Wir warten immer noch auf das beste Album der Welt. Vorerst trösten wir uns mit diesem Bastard aus Eurodisco-Trash, Electro-Rock und, na ja, Rockisten-Rock.

Es waren ja einige Schrecklichkeiten zu befürchten im Zusammenhang mit diesem zweieinhalbten Album von Lady Gaga. Dafür hatte die Marketingmaschinerie schon vor Wochen gesorgt. Queen-Gitarrist Brian May sei auf Born This Way zu hören, wurde lanciert. Und zuletzt gab es die Vorabsingle (war es die vierte, oder doch die fünfte?) The Edge Of Glory mit dem schlimmen Saxophonspiel von Clarence Clemons. Die Hinzunahme des Musikers aus Bruce Springsteens E-Street will Gaga vielleicht als Zugeständnis an die Anti-Pop-Fraktion verstanden wissen: eat this, ihr Musik-auf-ihren-Ewigkeitswert-Abklopfer, auf meinem Album spielen sogar richtige Musiker. Die guten Nachrichten: Brian May fällt im ohnehin schrecklichen „Yoü And I“ nicht weiter auf; „The Edge Of Glory“ bleibt fürchterlich, wurde aber dankenswerterweise ans Ende des Albums gesetzt, so dass man mit Anstand ein paar Minuten eher aus Born This Way herauskommt.

Visuell bleibt der Eindruck eines billigen Rock-Albums: Gaga auf dem Cover als Zwitterwesen, halb Mensch, halb Chopper. Ein Blick auf die Trackliste erweckt den Eindruck, in der Druckerei wäre das Backcover mit dem eines Iron-Maiden-Albums vertauscht worden: „Bloody Mary“, „Bad Kids“, „Heavy Metal Lover“, „Electric Chapel“ und – der Metal-Umlaut in –„Yoü And I“.

Die Wahrheit über das Gaga-Debüt: Die extrem hohe Hitdichte von The Fame (2008) sorgte dafür, dass ein gutes Album in der Retrospektive ein wenig besser erscheint, als es tatsächlich ist. Wir übernehmen keine Garantie, dass die Hitdichte von Born This Way mit weiteren Anhörungen explosionsartig zunimmt. Es ist ja dieses Gaga-Phänomen, dass Lied-gewordene Unverschämtheiten (früher: „Alejandro“, heute „Judas“) im Lauf der Zeit ihre ganz eigenen Ohrwurmqualitäten entwickeln.

Rockismen bleiben die Ausnahme auf diesem Album, vielmehr ist die Musical-hafte Anmutung von Gagas Liveauftritten in die Arrangements der neuen Lieder eingeflossen. Keine Struktur dieser überwiegend grandiosen Popsongs bleibt lange bestehen, hinter dem nächsten Takt kann schon alles ganz anders sein. Vaudeville-artige Intros zu Eurodisco-Trash, Selbstzitate, hier ein „Paparazzo“, dort eine „Bad Romance“, knochentrockene Bassdrum, und immer wieder subsonisch knarzende Basslines aus der guten, alten Electro-Rock-Schule. Gaga mutet ihrem Mainstream-Publikum einiges an ungeraden Soundsperenzchen zu, und dieses ist bereit, das bedingungslos hinzunehmen. Das ist die eigentliche Sensation des „Pop-Phänomen“ Lady Gaga.

Key Tracks: „Born This Way“, „Scheiße“, „Highway Unicorn (Road 2 Love)“, „Government Hooker“

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