Kommentar

Die große Flucht nach vorne: So ist der Blur-Dokufilm „To The End“


Der Dokufilm lässt uns für 90 Minuten vergessen, dass Modern Life heutzutage noch mehr Rubbish ist als zu Zeiten des Britpop.

Bei der Aussicht auf das mindestens zweite Comeback von Blur schossen einem gleich mehrere Zeilen aus dem Katalog der Britpop-Titanen durch den Kopf: Zuerst noch das freudig erregte „Oh, we can start over again“ aus „Coffee & TV“, nach der Ankündigung einer weiteren, die Reunion begleitenden Dokumentation aber auch das resignierte „Another night and I thought: ,Well, well‘/Go to another party and hang myself/Gently on the shelf“ aus „Death Of A Party“.

Schließlich ist der Werdegang der Band, vor allem dessen letzte Einträge, hinreichend dokumentiert: „No Distance Left to Run“ zeichnete die Ereignisse vor der Trennung 2003, die Versöhnung ab 2009, und den Weg zu den zwei riesigen Headline-Konzerten beim Glastonbury Festival und im Londoner Hyde Park nach. „New World Towers“ begleitete 2015 die spontane Entstehung ihres ersten Albums seit zwölf Jahren, THE MAGIC WHIP, und die dazugehörigen Konzerte. Mit „To The End“, das wiederum die Entstehung ihres ersten Albums seit auch schon wieder acht Jahren, THE BALLAD OF DARREN, und die dazugehörigen Konzerte begleitet, haben Blur nun also mehr als doppelt so viele Minuten Dokumentarfilm veröffentlicht (296) als neue Studiomusik (113). Vielleicht sollten wir an dieser Stelle auch kurz erwähnen, dass mit LIVE AT WEMBLEY STADIUM im Juli dieses Jahres bereits das fünfte Live-Album der Band seit 2009 erschienen ist.

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In Gartenschlappen ums Country House

Was können wir aus dem unter der Regie von Toby L. entstandenen „To The End“ also noch lernen? Zunächst mal, dass der Titel – wohl aus verkäuferischen Gründen – irreführend ist: Zwar sieht man bereits in den ersten Szenen, wie der 55-jährige Damon Albarn am Autosteuer auf dem Weg zu seinem very big house in the country über Sterblichkeit sinniert („Meine Urgroßmutter wurde 103 Jahre alt, meine Oma 100“) und dabei von einem Landrover geschnitten wird: „Du weißt nie, was hinter der nächsten Ecke auf dich lauert“. Doch am Ende, nach dem Abschluss des grandiosen Auftritts im Wembley-Stadion, auf den der ganze Film hinarbeitet, orakelt Drummer Dave Rowntree, dass dies erst der Anfang von einem neuen Kapitel Bandgeschichte gewesen sein könnte.

Selbst Albarn konstatiert, dass die Zukunft schlicht eine Frage der Intuition sei. Nun habe es sich einfach so angefühlt, als müsse man wieder gemeinsame Sache machen. Doch schon im Dezember 2023, nach Abschluss der Dreharbeiten, legte er mit einiger Geringschätzung nach: „Es war das Richtige und eine große Ehre, diese Songs noch einmal zu spielen, Zeit mit diesen Jungs zu verbringen, ein Album zu machen, blablabla“, er habe jetzt aber auch keine Lust mehr, „in der Vergangenheit zu verweilen“. Wie seine Kollegen mehrfach in der Doku bestätigen, ist er halt ein rastloser Geist. Wenn man nicht schnell genug aufpasst, hat er schon wieder eine Oper komponiert. Auch hier: kein großer Erkenntnisgewinn. Warum ist „To The End“ dann dennoch so unterhaltsam? Weil der Film genau das kann. Entertain me!, wie der gleichnamige Song der Band von 1995.

Es ist einfach rührend, wie Albarn in Gartenschlappen zu seinem Hühnergehege latscht und sich über das erste Ei seines geliebten Haushuhns freut. Wie er und Gitarrist Graham Coxon in Vorbereitung ihrer Aufwärmshows in Nestern wie Wolverhampton, Eastbourne und Colchester, wo sie gemeinsam die Schulbank drückten, feststellen, dass der dortige Musikraum ihnen zu Ehren benannt wurde (Ihr Vorschlag, dass das dortige Ambiente von einer Paisley-Tapete und einer Schüssel Gras profitieren könnte, wird vom Schulleiter mit stummem Entsetzen aufgenommen). Wie Bassist Alex James seine 13-jährige Tochter Beatrix dabei erwischt, wie sie den neuen Blur-Song „The Narcissist“ vor sich hinsummt. Wie Albarn und James nebeneinander Erholungsbäder nehmen oder sich in die Fluten des saukalten Meers stürzen. Wie sie sich in ihrem 36. Brutto-Jahr als Band (ihre Vorgängerinkarnation als Seymour mitgerechnet) zoffen, sich als Fotzen beschimpfen, einander aber auch in den Armen liegend auf ein Studiosofa lümmeln.

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Gebrochene Beine und vollgepisste Coladosen

Sie sind zusammen erwachsen geworden, durch sehr viel Dickes, aber auch Dünnes gegangen. Heute, gut in ihren 50er-Jahren angekommen, steht jeder vor Herausforderungen: James, der zum Käsemacher wurde, genießt die Rückkehr zu seiner Existenz als Partylöwe, fürchtet sich aber auch vor seinen alten Alkoholproblemen, Coxon ringt mit der Vorstellung, auf einmal eine Stadionband zu sein, lässt kaum ein gutes Haar an Wembley, da er ja immer nur Punk sein wollte, und Schlagzeuger Dave Rowntree, der zwischenzeitlich zum Politiker wurde, bricht sich Wochen vor dem großen Gig das Bein – beim Tennisspielen. Rowntree erinnert sich: „Als wir das Album gemacht haben, war es wie bei einem Tennisspiel, bei dem man das Gefühl hat, der Tennisschläger sei riesig und jeder Schlag ist ein Treffer, jeder Schlag ist brillant. Dann, zwei Tage später, habe ich Tennis gespielt und – ach Gott.“ Immerhin habe ihm sein Arzt versichert, dass sein Unfall nicht der sei, der in der Woche am wenigsten mit Rock’n’Roll zu tun hatte. „Vor mir war eine Frau bei ihm, die sich eine Tasse Tee machen wollte und sich beim Griff nach der Zuckerdose das Knie verletzte.“ Von gleicher Güte ist die Anekdote des ewigen Teenagers Coxon, der immer noch Fingernägel kaut und sich ständig durch die Haare wuschelt: Auf dem Weg zur großen Wembley-Bühne fällt ihm ein, dass er nicht rechtzeitig pinkeln war und findet keine andere Lösung als sich in eine halbleere Cola-Zero-Dose zu erleichtern – in der Hoffnung, dass keiner der Crew die danach ausgetrunken hat.

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Von den Gigs gibt es wenig zu sehen und zu hören – das erledigt der parallel veröffentlichte Konzertfilm „Live at Wembley Stadium“. „To The End“ ist also ein ebenso emotionales wie amüsantes Manifest von Männerfreundschaft, selbstverständlich eine nostalgische Zeitreise für Fans, die während der Regentschaft von Cool Britannia großgeworden sind, aber auch Beleg dafür, dass die vielseitige Musik der Band sogar von Bedeutung für spätere Generationen sein kann. In der Warteschlange vor einem Konzertsaal trifft ein junger, weiblicher Fan den Wesenskern von Blur auf den Kopf: „In ihrer Musik steckt eine tiefe Depression, aber die Band drückt diese mit großem Enthusiasmus aus. Das finde ich am allerschönsten.“

Mal abwarten, wie unterhaltsam die unausweichliche Doku zum Mega-Comeback der einstigen Rivalen von Oasis ausfallen wird.

„To The End“ ist ab 24. Oktober im Kino zu sehen.

„Live at Wembley Stadium“ wird ab dem 15. Oktober (limitiert) im Kino laufen.