So war das Haldern Pop 2022: Man darf diesen Menschen nicht trauen!
Tiefenentspannung plus Konzerte, die einem das Hirn verdrehen und einen manchmal verstört und aufgekratzt in den Schlafsack kriechen lassen – diese perfide Mischung hat das Haldern Pop auch in diesem Jahr bei tropischen Temperaturen angereicht. Daniel Koch war für uns vor Ort.
Man darf diesen netten „Haldern Pop“-Menschen nicht trauen! Diesen freundlichen Helfer*innen, die sich aus dem kompletten Dorf Rees-Haldern rekrutieren. Diesen herumtollenden „Pop-Blagen“, die vom Festival selbst so genannt werden. Diesen kreativen Dorfbewohner*innen, die mit einer Mischung aus Freude und Geschäftssinn das Publikum mit Eis, Brötchen, Aperol oder einer Dusche am Straßenrand verwöhnen. Diesen Festivalmacher*innen, die im mittlerweile 39. Jahr dafür sorgen, dass sich Menschen mit großen Plattensammlungen und/oder Musikneugier für ein verlängertes Wochenende für diese grüne Region am Niederrhein interessieren. Man darf all diesen Menschen, verdammt noch mal, nicht trauen! Denn: Genauso kriegen sie dich! Locken dich in die Falle, umgarnen dich – bis du dich sicher, entspannt und geborgen fühlst. Und dann kracht sie auf dich ein: diese eine Band, die dir wie eine Keule vor die Stirn knallt. Diese eine Band, die dein Weltbild zertrümmert. Diese eine Band, die dich – den „Drei-Akkorde-Freund“, den „Gitarre und Stimme reicht mir völlig“-Menschen – plötzlich mit reinstem, anstrengendem, treibendem Jazz in Bewegung bringt, obwohl dein Körper gar nicht weiß, wie um Himmels willen er sich zu dieser Musik bewegen soll. Und dann folgt der „Walk of Shame“ zu deinem Wohnwagen und zu deinen dem Britpop-Hype nachtrauernden Freund*innen, die mit großen Augen fragen: „Du hörst jetzt auch Jazz? Spinnst du?“
Haldern Pop 2022: Bloß kein simples Crowdpleasing…
Man verzeihe den etwas blumigen Einstieg. Aber das diesjährige Haldern hat eines mit fast stoischer Entschlossenheit deutlich gemacht: Simples Crowdpleasing ist seine Sache nicht. Und das, obwohl das Haldern eine der gechilltesten Festival Experiences ist, die man jeden Sommer haben kann. Zumindest, was das Drumherum angeht. Das Publikum ist tiefenentspannt, nett und in den richtigen Momenten begeisterungsfähig. Das Artwork, die Organisation, die Location, die in den Ort hineinreichenden Programm-Punkte – alles dermaßen smooth, dass man davor nur den Hut ziehen kann. Wenn da eben nicht das Line-up wäre, das in diesem Jahr – mehr denn je – auf im besten Sinne herausfordernde Musik setzte. Alex Rice, Sänger der formidablen Londoner Post-Punk-Band Sports Team brachte das gleich am Donnerstag auf der Bühne des Spiegelzelts gut auf den Punkt: „Wir haben hier im Backstage und im Line-up einige sehr krasse Bands aus der UK-Avantgarde-Szene gesehen. Pretty far-off stuff! It’s a great festival! Pretty niche, isn’t it?“ Als Antwort gab es: lauten Jubel, einen munteren Moshpit. Crowdsurfing. Das darf man wohl als Zustimmung in allen Belangen werten.
Eine ähnlich für sich sprechende Szene konnte man später am Abend bei den Sons Of Kemet sehen, die gerade auf einer Art Abschiedstournee sind, weil die Band um Shabaka Hutchings zu umtriebig ist, um erst einmal in diesem Konstrukt weiterzubestehen (Drummer Tom Skinner zum Beispiel will sich erst einmal auf die Arbeit mit The Smile konzentrieren). Da standen vor der Bühne fünf besonders gutgelaunte Exemplare der örtlichen Dorfjugend, allesamt in bunten Hemden, mit einer herum kreisenden, süßlich riechenden Sportzigarette und konnten einfach nicht fassen, was sie das sahen. Zwei Drummer, Tenorsaxophon und Tuba und diese vier Jazzmusiker rockten mehr, als jede Rockband, die sie vorher gesehen hatten?! Einmal nahm einer der Jungs seinen Buddy breit grinsend in den Arm und rief laut: „Alter, der Drummer ist so tight!“ Das hätte sich Claas Relotius für einen Haldern-Nachbericht nicht besser ausdenken können.
… Es sei denn, man darf die Beatsteaks begrüßen
Trotzdem zeigte sich am Donnerstag auch noch etwas anderes: Hin und wieder eine Band mit Rampensau-Qualitäten und direktem Draht zum Publikum ist dann doch auch ganz geil. Hätte man im Vorfeld jedenfalls nicht gedacht, dass die Beatsteaks die anspruchsvolle Crowd am Ende dermaßen im Sack haben, dass selbst die Leute, die für Sons of Kemet und Badbadnotgood angereist waren, mal für anderthalb Stunden die Arme in die Luft reißen, grölen, feiern, pogen und am Ende schweißüberströmt zum nächsten Gig ziehen. Der Freitag mit den allesamt großartigen Hauptbühnen-Acts Curtis Harding, Anna Calvi und Shortparis hätte so etwas noch mal gebrauchen können. Andererseits waren auch diese Gigs dermaßen tight, dramaturgisch überlegen und musikalisch umhauend, dass man schlecht meckern kann. Vor allem Calvi, die ihre Bühnenshow komplett auf Gitarrengöttin gepolt hat, ist einfach zum Niederknieen gut – da hätte freundliches Geplänkel mit dem Publikum irgendwie nicht gepasst.
Es fällt wie immer schwer, die vergangenen Tage in einem Text wie diesem zusammenzuzurren. Zu viele Entdeckungen, zu viele „WTF-Momente“, zu oft dieses Angekommensein, das man auf guten Festivals spürt. Und natürlich: zu viele Gigs, die man dann doch verpasst hat, weil man sich nicht vierteilen kann, die Campingplatz-Gesellschaft gerade nett ist, oder die heißen Temperaturen und die Weinschorlen und das Am-Sonntag-früh-zum-Zug-müssen einen dazu bringen, die Band, die man eigentlich unbedingt sehen wollte – Wet Leg – ausfallen zu lassen. Weil sie – welch ein Sadismus – als letzte Band am Samstag um 1 Uhr 30 im Spiegelzelt spielt. Deshalb hier vielleicht ein paar Szenen, die besser beschreiben, wie sich das Haldern anfühlen kann.
Drei von vielen schönen Szenen aus Haldern
Freitagmittag, Haldern Pop Bar in Rees. Man sitzt auf einer Lesung. Eric Pfeil – Musiker, Autor und Kolumnist der Kolleg*innen vom Rolling Stone – liest aus seinem tollen Buch „Azzurro: Mit 100 Songs durch Italien“. Wobei lesen zu kurz greift: Eric wickelt sie alle ein, haut Bonmots und Fun Facts über italienische Popmusik raus, spielt Klassiker und Obskures an. Danach zur Eisdiele zwei Türen weiter: drei Kugeln im Becher. Stracciatella, Erdbeere und, klaro, Azzurro. Wieder zurück zur Haldern Pop Bar, einen Aperol Spritz ordern und dann angeschickert schwofen zu den angeschickerten Italienern von Extraliscio. Die Sonne ballert, unter der Schädeldecke knistert der kalte Aperol. Eine halbe Stunde später sitzt man in der Kirche, lauscht dem Streicher-Gitarre-Bass-Ensemble von Stargaze für ein halbe Stunde, bevor der Chor Cantus Domus und 1000 Robota dazukommen und für eine weitere halbe Stunde eine kleine Kraftwerk-Messe feiert. Am Ende singt die ganze Kirche, der Chor, die Band andächtig: „Fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn.“ Wieder zwei Stunden später steht man im Spiegelzelt, bei 45 Grad ohne Saunatuch und zuppelt zu den Art-Punk-Enthusiastinnen von Gustaf aus Brooklyn. Wie das alles zusammenpasst? Irgendwie gar nicht, aber irgendwie doch.
Samstag, früher Nachmittag. Die Hauptbühne wird bald eröffnet. Den Morgen am See verbracht beziehungsweise auf der Wiese daneben im Schatten. Beste Idee, bei 32 Grad. Tolle Menschen, halbwegs kalte Weinschorle, der Bauernhof nebenan verkauft Grillgut und Kaltgetränke. Völlig entspannt schlendert man am Gelände vorbei. Dann plötzlich wieder ein berüchtigter Haldern-Moment: Auf der Haupt-Bühne, in der prallen Sonne, läuft nicht etwa entspannter, poetischer Folk, der zur Stimmung passen würde, sondern der Krach der Horse Lords aus Baltimore. Instrumentaler, brachialer, genialer, die Stirn aufsägender Avantgarde-Rock – den man dann genau deshalb nicht von Näherem anschaut, weil man gerade merkt, dass das Festival schon weiter ist, als man selbst. Zur Versöhnung steht man dann aber eine Stunde später mit einer Weinschorle vor Anaïs Mitchell. Wundervolle Stimme, poetische Lyrics, charismatischer Folk, der einem direkt ins Herz kriecht. Kurz erinnert man sich an die Jahre des Haldern, als einige im Publikum meckerten, das Line-up sei „zu ruhig und zu folkig“. Man wurde augenscheinlich erhört.
Freitagnacht: Heute will man durchhalten! Die Beine sind schon wackelig, es ist fürchterlich spät. Schafft man es bis Black Midi, die das Zelt um 2.45 abschließen werden? Dann trifft man tolle Konzertbuddys, die man lange nicht mehr gesehen hat, verplaudert sich in der Weinbar vor dem Zelt, schafft es dank der guten Gespräche noch zu Black Midi, fühlt sich selig – und tappt wieder in die Falle: Denn Black Midi sind die lauteste, wildeste, beste, coolste, anstrengendste, diabolischste Band des Wochenendes. Der Unterkiefer klappt auf die Brust, die Ohren fiepen, das Hirn läuft heiß bei der Frage, wie diese Jungspunde schon so gut werden und krank klingen können. Verstört kriecht man in den Schlafsack und träumt vom „Höllenfeuer“, das sie auf ihrem aktuellen Album „Hellfire“ besingen und bezwingen.
So dürfte sich diese Wochenende für viele Besucher*innen angefühlt haben, auch wenn man dann doch ein paar Stimmen hörte, die sagten, es fehlten die großen, versöhnlichen Haldern-Momente vor der Hauptbühne, es sei zuviel Jazz oder zuviel Post-Punk oder zu viel Poesie und schwere Worte beim Headlining-Gig von Kae Tempest. Auch das mag man verstehen, aber Haldern Pop gibt es sicher auch so lange, weil man dort schon immer einen eigenen Kopf hatte in Sachen Line-up und eben immer wieder klar macht, was hier anfangs behauptet wurde: Man darf diesen Menschen nicht trauen! Sie werden nie 1:1 das Festival basteln, das man sich im Rausch der Vorfreude ausgemalt hat. Und genau deshalb nachhaltiger begeistern.