver Schlagzeugwucht befeuerten „Contact“ schön kratzbürstig wird. In Albumhälfte zwei ist aber etwas die Luft raus, weil sich VITREOUS zu sehr im gestelzt-elegischen Prog verliert.

***1/2 Martin Pfnür

ONEOHTRIX POINT NEVER

R PLUS SEVEN

Warp/Rough Trade (VÖ: 27.9.)

Der Sample-basierte Ambient-Drone von Daniel Lopatin war durchaus schon mal etwas spannender.

Bevor wir zu Daniel Lopatins drittem Album kommen, gibt es eine nachträgliche Kaufempfehlung für das formidable Zweitwerk REPLICA, das sich 2011 auf den Jahres-Bestenlisten der Informierten einen Platz in den oberen Regionen sicherte. Für den Experimental-Musiker und Komponisten aus Brooklyn ging es anschließend ohne viel Pausen weiter. Neben einem gemeinsam veröffentlichten Album mit Genre-Kollege Tim Hecker kümmerte er sich um den Score für den Film „The Bling Ring“ mit Emma Watson und zog um auf das Warp-Label, wo sein insgesamt viertes Album veröffentlicht wird. Der große Aha-Moment des Vorgängers bleibt trotz der gewohnt hohen Qualität auf R PLUS SEVEN jedoch aus. Die Orgel am Ende von „Chrome Country“,“Cryo“, das wie ein kaputt gemixter Fahrstuhl-Score klingt, die Videospiel-Sounds in „Americans“ oder das nervöse Ambient-Gezappel in „Zebra“ lassen an frühere Großtaten denken. Insgesamt jedoch wirkt die Platte eher fahrig und zusammenhangslos. Eine Reihe von Experimenten, die nicht so recht zusammen funktionieren wollen, auch wenn die Rezepte an sich stimmen. Es fehlt dieses manische Element, das den Vorgänger in die Nähe von wahnsinnigen Techno-Exorzisten wie Actress gebracht hat. Sowohl insgesamt für Daniel Lopatin, als auch für das Warp-Label in diesem Jahr die erste eher schwächere Platte.

*** Christopher Hunold

PATRICE

THE RISING OF THE SON

Supow/Groove Attack

Reggae aus Kerpen-Brüggen: Zwischen experimentell, traditionell und schlimm.

Ein Blick auf die Chartsstatistik legt nahe: Der Mann aus Kerpen-Brüggen scheint seinen kommerziellen Höhepunkt bereits überschritten zu haben – was mit der allgemeinen Sättigung in Sachen Reggae aus Deutschland korrespondiert. Die These kann der 34-Jährige zwar nicht widerlegen, gibt dem Genre aber ein paar neue Impulse. Schließlich gibt er sich gerade im ersten Drittel seines sechsten Albums extrem ambitioniert und experimentell. Als würde er innerhalb des ebenso traditionsreichen wie stagnierenden Genres nach neuen Ausdrucksformen suchen, experimentiert er mit progressiven Arrangements, vielschichtiger Instrumentierung und einem rauen, ungeschliffenen Sound. Hinzu kommen Vorstöße in Dub und Rocksteady sowie das Gefühl: Hier tut sich etwas, hier probiert jemand wirklich etwas Neues. Doch dann tritt Patrice unvermittelt auf die Bremse, verfällt ins Akustische, Getragene und Melodramatische, das eher kitschig und hausbacken anmutet – ehe es zum Ende noch eine wunderbare Ballade mit Ikaya und einen Ausflug in die osteuropäische Folklore gibt. Richtlinie fürs nächste Mal: Mehr von dem Ausgefallenen, weniger von dem Vertrauten.

*** Marcel Anders

PLACEBO

LOUD LIKE LOVE

Universal (VÖ: 13.9.)

Die erfolgreichen Alternative-Rock-Schwarzseher treten aus der Schattenwelt und nähern sich dem Licht und sanften Klängen.

Was für Geschichten mag Brian Molko seinem Sohn wohl vorlesen, welche Lieder vorsingen? Wenn es welche aus dem eigenen Repertoire wie „Ashtray Heart“,“The Bitter End“ oder „Black-Eyed“ sind, dann dürfte der Knirps Albträume bekommen. Die Vaterrolle aber scheint dem Frontmann von Placebo ein Stück aus seiner Schattenwelt zu holen und so manchen seelischen Plagegeist zu vertreiben. Die Überzeugung von der Nichtigkeit alles Seins hat ja bisher fast jedes Album von Placebo geprägt, aber auf Dauer ist diese Haltung zu destruktiv. Für die Band war es also an der Zeit, den Blickwinkel zu ändern. „Wir haben uns erstmalig in unserer Karriere nicht unserem Nihilismus hingegeben, sondern tatsächlich nach so etwas wie dem Sinn gesucht“, erklärt Molko. LOUD LIKE LOVE klingt auch musikalisch wie ein Gegenentwurf zu dem 2009 veröffentlichten Vorgängeralbum BATTLE FOR THE SUN, einem rastlos rockenden und aufgewühltem Werk. Vier Jahre später präsentiert sich das Trio, das nächstes Jahr seinen 20. Geburtstag feiert, von ganz anderen Seiten. Auch wenn es in „Bosco“ um Alkohol und seine Auswirkungen auf eine Beziehung geht, so ist Placebo damit trotz der thematischen Schwere eine wunderbare, schwelgerische Ballade gelungen. Auch „Hold On“ mit seinen verschleppten Drums, symphonischen Klängen und einem sanften Gitarrenspiel rückt weit ab von dem Gebretter auf BATTLE FOR THE SUN. Vor allem die Keyboards drängen in vielen Songs („Scene Of The Crime“, „Exit Wounds“, „Purify“) verstärkt ins Zentrum, aus dem die metallischen Gitarren-Riffs häufig verbannt wurden. So spielen Stücke wie das aggressive und grimmige „Rob The Bank“, das die Zügellosigkeit der Finanzwelt thematisiert, dann auch eher eine Nebenrolle. Placebo haben also ein bisschen Frieden geschlossen mit sich und der Welt.

***1/2 Sven Niechziol

Themeninterview S. 10

PROTOMARTYR

NO PASSION ALL TECHNIQUE

Urinal Cake

Mit ihrem punkigen Debüt verweisen Protomartyr auch auf die musikalische Vergangenheit Detroits.

Auf ihrer Facebook-Seite haben Protomartyr aus Detroit ein Titelbild hochgeladen, das eine Gruppe junger Männer zeigt, die gerade im Begriff zu sein scheinen, ein Taxi umzukippen. Das passt natürlich sehr gut: Motor City Detroit. Krawallstadt Detroit. MC5/Stooges-Stadt Detroit. Auf NO PASSION ALL TECHNIQUE scheint all das herumzugeistern, denn es ist einerseits ein rauer, punkiger, auf Krawall gebürsteter Habitus, der diesem Debüt zugrunde liegt; andererseits tauchen tatsächlich auch Detroiter Orte und Charaktere wie die Bar „Jumbo’s“ oder ein „Machinist Man“ in den Songtiteln auf. Mit dem Albumtitel führt uns die Band jedoch in die Irre, denn Protomartyr haben beides: die Leidenschaft und die Technik. Eine Mordsenergie wird da umgesetzt, die mal in wuchtig aufeinandergeschichteten Gitarrendrones („Jumbo’s“), mal in zurückgelehnteren und gleichsam kratzigen Midtempo-Stücken („Three Swallows“), mal in astreinem Speed-Punk („Free Supper“) Funken schlägt, während Joe Casey mit seinem gravitätischen Bariton den Nick Cave gibt. Am besten ein paar Schnäpse vorher kippen und beim Hören Sachen kaputt machen.

***** Martin Pfnür

QUADRON

AVALANCHE

Epic/Sony Music (VÖ: 13.9.)

So dermaßen stimmig arrangierter Soulpop, am Detail werden wir da bestimmt nicht herummeckern.

Auf dem zweiten Album des aus Dänemark stammenden und in die USA umgezogenen Duos Quadron wird man mit einschlägigen Klischees nur so zugeworfen. Der unterschwellige Groove, die sanften, jazzigen Bläser-und die per Produzenten-Dekret als melancholisch zu empfindenden Klavier-und-Streicherwerden-von-synthetischen-Sounds-verdichtet-Arrangements, die nur vorsichtig um ein paar Kniffe der R’n’B-Schule der späteren 90er-Jahre erweiterten Gesangssätze – hier fehlt es wirklich an nichts, um klarste Bezüge herzustellen. Und spätestens das Artwork der Platte, durch das sich Coco O. (selbst der Name der Sängerin klingt wie der einer der unzähligen Prince-Musen aus den 80er-Jahren) in Flamenco-Tänzer-Outfit und Robin Hannibal in schwarzem Anzug über Goldkettchen über Rollkragenpullover posen wie in verstörenden Sade-und Terence-Trent-D’Arby-Fieberträumen, scheint geradewegs in die 80s-Retro-Hölle zu führen. Allerdings weiß Coco O. ihre – von angesehenen Künstlern wie Questlove, Jay-Z und Tyler, The Creator hochgeschätzte – Soulstimme derart wohldosiert und unkapriziös einzusetzen, dass jeder Zweifel, der dieser Musik entgegengebracht wird, wohlüberlegt formuliert sein sollte. Insgesamt ist AVALANCHE derart stimmig und ohne eine Zutat zu viel um Coco O. herum produziert, dass sich schnell ziemlich kleinkariert vorkommt, wer da den Makel sucht. Grundsätzlicheren Argumenten wie „Ich finde, dieser ganze Soul- und Jazz-Pop-Scheiß der 80er-Jahre stinkt irgendwie nach Bohnerwachs“ ist diese Platte aber natürlich schutzlos ausgeliefert.

**** Oliver Götz

RAH RAH

THE POET’S DEAD

DevilDuck/Indigo

Das dritte Album der kanadischen Band und das erste, das in Deutschland offiziell veröffentlicht wird. Dieser Indie-Rock ist auf der Bühne noch besser aufgehoben als auf Platte.

Vor allem auf der Bühne haben sich Rah Rah bislang einen Namen gemacht. Mit ihrem dritten Album, THE POET’S DEAD, scheint es ihnen nun erstmals gelungen zu sein, diese legendäre Live-Energie ins Studio hinüberzuretten, ohne sie dabei gleich überhandnehmen zu lassen. Denn das war ein Problem der ersten beiden Alben (GOING STEADY von 2008 und BREAKING HEARTS von 2010) des Sextetts, die hierzulande nie offiziell veröffentlicht wurden: Rah Rah machten es ihren eigenen Songs bisher nicht allzu leicht, weil sie meinten, sie mit viel zu viel Instrumentarium, Ideen, Gimmicks und wechselnden Vokalisten umsetzen zu müssen. Fürs dritte Album, THE POET’S DEAD, das in Kanada, der Heimat der Band, bereits vor knapp einem Jahr herausgekommen ist, haben sie sich eingeschränkt, wenn auch noch nicht wirklich beschränkt: Immer noch reicht das musikalische Spektrum, das mitunter in ein und demselben Song durchschritten wird, vom nervösen Schrammelpop bis hin zu schwerfälligen Ausflügen ins Atonale, vom kämpferischen Stadionrock bis hin zu introspektivem Folk. Dabei entstehen mal hypnotisch pulsierende Songs, aber auch immer wieder ziellos umherirrende Stücke, die auch das eine oder andere Mal zu oft an Rah Rahs kanadische Kollegen wie Stars und Arcade Fire erinnern. Songs wie „Prairie Girl“ und „Saint“ sind trotzdem ziemlich großartig, aber auf Albumlänge wecken Rah Rah dann doch vor allem die Lust darauf, sie auf einer Bühne einmal spielen zu sehen.

**** Thomas Winkler

Story S. 27

DIZZEE RASCAL

THE FIFTH

Dirtee Stank/Universal (VÖ: 30.9.)

Der Rapper aus Ostlondon wollte der EDM einen neuen Dreh verleihen. Herausgekommen ist auf seinem fünften Album gnadenloses Großraumgeholze.

Die Drohung „I wanted to put a new spin on EDM“ schickte Dizzee Rascal großmäulig der Veröffentlichung seines fünften Soloalbums voraus. Von den zu erwartenden Reflexreaktionen auf die Reizabkürzung des Jahrtausends einmal abgesehen: Das ist glatt gelogen, oder zumindest der Versuch ist gründlich in die Hose gegangen, denn eine neue Facette fügt Dizzee Rascal mit seinem neuen Album allenfalls seinem persönlichen Werdegang hinzu. Mit THE FIFTH scheint der 27-jährige Ostlondoner endgültig allen Grimm abgelegt zu haben und feiert stattdessen ausgiebig das gute Leben: mit breitbeinigem Bratzelectro, tolldreistem Trap, Autotune, will.i.am und gefühlten 20 Drops pro Minute. Das ist sicher nicht gut gemeint, mitunter aber doch gut gemacht. Die Idee etwa, Robbie Williams über einen durchtrainierten Housebeat von Warren „Oak“ Felder und Andrew „Pop“ Wansel zu schicken, hat durchaus ihren Charme. Das Gewobbel unter „Spend Some Money“ mit Tinie Tempah hat man anderswo auch schon uninspirierter gehört. Und Dizzee Rascal ist selbstredend immer noch ein guter Rapper, dessen Stimme noch aus dem gnadenlosesten Großraumgeholze glasklar hervorsticht. Von diesem gibt es auf THE FIFTH allerdings dann doch ein bisschen zu viel, als dass man sich ernsthaft mit Dizzee Rascal über seine neu entdeckte Schampuslaune freuen könnte.

** Davide Bortot

THE SADIES

INTERNAL SOUNDS

Yep Roc/Cargo (VÖ: 16.9.)

Weiterentwicklung ist doch etwas für Weicheier: Die Kanadier arbeiten sich im Jahr vor ihrem 20. Bandjubiläum wieder einmal ausgiebigst an der Americana ab.

Nein, man kann dieser Band nicht unbedingt vorwerfen, sie würde sich weiterentwickeln. Auf ihrem aktuellen Album INTERNAL SOUNDS klingen The Sadies eigentlich wie immer in ihrer bald 20-jährigen Bandgeschichte. Die Kanadier spielen sich quer durch den nordamerikanischen Genre-Katalog – von Country über Roots-Rock und Psychedelic-Rock bis hin zum Breitwandrock und Folk. The Sadies packen die Fiedel aus, setzen sich auf ein Pferd und reiten in den nächsten Saloon. Manchmal ziehen sie auch das Tempo ein bisschen an, kaufen sich einen klapprigen Straßenkreuzer, füllen ihn mit ökologisch unvernünftig viel Benzin und rollen in den Sonnenuntergang hinein. Die große Kunst der kanadischen Band besteht aber wieder einmal darin, wie sie mit diesen Klischees umgeht. The Sadies adaptieren sie auf INTERNAL SOUNDS einerseits sehr genüsslich, ziehen andererseits aber auch einen zwar nur schmalen, aber hörbar vorhandenen Sicherheitsabstand zu ihnen ein. So folgt einem Song mit dem Titel „Another Tomorrow Again“ ein Song mit dem Titel „Another Yesterday Again“. Die sanfte Ironie verwandelt sich bei den Sadies aber niemals in Sarkasmus, schon weil sie nicht nur um die Funktionalität der Vorlagen aus der großen Vergangenheit wissen, sondern auch vor allem um deren Würde – und diese niemals verraten würden. Wer muss sich denn schon weiterentwickeln, wenn er sich in jedem Song an wahrer Größe abarbeiten darf? Die Sadies jedenfalls nicht.

**** Thomas Winkler

SCHNEIDER TM

GUITAR SOUNDS

Bureau B/Indigo (VÖ: 27.9.)

Musik ohne Sicherheitsnetz: Gitarrenimprovisationen von Dirk Dresselhaus.

Nachdem Dirk Dresselhaus für sein letztes Album CONSTRUCTION SOUNDS aus Baustellenlärm Musik machte, kehrt das ehemalige Mitglied von Locust Fudge und Hip Young Things für den zweiten Teil der SOUNDS-Serie zum vertrauten Saiteninstrument zurück: GUITAR SOUNDS arbeitet mit Echos, Reverbs, Delays, Loops und allerhand Pedal-Equipment, um die Improvisationen in fünf Stücke zu gießen. Sein Label nennt das „Musik ohne Sicherheitsnetz“ und behält recht. „Landslide“ beginnt mit einem Brodeln, ehe leichte Anschläge wie Eruptionen daherkommen, nur um in eine Noise-Distortion überzugehen, an dessen Ende weirde esoterische Klänge stehen. „Teilhard“ arbeitet in elf Minuten an einer derart massiven Soundwall, dass die Zuschreibung dissonantes Monster eine Untertreibung wäre. Während „First Of May“ mit unkoordinierten Pickings eine Neo-Romantik erzeugt, ist „Elefantenhaut“ ein semidroniges Kleinod, dessen Hall Katharsis verspricht. Die 18-minütige und verstörend klaustrophobische Meditation „Überzahl“ beendet dieses dualistische Album zwischen Spannung und Ruhe, Aufb au und Zerfall, Harmonie und Chaos. Das ist kosmische Musik für Fortgeschrittene. Und verdammt hörenswert.

****1/2 Sebastian Weiß

JACKSON SCOTT

MELBOURNE

Fat Possum/Rough Trade

Avantgardistisch, verhuscht, verkauzt: Lo-Fi-Pop aus dem Deerhunter-Umfeld.

„Somebody likes Deerhunter“, kommentierte der User mit dem Namen „extremelybusy123“ das auf YouTube hochgeladene Stück „Tomorrow“ von Jackson Scotts Debütalbum MELBOURNE. Damit hat „extremelybusy123“ in jedem Falle recht, denn Jackson Scott mag die Band Deerhunter wirklich sehr, tingelte mit dieser bereits als Tour-Support durch die amerikanischen Südstaaten, und ja: klingt auf seinem Debütalbum in der Tat verdächtig nach den Kollegen aus Atlanta, Georgia. Hört man MELBOURNE, kommt einem besonders diese liebenswerte Kauzigkeit, dieser verwaschene Lo-Fi-Charme und dieses anziehende Moment der Unmittelbarkeit bekannt vor. Und doch tut man Jackson Scott unrecht, wenn man ihn als „nettes Lo-Fi-Projekt im Fahrwasser von Deerhunter“ einsortiert, denn bereits das Album-Intro „Only Eternal“ schafft mittels ein paar verhallt herumzitternden Noten auf der Gitarre eine Unterwasser-Atmosphäre, die einen die Notwendigkeit von Halluzinogenen jedweder Art infrage stellen lässt. Dann dengelt uns, immer noch unter Wasser, im zuckersüßen „Evie“ ein windschiefes Arpeggio entgegen, umschlingen sich im wuchtigen „Never Ever“ Gitarre, Schlagzeug, Bass in schönster Valium-Harmonie, bevor Scott erst mal zurückspult, auftaucht, seine Stimme in Micky-Maus-Lage hochpitcht, und mit dem Song „Sandy“ ein neues Genre erfindet: die Kindergeburtstags-Psychedelia. Damit hätten wir zwar auch schon die drei wesentlichen Ingredienzien, aus denen MELBOURNE besteht -Wucht, Hall, Micky Maus -, abgesteckt, aber seien Sie versichert: Viel mehr braucht dieser melodieverliebte Trip von einem Album auch nicht.

***** Martin Pfnür

Story S. 26, CD im ME S. 19

SEBADOH

DEFEND YOURSELF

Domino/Goodtogo (VÖ: 13.9.)

Famose Rückkehr des Indie-Rock-Trios mit Lo-Fi-Herz.

Alle großen Indie-Rock-Bands aus den 90er-Jahren haben ihre Verdienste. Sebadoh zum Beispiel haben uns beigebracht, dass Wirkung nichts mit Können zu tun haben muss. Die frühen Platten des Trios standen klangtechnisch auf ziemlich wackeligen Beinen, doch die Gefühle, die sie transportieren, waren tonnenschwer. 1999 hörte die Band dann auf. Sebadoh kniffen vor den Nullerjahren. Alles zu digital. Das Comeback begann im Jahr 2012 mit einer EP für Fans, jetzt gibt es ein neues Album -und man ist zunächst einmal baff, wie sanft Sebadoh ihre Hörer an die Hand nehmen. Lou Barlow kehrt sein Innerstes nach außen, fordert eine alte Liebe auf, einen eigenen Weg zu finden, er werde das schließlich auch hinbekommen. „I Will“ ist ein Hit, wie man ihn früher an die erste Stelle einer selbst erstellten Compilation gepackt hätte. Sebadoh geben sich danach sperriger, aber mit vollem Sound. Auch Bassist Jason Loewenstein bekommt seine Momente, und die sind wie früher so nervös und kratzbürstig wie die Songs von Mission Of Burma. DEFEND YOURSELF pendelt sich auf einem guten Niveau ein, bevor gegen Ende zwei Lou-Barlow-Kompositionen dorthin zielen, wo im Gehirn die Melancholie entsteht. Die sanfte Aufforderung „Let It Out“ bleibt akustisch, ist aber mit allerlei Verzierungen versehen. Und „Listen“ geht im Anschluss sogar noch einen Schritt weiter: Es ist ein trauriges Geständnis, zunächst sinister wie aus den Wäldern von „Twin Peaks“, nach einer melodiösen Kurvenfahrt klingt das Stück schließlich so cool wie die großen Songs auf dem Sebadoh-Klassiker BAKESALE.

****1/2 André Boße

CD im ME Seite 19

SUPERCHUNK

I HATE MUSIC

Merge/Cargo

Das gesellschaftlich akzeptable Gesicht des Pop-Punk altert auch weiterhin würdig.

„Kennt ihr den Spruch ‚Sind wir zu laut, bist du zu alt‘? Der geht mir andauernd durch den Kopf, Verdammt “ So verkündete Superchunk-Bassistin Laura Ballance im Mai auf der Webseite ihrer Band, dass sie sich aus den diesjährigen Konzerten von Superchunk ausklinken würde. Der Grund: Hyperakusis, eine schmerzhafte Überempfindlichkeit gegenüber lautem Schall. I HATE MUSIC erscheint im Jahr des 25. Bestehens der Band aus North Carolina, aber außer Ballances Gehörerkrankung offenbaren Superchunk keinerlei Alterserscheinungen: Die Songs sind wie immer straff arrangiert, die Produktion ist wie gehabt frei von jeder Politur, und Mac McCaughan, mit einer der markantesten Stimmen der vergangenen 15 Jahre gesegnet, liefert auf den knackig rumpelnden, bierseligen Mitsing-Hymnen „Void“ und „Breaking Down“ beeindruckende Beweise seiner vokalen Reichweite. Der Superchunk-Sound hat sich seit 1989 kaum geändert – die ineinandergreifenden Gitarrenriffs, der kontrolliert treibende Beat von Jon Wurster (man stelle sich hyperaktive Guided By Voices vor) und die ironisch-distanzierten Texte („Everything is different, everything’s the same. I can’t find the words to capture, so I guess I can’t complain“) sind auch auf I HATE MUSIC wieder vertreten, ebenso wie ein paar eher zu vernachlässigende Midtempo-Nummern („Your Theme“, „Low F“). Die Zehnte von Superchunk ist eine unverkrampfte Sommerplatte geworden, wie sie zu erwarten war von einer Band, die praktisch auf Teilzeitbasis operiert (zwei Platten in zwölf Jahren). Superchunk -weder zu laut noch zu alt.

**** Mathias Scherer

SWIM DEEP

WHERE THE HEAVEN ARE WE

Chess Club/Sony Music

Nach Peace nun schon die zweite Indie-Rock-Band aus Birmingham im laufenden Jahr, der ein neuer Britpop-Aufbruch zugetraut wird.

Wo zum Himmel sind wir? Nicht wo zur Hölle, wie man gemeinhin zu sagen pflegt. Der Titel dieses Albums sagt bereits einiges über die Band aus, mit der man es hier zu tun bekommt. Swim Deep gehören zur B-Town-Szene in Birmingham, der man eine wichtige Rolle bei der Belebung des britischen Indie-Rock zutraut. Nach einer Band, um die sich ein Hype abzeichnet, hören sich diese Neulinge allerdings überhaupt nicht an. Sie fallen nicht mit der Tür ins Haus und man kann sich nicht vorstellen, dass sie beim nächsten Interview Pläne zur Eroberung der Pop-Welt verkünden werden. Swim Deep sind grundentspannt, verbreiten eitel Sonnenschein und machen Musik, die sich wie Chillwave mit Gitarren anhört. Sie setzen bei der verträumten Psychedelia eines Donovan an, fügen feingliedriges Gitarrenspiel aus der 80er-Generation hinzu und nehmen auch von den weniger gefeierten Madchester-Bands (The High!) etwas mit. Damit landen Swim Deep in einer schon ziemlich speziellen Ecke. Ein paar Songs lang geht es mit dieser untertourigen Art gut, aber es reicht nicht, wenn man sich ein ganzes Album lang darauf verlässt. Entweder bauen Swim Deep künftig den Flirt mit dem Jenseits aus, der sich in einem Song wie „Soul Trippin“ andeutet, oder sie gehen beherzter zur Sache. Sonst wird das auf Dauer nichts mit dieser Band.

*** Thomas Weiland

EMILIANA TORRINI

TOOKAH

Rough Trade/Beggars/Indigo

Vier Jahre nach „Jungle Drum“ beweist die Isländerin, dass es ihr doch eher um braven Folk-Pop geht

Wahrscheinlich hat Emiliana Torrini diese vier Jahre gebraucht, um „Jungle Drum“ zu verarbeiten. So lange ist es her, dass die ehemalige Kellnerin aus Island mit dem fröhlich hüpfenden Liedchen an die Chartsspitzen stürmte. Das durch den überraschenden Erfolg entstandene Image stimmte schon damals nicht, wird aber mit TOOKAH noch einmal widerlegt. Der Großteil der Songs pflegt ein gemütliches Tempo und eine eher gedämpfte Stimmung. Melancholische Balladen bestimmen das sechste Album der 36-Jährigen, die Elektronik klappert entspannt, während Gitarren sanft gestreichelt werden. Die Ausflüge in die Disco, die das Vorgängeralbum ME AND ARMINI arg unentschieden hatten klingen lassen, wurden bis auf Ausnahmen wie „Animal Games“ und „Speed Of Dark“ weitgehend eingestellt. Stattdessen fügt sich Torrini wieder ein ins aktuell erfolgreiche Schema der Folksängerin, die sich von ihrer Landsfrau Björk ein paar schräge Harmonien und exzentrische Melodien ausleiht, aber grundsätzlich leicht verdaulichen Poesiealbumpop herstellt. Der allerdings ist so nett und freundlich, dass man „Jungle Drum“ endlich vergessen kann.

**** Thomas Winkler

Story ME 9/13

TAMIKREST

CHATMA

Glitterbeat/Indigo (VÖ: 13.9.)

Die Wüstenblueser aus Mali öffnen auf ihrem aktuellen Album den Blick noch weiter gen Westen.

Das Schwarz-Weiß-Foto einer Tuareg-Frau ziert das Cover des dritten Albums von Tamikrest. Ihr Blick: leer, traurig, ohne Zuversicht, man kann höchstens erahnen, was hinter ihr liegt. Dabei nehmen die Frauen eine starke Rolle in der Gesellschaft des muslimischen Nomadenvolkes der musikliebenden Tuareg ein. Alles Dinge, die Fundamentalisten ablehnen, und so befinden sich viele Tuareg aus Mali nach Ausbruch des Bürgerkrieges auf der Flucht. Wie auch Tamikrest, die nun in der algerischen Oasenstadt Tamanrasset leben und CHATMA – was so viel wie „Schwestern“ bedeutet – voller Respekt den Frauen widmen. Alle Geschichten handeln von ihnen, von Leid, Verlust, Krankheit, Vertreibung, Armut. Aber Cover und Texte lassen nicht auf die Musik schließen. Die Songs der Band, die in der Vergangenheit manchmal schläfrig und gemächlich klangen, sind hier weitaus dynamischer und rockiger. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auf den Konzertreisen sogen die Mitglieder überall Einflüsse auf, und so wurde die Brücke von der eigenen Musikkultur in die westliche Popwelt langsam immer breiter. Auch das Selbstbewusstsein wuchs. Mit Chris Eckman, dem Kopf der Walkabouts, kommt noch ein Freund, Entdecker, Förderer und Produzent dazu, der die Entwicklung von Tamikrest vorantrieb. So ist CHAT-MA ein starkes Album, aufgenommen fernab der Heimat in Prag. Zehn Songs haben sie eingespielt. Fast alle waren weitgehend vorformuliert, aber Eckman fügte ihnen Ideen, Arrangements und Klangfülle hinzu. Das macht CHATMA zu einem oft wuchtigen Werk, galoppierende Lieder wie „Tisnant an Chatma“, „Imanin bas zihoun“ und „Itous“ führen Wüstenblues, Folklore und treibende Rhythmen zusammen. Der Schlusssatz der Rezension der letzten Platte TOUMA-STIN im ME vom Mai 2011 lautete: „da kommt noch was“. Es kommt auf CHAT-MA sogar noch mehr!

****1/2 Sven Niechziol

TRENTEMØLLER

LOST

In My Room/Rough Trade (VÖ: 20.9.)

Der Musiker aus Dänemark verstärkt seine Bemühungen zur Vereinigung von Techno und Song.

Den ersten Auftritt auf seinem neuen Album LOST überlässt Anders Trentemøller einer Kollegin. In „The Dream“ singt Mimi Parker so, wie sie es sonst bei Low tut. Erst mit dem ohne Gäste besetzten Track „Still On Fire“ lässt der Produzent aus Dänemark erkennen, dass seine Heimat die elektronische Musik ist. Wahrscheinlich will er in diesem Fall Depeche Mode grüßen, die ihn jüngst zu ihren Konzerten ins Vorprogramm eingeladen hatten. Ansonsten bewegt sich Trentemøller mit seinem dritten Album weiter von seinen elektronischen Wurzeln weg und mehr zum Indie-Rock hin. In „Trails“ darf es auch etwas Industrial sein. Man hat ja immer das Gefühl, dass Techno-Künstler erst mit puristischem Sound für die Clubs beginnen und sich im weiteren Verlauf ihrer Karriere an ihre eigentlichen Vorlieben erinnern und diese in ihre Musik einflechten. Auf LOST ist das definitiv so. In „Never Stop Running“ lässt der Skandinavier Jonny Pierce von The Drums eine an Dubstep erinnernde elektronische Fläche besingen, was ganz gut funktioniert, weil Pierce so gezwungen ist, seinen sonst sehr sensiblen Gesang zu verändern. In „Constantinople“ flicht Anders Trentemøller orientalische Atmosphäre ein, unter anderem mithilfe einer psychedelischen Orgel. Durch solche Versatzstücke flüchtet sich die Musik ganz oft in die verschiedensten Ecken und Winkel. LOST ist das in der Tat. Aber in einem guten Sinn.

**** Thomas Weiland

Story S. 24, CD im ME 9/13

VOLCANO CHOIR

REPAVE

Jagjaguwar/Cargo

Indie, Rock und Opulenz: Justin Vernons zweites Bandalbum mit Freunden, mit denen er noch mehr vorhat als mit Bon Iver.

Und plötzlich klingt der Kerl wie Prince. Justin Vernon, mit seinem Ein-Mann-Projekt Bon Iver Grammy-Gewinner, Gaststar bei Kanye West und weltberühmt geworden, hat mit dem Volcano Choir aus seinem Heimatstaat Wisconsin ein zweites Album aufgenommen – und mit dem ist er, wie schon früher dieses Jahr mit The Shouting Matches, ganz weit weg von Bon Iver und doch ganz nah bei sich selbst. Während Justin Vernon sich kürzlich mit The Shouting Matches im Laid-Back-Bluesrock locker machte, hat REPAVE viel von Bon Ivers Pathos, ist aber ein Bandalbum, für dessen Aufnahmen Justin Vernon auf die Musik seiner fünf Jugendfreunde mit seiner Ausnahmestimme „bloß“ reagierte. Gemeinsam bewegen sie sich auf dem Album zwischen von Pauken und Klaviaturen hochgeschaukelter Opulenz, choralen Hymnen („Acetate“,“Byegone“), Rockgitarren, dezenter Elektronik, Verzerrern, Seefahrerromantik und Textfetzen wie „the honey bin the bunny’s in“. Justin Vernon schraubt sein auf dem Gros der Platte dezent genug eingesetztes Falsett bisweilen in Disco-Gefilde, zeigt aber auch, dass er die tiefen Töne beherrscht – und damit einmal mehr die Gefühlswelt seiner Zuhörer. REPAVE klingt so bedrohlich und feierlich wie das Meeressturm-Artwork des Albums aussieht: als wäre die Sonne noch nicht aufgegangen, aber irgendwo muss sie bereits lauern. Ja, mit Volcano Choir könne er sich schon jetzt ein drittes Album vorstellen, sagte Vernon im Interview mit dem Musikexpress. Es wäre nicht das tragischste Ende von Bon Iver.

**** Fabian Soethof

CD im ME S. 19

2RAUMWOHNUNG

ACHTUNG FERTIG

Universal

Die nächste Dosis Prozac-Elektropop. Widerstand zwecklos.

Wer an Sonntagnachmittagen durch die Wohnstraßen von Berlin läuft, dem schallt alle 30,40 Fenster diese Musik entgegen: elektronisch und genügsam, klar umrissen, aber nicht zu hart – House und Housiges, Angehoustes. Marschmusik zum Liegenbleiben. Soundsysteme zu Pulsmaschinen. Bei 2raumwohnung stellt sich dann noch Schwester Inga neben die Maschine und haucht dem Chillenden etwas zu – davon, dass das Leben leicht ist. Und dauersexy. Damit sie selbst nicht doch noch irgendetwas Schweres belastet, haben Inga Humpe und Tommi Eckart ihr siebtes Album in Kalifornien aufgenommen. Und Produzenten, Komponisten und Autoren wie Dan The Automator (Gorillaz, Kasabian), David Jost (Tokio Hotel, Patrick Nuo), Arezu Weitholz (Die Toten Hosen, Herbert Grönemeyer), Peter Plate (Rosenstolz) und Techno-Pionier Moritz von Oswald hielten ihnen dabei den Rücken frei. Es muss wohl Stil sein, der dafür sorgt, dass ACHTUNG FERTIG trotz dieses Personalaufwands nach 2raumwohnung klingt wie nur was. Nur jetzt eben wieder ein Stück elektronischer, mit einem Stilmix quer durch die vergangenen 25 Jahre, dessen genauere Beschreibung keiner braucht. Wird ja eh alles weggechillt und in Hugo ertränkt. Auch dass vom ganzen Album nur der schwer „French Kiss“-verdächtige Tempo-Meltdown in dem schwülen Track „Ich dich auch“ zumindest einen halben Eiswürfel lang in Erinnerung bleibt: gehört so.

**1/2 Oliver Götz