Einstürzende Neubauten
Lament
BMG Rights/Rough Trade
Die Zeiten werden politisch gesehen wieder unruhiger. Grund genug für die Berliner Industrial-Band, ein Warnsignal zu setzen. Sie erinnert an das, was vor genau hundert Jahren geschah.
Diese schlagkräftigen Herren halten wirklich selten konsequent an ihrer Linie fest. Sie sind immer da, wenn es zu Veränderungen oder Zerstörung kommt. Man denke nur an die Auftritte im VEB Elektrokohle Lichtenberg direkt nach Maueröffnung oder in den Überresten des Palasts der Republik kurz vor dessen Abriss im Jahr 2004. Das waren große Darbietungen, die man nie vergessen wird.
In diesem Jahr 2014, in dem es im Osten Europas zu martialischen Muskelspielen gekommen ist, erinnert die Band nun an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor genau einem Jahrhundert. Die Neubauten stürzen sich voll auf das Thema, nähern sich ihm von unerwarteten Blickwinkeln aus und gehen dabei keineswegs nur mit verbissenem Ernst vor. Sie beschäftigen sich gleich zu Beginn mit der „Kriegsmaschinerie“ und bringen ständig neue Geräusche aus der Industrieproduktion ins Spiel, bis ein sonischer Wall entsteht, der zu einem atonalen Höhepunkt führt. Nach dieser Ouvertüre führen die Bandmitglieder in einem veritablen Husarenstück verschiedene Nationalhymnen zusammen.
In den erstaunlichen 15 Minuten von „Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)“ rekapitulieren sie Entwicklungsabschnitte während des Ersten Weltkriegs. Blixa Bargeld benennt die nacheinander eintretenden Länder und seine Begleiter schlagen unaufhörlich auf Kunststoffrohre. Einige Stücke später kommen sie noch einmal auf denselben Inhalt zurück und erzählen vom Beginn der Auseinandersetzungen unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators. Bei der Erzählung über das Hinzustoßen der Kavallerie wird nervöses Federvieh ins Spiel gebracht, dazu bearbeiten die Musiker metallische Gegenstände, was sie früher bekanntlich sehr oft getan haben.
Heute ist so etwas Beiwerk. Heute sind die Neubauten variabler. Sie zitieren aus der telegrafischen Korrespondenz zwischen Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II., greifen dabei zum Mittel der Stimmverfremdung (Auto-Tune-Einsatz!) und vertrauen auf ein elektronisches Fundament und den harschen Klang von Peitschenschlägen. Das hat man in dieser Kombination nicht erwartet, aber es passt alles perfekt zusammen und geht unter die Haut. Auch „On Patrol In No Man’s Land“ fällt aus dem Rahmen. Das Stück stammt im Original von der 367. Infanterie-Band der amerikanischen Armee, die zum größten Teil aus Schwarzen bestand. Sie waren alle richtig gute Kämpfer, beherrschten aber auch den Umgang mit dem damals in Europa unbekannten Jazz.
Es gibt einiges zu entdecken auf diesem Werk, das nicht einfach nur ein Album mit Musik ist, sondern auch einen erzählerischen Faden enthält, der das Interesse von Anfang bis Ende auf sich zieht. Die Berliner Band thront erneut auf hohem Niveau und bleibt eine Institution.