Various Artists
MOVING AWAY FROM THE PULSEBEAT – POST-PUNK BRITAIN 1977-1981
Cherry Red/Rough Trade (VÖ: 29.3.)
Eine 5-CD-Box beschäftigt sich mit der Keimzelle aller zeitgenössischen Indie-Bands, dem britischen Post-Punk der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre.
Wer es ganz genau nehmen will, muss konstatieren, dass die Mittsiebziger-Punk-Revolution in Großbritannien nur ein bisschen länger als ein Jahr gedauert hat. Das lässt sich gut an zwei entscheidenden Daten festmachen. Am 22. Oktober 1976 erschien mit „New Rose“ von The Damned die erste Single einer britischen Punk-Band der neueren Zeitrechnung. Und am 18. Januar 1978 gab Johnny Rotten seinen Ausstieg bei den Sex Pistols bekannt. 15 Monate liegen zwischen diesen beiden Ereignissen, die den Anfangs- und Endpunkt einer der stürmischsten Zeiten der Rockgeschichte markieren. Was allerdings in diesen Monaten passiert ist, war die letzte große Revolution im Rock, ein musikalischer und gesellschaftlicher Bildersturm, der Hörge wohnheiten verändert hat und das bis heute tut, der eine Demarkationslinie im Rock und seiner Hörer:innenschaft gezogen hat zwischen alt und langweilig und jung und frisch.
Aber schon 1977, in dem Jahr, das gemeinhin mit der Punk-Revolution assoziiert wird, hat es Bands gegeben, die zwar vom Geist des Punks beseelt waren und die sich auch vom Klischee-Rock der Siebzigerjahre abheben wollten, sich allerdings von der autoritären Haltung des Punk und seiner zweieinhalb-Akkord-Mentalität künstlerisch eingeschränkt fühlten. Von diesen Post-Punk-Bands erzählt das 5-CD-Set MOVING AWAY FROM THE PULSEBEAT.
Ein Erinnerungstrigger für Zeitzeugen und als Appetitanreger für Ahnungslose
Kompiliert wurde es von jenem Team um John Reed, das auch für das Box-Set TO THE OUTSIDE OF EVERYTHING (A STORY OF UK POST PUNK 1977-1981) und die Boxen-Serie C86 zuständig war. Auf der aktuellen Box mit dem Untertitel POST-PUNK BRITAIN 1977-1981 sind 105 Tracks aus ebendiesen Jahren in chronologischer Reihenfolge versammelt. Die Chronologie ist dabei nicht unwichtig, weil dadurch die Entwicklung dieses amorphen Genres, das sich allen möglichen Einflüssen gegenüber geöffnet hat, aufgezeigt wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob von einer bestimmten Band der „beste“ Song auf die Compilation gefunden hat, weil das ja letztlich immer eine Geschmacksfrage ist.
Was zählt bei MOVING AWAY FROM THE PULSEBEAT, ist seine Funktion als Erinnerungstrigger für Zeitzeugen und als Appetitanreger für Ahnungslose. Positiv, dass auch nicht zwangsläufig der größte Hit einer Band ausgewählt wurde, häufig stammen die Tracks von Singles und EPs. So ist „Click Talk“ von Young Marble Giants ursprünglich auf der „Testcard“-EP erschienen, „Voices“ von Siouxsie & The Banshees stammt von einer Single-B-Seite, „Armalite Rifle“ von Gang Of Four von der „Damaged Goods“-EP und bei „C30 C60 C90 Anda“ von Bow Wow Wow handelt es sich um die spanischsprachige Version ihrer Hitsingle „C30 C60 C90 Go“.
Die Auswahl der Bands ist erstklassig. Es gibt große Namen des Genres wie Buzzcocks, Ultravox, Siouxsie & The Banshees, Gang Of Four, XTC, The Cure, Magazine, Tubeway Army, Joy Division, The Pop Group, The Slits, The Human League, Killing Joke, PiL und The Clash sowie eher unbekanntere Acts: Swell Maps, The Outsiders, Lene Lovich, The Crazies oder David Cunninghams Avantgarde-Pop-Projekt The Flying Lizards. So ergibt sich ein stimmiges Bild dar über, auf welch unterschiedliche Weise sich diese Bands und Musiker:innen von der Punk-Simplizität emanzipiert haben.
Electro, Dub, Disco, Gothic, Avantgarde – der Post-Punk kannte keine Grenzen
Mit Einflüssen aus elektronischer Musik, Dub, Disco, Gothic, Psychedelic, Jazz, Avant garde und HipHop. Der Post-Punk kannte keine Grenzen. In diesem Kontext fühlt sich Robert Wyatts Anti-Faschismus-Hymne „Born Again Cretin“ von 1981 wie ein Fremdkörper an, aber wie ein angenehmer Fremdkörper. Genauso wichtig wie die Musik ist das 36-seitige Booklet, das der Box beiliegt. Darin gibt es einen ausführlichen, einordnenden Essay des Musik journalisten Mark Paytress, der unter anderem für das britische „Mojo“-Magazin als Autor tätig ist, Kurzbiografien zu allen beteiligten Bands und Künstler:innen sowie Abbildungen der Covers der LPs oder Singles, von denen der jeweilige Song stammt.
Weil in der retromanischen Popkultur der Gegen wart einmal in Mode gekommene Stilrichtungen nicht mehr verschwinden, gibt es heute immer noch Punk-Bands. Die haben freilich mehrheitlich wenig mit den gesellschaftskritischen Intentionen der Ur-Punks zu tun. Auch der Post-Punk lebt weiter, nicht nur in den Bands des Nullerjahre-Revivals wie The Strokes, The Libertines oder Arctic Monkeys, sondern in allen Bands, die sich als unabhängig definieren und keine Lust haben, im Hauptstrom mit zu schwimmen.
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