Thom Yorke: Wir können auch anders
Mit dem Angebot an die Fans, das Album In Rainbows zum selbstbestimmten Preis downloaden zu können, veränderten Radiohead quasi über Nacht die starren Regeln der ohnehin orientierungslosen Musikindustrie. Jetzt reden Thom Yorke und Band zum ersten Mal über den Marketing-Coup des Jahres.
Viereinhalb Jahre waren seit der Veröffentlichung des letzten Radiohead-Albums Hail To The Thief vergangen. In der Zwischenzeit war einiges passiert. Mithilfe der Libertines hatte sich Großbritannien an die Freuden des Zweiminuten-Songs erinnert. Das Internet hatte auch als Medium für den musikalischen Untergrund richtig Fuß gefasst. Dadurch war alle mögliche abseitige Musik – Krautrock, Acid-Folk, Westküsten-Psychedelia – für ein ganz neues Publikum verfügbar geworden. Der britische Premierminister Tony Blair hatte nach einem blendenden Start mit der Linientreue zu den USA seine Sympathien verspielt und schließlich seinen Job widerwillig an Gordon Brown übergeben. Ein katastrophaler Mangel an Weitsicht hatte die Major-Plattenfirmen in die schwerste Krise in der Geschichte des Tonträgers gebracht. Und was war mit Radiohead, die zehn Jahre lang als die großen Neuerer der britischen Musik galten? Stille. Es gab nicht einmal den Hauch einer Nachricht über den Stand der Dinge in Sachen Plattenvertrag, der mit Hail To The Thief ausgelaufen war. Dann, am 7. September, die Meldung von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood auf der Website der Band: „Wir sind erleichtert, die Aufnahmen (fürs nächste Album) abgeschlossen zu haben. Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, was wir damit machen wollen.“ Gefolgt von der überraschenden Ankündigung, Fans könnten sich In Rainbows vom 10. Oktober an herunterladen, und zwar zu einem Preis, den sie selber bestimmen. Mit diesem Marketing-Coup hatte sich das Quintett aus Oxford mit einem Schlag wieder in den Mittelpunkt des musikalischen Weltgeschehens gerückt.
Die meisten Songs von In Rainbows sind schon letztes Jahr entstanden. Was habt ihr 2007 angestellt? Auf der faulen Haut gelegen?
Ed O’Brien: (entsetzt) Nein!
Jonny greenwood: Vor vier Monaten waren wir immer noch mit den Aufnahmen beschäftigt.
O’Brien: Es stimmt, letztes Jahr waren wir oft unterwegs, und im Herbst haben wir mit Nigel Godrich etliche Songs aufgenommen. Um Weihnachten herum haben wir die Situation in Ruhe überdacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass das Material, das wir aufgenommen hatten, nicht besonders gut war. Wir erkannten, dass noch sehr viel Arbeit nötig war. So fingen wir im Januar noch mal von vorne an – im Juli waren wir einigermaßen fertig.
Thom, du warst zuletzt mit deinem Soloalbum THE ERASER beschäftigt, das im Sommer 2006 erschien. Wie war für dich das Jahr danach?
Thom Yorke: Pffft. Oh Gott. Wie war das Jahr danach? Eigentlich ist’s ja schon ein bisschen länger her… Ähem, läuft das Gerät? Also, für mich war das Jahr ein ziemliches Auf und Ab. Es gab Zeiten, da waren wir uns keineswegs so sicher, ob wir In Rainbows auf die Reihe kriegen würden. Erst als wir dann die Reihenfolge der Songs festgelegt hatten, als sich eine Ordnung ergab, da wurde es gut. Die letzten zwei Monate waren wirklich schön. Da kam zu der Erleichterung auch noch das Gefühl hinzu, dass wir etwas erreicht hatten. So was darf man echt genießen.
War es schwer für dich, dich wieder in die Gruppe einzufügen?
Thom: Das war allerdings ein gewisser Mo’fuck, nachdem ich eine Zeit lang einfach so dahingearbeitet habe, ohne jeden einzelnen Entschluss vors Kommittee bringen zu müssen. „Videotape“ zum Beispiel ist ein total simpler Song, aber es war unglaublich schwierig, ihn mit der Band auszuarbeiten, how the fuck to do it? Es war ein Alptraum – gerade weil der Song so simpel ist. Auf der anderen Seite gab’s großartige Situationen wie bei „15 Steps“, wo aus einem Arbeitsprozess, der sich lange hingezogen hat, Dinge entstanden sind, auf die wir sonst nie gekommen wären. Jonny, du hast eine Sammlung von Reggae-Tracks veröffentlicht:
JONNY GREENWOOD IS THE CONTROLLER.
Jonny Greenwood: Ja. Dafür darf ich jetzt zu Hause keinen Reggae mehr auflegen. Meine Frau hat’s mir verboten, weil wir sechs Monate lang jeden Tag nur Reggae gehört haben. Aber ich glaube nicht, dass Reggae auf In Rainbows Spuren hinterlassen hat.
O’brien: Man kann aber trotzdem sagen, dass wir heute sehr viel mehr achtgeben auf die rhythmische Seite unserer Musik, auf die Grooves. Als wir noch gerockt haben, zu Zeiten von The Bends, da war uns der Groove ziemlich egal. Man kann so was aber nicht auf einen bestimmten Einfluss zurückführen. Der Impuls könnte vom Reggae gekommen sein, aber auch vom Soul, von Techno, Disco – von allem, was swingt.
Diskutiert ihr zusammen überhaupt noch über andere Musik?
Colin Greenwood: Das müssten wir mehr tun. Wir haben vor kurzem so einen Webcast durchgeführt, wo wir alle unsere Lieblingsstücke gespielt haben. Da haben wir endlich mal wieder mitbekommen, was die anderen sich so anhören. Es wäre gut, so was öfter zu machen.
Jonny Greenwood: Ich hab Ed als DJ für meine Weihnachtsfeier gebucht.
Colin Greenwood: Der hat tatsächlich ein schweinisch heißes DJ-Set hingelegt.
Jonny Greenwood: Ich dagegen habe aufgelegt wie ein Teenager. Ich habe jede Platte nach einer Minute wieder runtergenommen, weil ich das Gefühl hatte, die Musik sei nicht gut genug.
Zum ersten Mal während der Arbeit an einem Album hat euch keine Plattenfirma über die Schultern geguckt. Hat sich das irgendwie ausgewirkt?
O’Brien: Nein. Gar nicht, Ok Computer hat uns in dieser Hinsicht viel Freiheit gegeben. Von da an haben wir unserer Plattenfirma die Alben präsentiert, wenn sie fertig waren, und damit basta.
Aber fehlt es dann nicht an einer gewissen Form der Qualitätskontrolle? Wenn man schöpferisch tätig ist, besteht ja die Gefahr, dass man blindlings alles toll findet, was man macht.
O’Brien: Unsere Manager gehen in dieser Hinsicht vorbildlich mit uns um. Sie erfüllen so was wie die traditionelle Funktion eines A&R-Mannes. Das machen sie ziemlich gut. (zu Jonny, schmunzelnd) Du wirst da wohl etwas anderer Ansicht sein, oder?
Jonny Greenwood: Manchmal… manchmal sind sie schon gut (lautes Gelächter von den anderen). Also, wir haben ja alle unsere Momente, wo wir Scheiße labern, (lacht)
In Rainbows klingt – das haben Kritiker und Fans bemerkt – passagenweise wie das Echo von OK Computer. Habt ihr bewusst auf diesem Album die verschiedenen kreativen Fäden zusammengezogen, die ihr in den vergangenen zehn Jahren gesponnen habt!
Jonny Greenwood: Man vergisst gern, dass ein Album bis zwei Wochen vor dem Moment, indem es als fertig bezeichnet wird, nichts anderes ist als ein paar Songtitel auf einer Wandtafel. Der Prozess ist viel chaotischer, als man annimmt. Heute gehen Bands nicht mehr zwei Wochen lang ins Studio, um „das Album“ einzuspielen. Ein Album wird erst dann zum Album, wenn man die Abfolge der Songs diskutiert.
O’Brien: Das trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn man erfährt, wie ein Lieblingsalbum entstanden ist, erkennt man oft, dass keinerlei Plan dahinter gesteckt hat. Es ist fast Zufall. Glück. Etwas passiert – und da ist der Song. Ich liebe die Story von David Bowie und „Heroes“. Wenn Bowie nicht zufällig Tony Visconti beim Schmusen mit einer Backingsängerin beobachtet hätte, wäre ihm der Text nie eingefallen. Das sind die Momente, die die Sache interessant machen. Ein Masterplan funktioniert doch nie richtig.
Das Album übers Internet zu veröffentlichen, und die Fans durften den Preis selber wählen- das war kein Masterplan?
Yorke: Es war eine Idee. Kein Masterplan. Wir wollten den Fans die Wartezeit verkürzen. Und wir wollten die Unflexibilität und den Pomp umgehen, die üblicherweise mit einer Albumveröffentlichung einhergehen.
Der Rummel war enorm. War das so zu erwarten?
Jonny Greenwood: Wir harten das schon erwartet. Aber ein paar Tage vor dem Termin bekamen wir dann Schiss. Wir hatten uns schon gedacht, dass es Aufregung geben würde. Aber dann dachten wir plötzlich: Vielleicht interessiert sich niemand mehr für uns! Vielleicht haben wir zu lange gewartet!
Colin: Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde. Aber es war wahnsinnig aufregend …
Ed: … aufregend – und befreiend.
Befreiend – inwiefern?
O’Brien: Das Wissen, dass es auch anders geht.
Wie oft wurde das Album runtergeladen, wie viel wurde im Schnitt bezahlt? Habt ihr Zahlen?
O’Brien: Nein. Die Zahlen kommen erst Ende Dezember.
Warum soll man für so einen Download überhaupt Geld zahlen? Wer die CD will, wird sie sich eh kaufen. Die, die sie umsonst haben wollen, kriegen sie sowieso irgendwo her.
O’Brien: Schon bei der ersten Ankündigung unseres Plans gab es eine Fußnote, in der stand, dass es in ein paar Monaten auch eine CD geben werde. Das war immer so geplant. Aber nicht alle Medien haben das weitergegeben, dadurch entstand wohl der Eindruck, wir hätten die Leute getäuscht. Klar – es hat nicht alles ideal funktioniert. Mein großer Einwand ist der, dass alles auf der Website nur auf Englisch stand. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man sich die Sprache mit einem Klick hätte aussuchen können. Aber weißt du – wir machen ja alles selber. Hinter uns steht keine große Plattenfirma. Und vor allem sollte es schnell gehen. Da passieren Fehler. Auf jeden Fall sind wir nur mit den besten Absichten angetreten.
Colin Greenwood: Das Ganze war wie eine Show, das war das Aufregende daran. Wir hätten das gar nicht ins letzte Detail planen können. Es war nach zwei Jahren im Studio wie wenn man die Tür aufreißt, und da stehen eine Million Menschen, denen man man sein neues Album in die Hand drückt. Ohne Vermittlung durch Medien, Plattenläden und all den ganzen Kram. Wir – Computer – Internet, and that’s it.
Warum verzichtet ihr dann nicht konsequent auf die CD?
Yorke : Wenn wir keine CD herausbrächten, wäre es, als ob wir sagen würden, es gibt im Universum bloß noch das Internet. Viele Leute würden das Album nie hören, wenn es nicht auch die CD gäbe. Das war für mich eine Grundbedingung. Für mich hätte es irgendwie nicht gestimmt, wenn es nicht auch noch die CD geben würde. Weiter habe ich das nicht durchdacht. Der 10. Oktober war ja sozusagen ein offizielles Leak-Datum. Ich stehe total hinter der Download-Sache, aber mir gefällt einfach die Idee, dass man das Album auch im Supermarkt kaufen kann.
Gemein war’s aber schon für Leute wie mich: Da gehe ich auf die Website, habe die Absicht, in rainbows runterzuladen und dafür zwei, drei Pfund zu zahlen. Nun sehe ich das Angebot mit dem Box-Set-und schon bin ich 40 Pfund los. Ziemlich unwiderstehlich!
O’Brien: Ist doch toll! Die meisten Leute haben das nicht gemacht…
Colin Greenwood: Vor allem die Amerikaner nicht.
O’Brien: Aber das ist es doch, was man will, wenn man Fan einer Band ist – wenn zum Beispiel Kings Of Leon so ein Boxset zusammenstellen würden, dann müsste ich es einfach haben. Darum geht’s uns. Wir wollen es den Leuten, die eine wahre Leidenschaft für eine Band haben, ermöglichen, tiefer zu graben. Wir haben unglaublich viel Mühe und – es fällt mir kein besseres Wort ein – Liebe da reingesteckt. Die Vinylversion! Sie in den Händen zu halten, daran zu riechen – das braucht man einfach!
Ich finde eure Download-Methode auch insofern clever, als dass sich sicher Tausende von Musikfans das Album heruntergeladen haben, die sich sonst nie Radiohead angehört hätten.
O’Brien: Das ist wahr. Ich verstehe nicht, warum die Plattenindustrie die illegalen Downloader kriminalisieren will. Es sind doch meistens Kids, Teenager, die sich informieren wollen.
Was sagen andere Bands dazu?
O’Brien: Leider reden Bands in England selten miteinander. Es klingelt nicht plötzlich das Telefon: „Hier spricht Liam von Oasis. Gut gemacht, Jungs. Das ist das Modell für die Zukunft.“ Aber bei den „Q-Awards“ sind einige zu uns gekommen und haben uns gelobt. Ian Brown zum Beispiel.
Und wie haben die Plattenfirmen reagiert? Gab es Hassbriefe?
O’Brien: Ganz im Gegenteil. Wir mussten ja unbedingt warten mit einem neuen Deal, bis die Sache mit dem Download durch war. Wir erwarteten, dass hinterher die meisten Firmen nicht mehr an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert wären. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Sie wollten uns mehr als vorher.
Jetzt habt ihr doch bei einem Indie unterschrieben.
Yorke: XL ist einfach ein gutes Label. Die haben ein paar erstaunliche Dinge veröffentlicht: The White Stripes, The Prodigy, M.I.A. und Dizzee Rascal. All diese Künstler haben unterschiedliche Stile. XL ist kein typisches „Band-Label“. Wir sind fast die einzige konventionelle Band da. Außerdem fanden wir Martin und Richard von Beggars Banquet sympathisch. Wir haben auch bei EMI tolle Leute gekannt. Aber die Strukturen der Majors sind heute extrem top heavy. Bei einem Indie sieht man noch die Verbindung zwischen Kreativität, Arbeit und Struktur.
Jetzt schaut man aus der Ferne, wie die Majors in sich zusammenkrachen, und lacht sich ins Fäustchen.
O’Brien: Die Leute bei den großen Plattenfirmen sind ja selber verzweifelt auf der Suche nach neuen Impulsen. Die Plattenfirmen gehörten einmal zu einem äußerst kreativen Business. In den 70er-Jahren gab es Marketingleute, die mehr kreative Ideen hatten als die Musiker selber. Es hat Spaß gemacht. Man muss heute das Steuer herumreißen und ein bisschen Anarchie zurückbringen. Es darf nicht mehr nur um die Anzahl der verkauften „Einheiten“ gehen.
Apropos Anarchie – Thom, du hast vor einiger Zeit die Einladung ausgeschlagen, Tony Blair zu treffen. Würdest du eine Einladung vom neuen Premier, Gordon Brown, annehmen?
Yorke: Ich weiß nicht – vielleicht, sofern er nicht beschließt, uns in den nächsten Irak-Krieg zu führen. Immerhin hat Brown ein paar positive Ansagen zur Umweltvorlage der EU gemacht, die ich mit „Friends Of The Earth“ zu unterstützen versucht habe. Wenn er sich tatsächlich dafür einsetzt, könnte ich in Betracht ziehen, ihn zu treffen. Bei der Sache mit Tony Blair ging es um „Friends Of The Earth“. Ich konnte die Bedingungen nicht akzeptieren, die man mir auferlegt hätte. Sie wollten mir genau vorschreiben, was ich hinterher über das Treffen hätte sagen dürfen. Sicher nicht: Tony ist voller Scheiße. Ein Verstoß dagegen hätte für „Friends Of The Earth“ negative Konsequenzen gehabt. Das fand ich höchst eigenartig. Im Herzen ging es mir letztlich aber darum, dass ich nicht die Hand des Mannes schütteln wollte, der uns in den Irak-Krieg gebracht hatte.
Eine Zeit lang hast du dich in der Öffentlichkeit wirklich sehr stark gemacht für Organisationen wie „Friends Of The Earth“ und „Trade Justice Movement“.
Yorke: Ich tue nicht annähernd so viel, wie ich sollte. Da kommt meine Faulheit durch.
Hattest du die Befürchtung, du würdest zum nächsten Bono werden?
Yorke: Nein, darüber habe ich mir keine Sorgen gemacht. Ich hatte schlicht nicht das Gefühl, dass meine Präsenz der Sache viel bringt. Außerdem weiß man bei so was nicht wirklich genug, um glaubwürdig mitreden zu können. Und das Gefühl passt mir nicht. Besonders nicht im Umfeld der Politik. www.radiohead.com