Aidas Popkolumne: F*ck the Industry
Hear ME Out: Sean „Diddy“ Combs sitzt im Knast und jetzt wollen es wieder alle schon immer gewusst haben.
Was soll man noch über Sean „Diddy“ Combs aka Puff Daddy aka P. Diddy aka diese miese Type schreiben, was in den vergangenen Tagen nicht schon geschrieben worden ist? Die Anschuldigungen gegen ihn haben monströse Züge angenommen – das im Juni geleakte Video von 2016, in dem er seine ehemalige Lebensgefährtin, die Sängerin Cassie, in einem New Yorker Hotel verprügelt, war nur die Spitze des Eisbergs. Menschenhandel, organisierte Kriminalität, Korruption, sexualisierte Gewalt, Ausbeutung, die Liste geht weiter und weiter. Mittlerweile sitzt Combs in Untersuchungshaft in einem Brooklyner Gefängnis und bislang wurden seine Anträge auf Kaution freigelassen zu werden, abgelehnt. Gut so – hat er in der Vergangenheit sein Vermögen und seine Macht angeblich dafür eingesetzt, Menschen zu bedrohen, zu schmieren, oder eben beides. Versucht wird es natürlich trotzdem: Eine seiner Anwältinnen dreht Tiktok-Videos, in denen sie Zivilklagen gegen ihn erklärt. Aus einer für ihn eher sehr positiven Perspektive natürlich. Was bei Johnny Depp schon scheinbar funktioniert hat, ist für Diddy eben auch gerade gut genug.
Die eigentliche Frage ist aber die: Warum konnte all das über zwanzig Jahre im Dunkeln bleiben? Und warum wussten es jetzt plötzlich alle schon immer? Dass Betroffene wie Cassie, Dawn Richards oder die anderen bislang anonymen Opfer es jahre- und jahrzehntelang nicht wagten, mit ihren Vorwürfen an die Öffentlichkeit zu treten, oder sogar noch Kontakt zu Combs hielten, ist das eine. Es gibt keine „perfekten“ Opfer und jede und jeder hat seine eigenen Gründe, wie sie oder er mit traumatischen Erfahrungen umgeht … Aber was ist mit all den anderen, den nicht von ihm viktimisierten Menschen im Umfeld von Combs, die die Maschinerie womöglich am Laufen hielten? Die als Gäste gerne auf seinen angeblichen Partys tanzten?
Macht und Einfluss sind one hell of a drug, da schaut man gerne auch mal weg. Schließlich war Combs über viele Jahre eben einer der einflussreichsten Menschen der Musikindustrie. Er hat Notorious B. I. G., Usher, Mary J. Blige, und so viele mehr entdeckt, gefördert und damit nicht nur sich, sondern dem gesamten Apparat über Jahrzehnte Hits und Kapital beschert. Was sind da schon ein paar Frauen (und möglicherweise, so brodelt es in der Gerüchteküche, auch Männer), die unschöne Erfahrungen machen? Was ist da eine Lebensgefährtin, die vor den Augen von Geschäftspartnern, wie Dawn Richards in ihrem Zivilprozess behauptet, von Diddy zusammengeschlagen wird?
In der „New York Times“ vergleicht die Journalistin Elizabeth Spiers den Fall Combs mit dem von Gisèle Pelicot, der Französin, dessen Ehemann sie über Jahre regelmässig betäubte und von Dutzenden, vielleicht Hunderten Männern vergewaltigen ließ. Klar, der eine ein Industriemogul, der andere ein Niemand aus dem französischen Hinterland, was sollen diese Fälle gemein haben? Ihren Kern: Frauen – oder genauer gesagt: ihre Partnerinnen – sind für diese Typen keine gleichwertigen Menschen. Sie behaupten, sie würden Frauen, ihre Partnerinnen, lieben, aber in Wirklichkeit sehen sie sie nur als Besitz, der nur zur eigenen Lustbefriedigung da ist.
Und es gäbe ja da noch diesen anderen Fall, hier in Deutschland: Während die justiziablen Vorwürfe gegen Till Lindemann bislang zumindest nicht nachgewiesen werden konnten – wir erinnern uns: Ermittlungen wurden eingestellt – ist es schwer zu ignorieren, dass viele Frauen sich im Umgang und einige auch beim Sex angeblich mit ihm nicht sonderlich wohlgefühlt haben. In einem Statement im August zum Ende ihrer Tour schreibt die Band selbst, dass sie sich mit den Vorwürfen auseinandersetzen (auch wenn sie „vieles daran haltlos und maßlos überzogen“ nennen).
Vielleicht ist es sinnvoller, Typen wie Combs oder Dominique Pelicot nicht als einzigartige Monster zu sehen, sondern als Symptome einer Ideologie, die Frauen auch im Jahr 2024 immer noch nicht als gleichwertige Individuen ansieht.
Auf ihrem fantastischen 2021er Album SECOND LINE singt Dawn Richard auf „Radio Free“ davon, wie eine Künstlerin fallen gelassen und entwertet wird, nur weil sie vermeintlich nicht genug einbringt. Sean „Diddy“ Combs wurde nie fallengelassen – vielleicht ist es endlich Zeit für ein bisschen Gerechtigkeit.