Alt-J
This Is All Yours
Infectious/[PIAS] Coop/Rough Trade
Expedition in die schöne neue Welt der polyphonen Folk-Sinfonie. Ein würdiger Nachfolger.
Am Anfang sind wieder die Stimmen. Frisch importiert aus der La-La-Loop-Station, bald begleitet von einem helleren Da-Da-Da, es werden mehr Stimmen, die Melodie kippt ins Dunkel. Tiefer im Raum fährt ein Synthesizer auf. Diese Musik brennt schon nach einer Minute, aber sie brennt so sanft, dass man sich in ihre Arme fallen lassen möchte – nur um diesen nach zwei Minuten langsam wieder zu entgleiten: Aus dem polyphonen Gesangsspiel schält sich Progrock, mächtig, jedoch unscharf, in die Höhe treibend, schließlich auf die Erde setzend und den Parcours dieses Albums skizzierend. Zwischen den Bösartigkeiten des Himmels und den Verlockungen der Hölle. Entlang der Gesangs-Schlangenlinien hören wir Pianoetüden von stiller Schönheit und kleine Akustikgitarren-Schwurbeleien, die auf HipHop-Beats eiern.
Was hätten wir auch von Alt-J erwarten dürfen? Eine Fortentwicklung jener komplexen Konsensmusik von AN AWESOME WAVE (2012)? Eine „gesundgeschrumpfte“ Songwriter-Platte nach dem Abgang von Gründungsmitglied und Bassist Gwil Sainsbury? Elektronische Neuerkundungen vielleicht? THIS IS ALL YOURS ist nichts von alldem und hat dennoch Spurenelemente des mit dem Mercury Prize ausgezeichneten Erstlings aufgenommen und zusammenkehrt, nur dass sie diesmal in den Fluss der Ereignisse geworfen werden.
Die geschärften Gesangssätze, das Stop-and-go-Spiel auf dem Debüt – hier Fehlanzeige. Stattdessen reichen Joe Newman, Thom Green und Gus Unger-Hamilton eine von wirren Orgeleien durchzogene Bluesrock-Referenz („Left Hand Free“), ein neoklassisches Flöten-Interludium und die Vorabsingle, „Hunger Of The Pine“, ein Chor-Märchen zur Zeit mit Miley-Cyrus-Sample und Saxofon. Es gibt pathetische Pop-Momente, die dann in kleinen Outros wieder gebrochen werden, mit einem frei stehenden Xylofon-Thema, das „The Gospel Of John Hurt“ nachträglich zur Kammermusik erklärt. Oder die gepfiffene Melodie in „Warm Foothills“, in die Joe Newman mit seiner zartesten Sonntagsstimme fährt. Oder die Streicher- und Bläserwinde zum Finale: Ein Platz für Kontemplation ist im Königreich Delta immer vorhanden.
Wahrscheinlich kommen uns einige dieser neuen Songs so vertraut vor, weil sie nur knapp neben Vorläufern wie „Tessellate“, „Breezeblocks“ oder „Fitzpleasure“ gebaut wurden. Weil Newmans Falsett wie kein anderes in der Musik umherschwirrt, Höhen, Tiefen, Texturen auslotend. Weil die Band sich mit der Eleganz von Bildhauern durch den Steinbruch des Art-Pop bewegt.
Alt-J legen mit sicherer Hand die Fährten in die großen Songs, in denen wir in den kommenden Monaten schwelgen dürfen. Wenn man mit AN AWESOME WAVE „ein Problem“ hatte, dann, dass diese Platte für ein Debüt schon zu komplett ausgefallen war. THIS IS ALL YOURS ist ein würdiger Nachfolger, und „das Problem“ ist nicht kleiner geworden.