Reeperbahn Festival 2023 Opening: „Wir müssen unsere Stimme nutzen!“
Das größte Clubfestival Europas bringt gleich zu Beginn Statements mit Ausrufezeichen.
„Diversität ist zentral in unserer Gesellschaft“ und „Wir müssen respektvoll miteinander umgehen“, feuert Claudia Roth in das satt gefüllte Hamburger Operettenhaus hinein und erntet damit den ersten großen Applaus des Abends. Die Kultur- und Medien-Beauftragte der Bundesregierung setzt damit auch die essenziellen Sujets des Abends fest. Beim Reeperbahn Festival 2023 soll es ums Miteinander in Zeiten von Klimakrise, alltäglich stattfindenden Rassismus und den Aufschwung von Künstlicher Intelligenz gehen – aber auch Nachhaltigkeits- und Diversity-Diskussionen angeregt werden. Alexander Schulz, Gründer der 2006 ins Leben gerufenen Veranstaltung, stellt die XL-Themen zudem in Erweiterung mit Fragen vor. Und so wird das Opening an diesem 20. September nicht nur durch die musikalischen Beiträge (Arlo Parks! Gerd! INIKO!) zum Leuchtturmevent, sondern auch durch das Positionieren zum gesellschaftskritisch Besprochenen.
Kein Status Quo mehr, wir müssen jetzt etwas tun
Die 16-jährige Mari Copeny aus Michigan wird von Moderatorin Hadnet Tesfai per Videoscreen hinzugeschaltet, um über ihren Aktivismus zu sprechen, der sie in der Vergangenheit schon zum Händeschütteln mit Barack Obama brachte. Voller Elan berichtet sie von Zero-Waste-Projekten und einem eigens initiierten Wasserfilter. Die Internet-Verbindung zu Copeny ist wackelig, aber die Message ist klar. Die junge Generation zeigt bei diesem Festivalstart immer wieder, wie man mit Drive und Netz-Support neue Wege mit Zukunft beschreiten kann. Und genau das ist will das Reeperbahn 2023 in den Mittelpunkt stellen – denn der Status Quo reicht nicht mehr aus, auch in unserer Branche muss etwas getan werden, heißt es von Veranstalter Schulz. So müssen wir uns außerdem fragen, wie die Musikbranche in diesem Wandel der Zeit noch ein wichtiger und attraktiver Arbeitsplatz und Konzerte ein Safe Space sein können.
Newcomer:innen als Hauptprogramm
Die Antworten müssen gar nicht ausformuliert werden. Sie finden sich auf der Stage des Operettenhauses am Spielbudenplatz wieder. Der jungen schwedischen Singer-Songwriterin GERD richtet man ausgiebig Platz ein, um ihre manchmal sogar an Adele erinnernde Stimmgewalt im dunkelroten Licht zu entblättern. Die Newcomerin INIKO lässt sich gar bei ihrem ersten Deutschlandauftritt auf einem Thron residierend präsentieren.
Weiterhin möchte die „Anchor Award“-Jury, die die beste neuen Live-Act beim Festival kürt, den Nominierten ihre Empfehlungen für eine langjährige Karriere mitgeben. Banks wirbt eindringlich für den Spaß am Lernen von neuen Dingen – sie selbst habe ihre Fingerfertigkeit am Klavier an einem Piano-Spielzeug erworben. Katie Melua betont die Macht von Musik und ihren Wunsch für mehr positiven Blickwinkeln in unseren doch sehr düsteren Zeiten. Tayla Parx feiert den Mut zu Innovationen und Tony Visconti, der bereits mehrmals in der Award-Jury saß, möchte vor allem weiterhin so über Neues staunen können.
Danach werden die Anwärter:innen für den Anchor in kurzen Clips dem Saal gezeigt: Berq, Daisy The Great, Hannes, Ichiko Aoba, Paris Paloma und Waterbaby. Sie alle werden im Rahmen des Festival jeweils am Donnerstag und Freitag einen Auftritt hinlegen, bei dem die Jurymitglieder ihre Gig-Fähigkeiten bewerten und am Samstag, zum Reeperbahn-Festivalende, einen siegenden Act auszeichnen werden.
Wie smooth so eine Live-Performance laufen kann, machen dann auch direkt die Vorjahresgewinner Cassia vor. Die Indieband geht lässig und ohne viel Extras durch ihren von The Smiths angehauchten Song und geben dabei derart zeitlose Vibes, dass man sich kaum vorstellen kann, dass es sie eigentlich erst seit 2016 als Gruppe gibt.
Das Konfetti bleibt
Wie Hadnet Tesfai im Laufe des Openings verrät, ist nichts an diesem Abend vorab geprobt worden. Und so kann es schon mal vorkommen, dass nach ordentlich Konfettikanonen-Einsatz bei einem DJ-Set die langen Papierfäden nicht mehr von der Lichtinstallation von der Decke zu kriegen sind.
Auch so manche Frage bei der Game-Runde mit der „Anchor Award“-Jury macht überrascht-große Augen bei den Befragten. Wie zum Beispiel Tesfais Nachhaken: „Live-Spielen ist besser als Sex, oder?“ Woraufhin gerade Melua nach etwas Nachdenken zustimmt und lachend erklärt, dass sie in der Summe der Sache wohl den Konzerten den Vortritt geben würde.
Zu guter Letzt überzieht auch eine Enissa Amani ihren eigentlich auf zehn Minuten eingeplanten Auftritt und will lieber mehr übers Publikum in Erfahrung bringen. Aber es sind eben auch all diese Momente zusammen, die die Gala des Festivals so charmant und keinesfalls langatmig gestalten.
Arlo Parks ist noch lange nicht fertig
Da passt es schon sehr gut, dass gerade Arlo Parks als Abschluss für die Veranstaltung auf die Bühne geholt wird und auch sehr schnell den Song „Devotion“ mit ihrem watteweichen Gesang anstimmt und die Menschen, die zuvor gut platziert in ihren dunkelroten Samtsesseln saßen, nun in die Höhe springen lässt. Einige sieht man sogar die Lippen synchron zu den Lyrics bewegen. Ihre Stücke greifen aber auch bald nach immer mehr als nur dem kleinen Raum direkt vor ihr. Es ist einfach überdeutlich, dass Arlo Parks viel zu sagen hat und diese musikalische Entwicklung noch dringend weiter beobachtet werden muss.
Am Ende der Show hallen weiter Hadnet Tesfais Worte nach: „Wir haben alle eine Stimme, lasst sie uns richtig nutzen!“ Das Reeperbahn Festival Opening hat aufgezeigt, wie genau diese Benutzung der eigenen Stimme aussehen kann – in all ihren Facetten.