Das Mädchen mit dem Madonnengesicht
Jeff sass auf den Stufen die zum „Top Ten“ führten und bearbeitete dünnen Eisendraht mit einer Zange. Vor ihm, auf einer Bastmatte, lagen einige Ketten, die er bereits aus dem Draht angefertigt hatte. Neben ihm hockte sein Freund Ben und vor ihm kniete Rolf und malte mit unglaublicher Geduld das Bild einer Madonna mit ihrem Kind auf das staubige Pflaster. Jeff war müde und gähnte verstohlen hinter der vorgehaltene» Hand. Es war kurz nach vier, die Sonne schien und tauchte die Häuser und Bäume in ein warmes, sympathisches Licht. Er war zum erstenmal in dieser Stadt, Rolf war hier zu Hause. Jeff beobachtete gedankenverloren die Menschen, die vorbeiliefen und klopfte sich den Staub aus seinen verschlissenen Jeans…
Kim machte einen Schaufensterbummel durch die Stadt, sie hatte es nicht eilig. Es war ein schöner Tag und sie genoss die September-Sonne, die warm auf sie herabschien. Plötzlich verlangsamte sie ihren Schritt. Sie sah die Madonna von Rolf und besah sich interessiert sein Gemälde. Dann fiel ihr Blick auf Jeff und ihm war, als ob sie etwas sagen wollte. Er lächelte ihr zu, doch sie ging weiter, ohne etwas zu sagen. Er sah ihr lange nach.
Das treffen
Nachts, als er auf der hatten Matratze in Rolfs Wohnung lag und den eleichmässieen Atemzügen seines Freundes lauschte, dachte et an sie. Sie kam ihn bekannt vor. Doch er konnte sie nicht unterbringen. Lange Zeit lag er da, mit geschlossenen Augen, zu wach um einschlafen zu können, als er plötzlich wusste, woher er sie kannte. Sie glich haargenau der Madonna von Rolf. Sie hatte das gleiche, ovale Gesicht, die gleichen, grossen Augen.
Am nächsten Tag gingen sie wieder zum Top Ten, breiteten ihre Sachen aus und Rolf versuchte, sein Gemälde wieder einigermassen herzurichten. Es war durch die Fusstapfen der Leute ziemlich ruiniert und verwischt.
Jeff hatte nicht mehr an das Mädchen gedacht, doch als sie vor ihm stand fiel ihm erneut die Ähnlichkeit zwischen ihr und der Zeichnung auf. Sie beugte sich zu ihm, besah sich die Ketten und nahm eine in die Hand.
„Ich möchte diese kaufen“, sagte sie.
„Sie ist nicht zu kaufen“, antwortete er.
„Ich schenk‘ sie dir!“
Kim wurde verlegen und wusste nicht, was sie davon denken sollte.
„Warum schenkst du sie mir?“ Er lachte. „Weil ich Lust dazu haben!“
Es blieben immer mehr Leute stehen und Kim, die zur Seite gedrückt wurde, fand sich schliesslich neben Jeff auf den Steinen wieder. Er gab ihr den Draht und die Zange.
Und sie versuchte, es ihm nachzutun. Ab und zu warf er ihr einen verstohlenen Blick zu, doch als er sah, wie sie sich bemühte, den Draht zu bearbeiten, lächelte er.
Es war spät, als sie ihre Sachen zusammenpackten. Er hatte nicht viel mit ihr gesprochen, aber er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft. Sie gingen eine Kleinigkeit essen und danach in einen Club, der ganz nach Jeffs Geschmack war. Hier gab es keine Ober, die einem zum Konsumverbrauch zwangen. Jeder war willkommen, ob er Geld hatte oder nicht. Der Raum war billig und unschön eingerichtet, aber er hatte Athmosphäre. Sie sassen dicht beisammen, sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und lauschte der Musik. Auf der Tanzfläche tanzte gedankenverloren ein einsames Mädchen, doch niemand achtete darauf …
Der abschied
Jeff blieb genau drei Wochen in der Stadt. Sie trafen sich jeden Tag. Kim wartete beim Top Ten auf ihn, manchmal verbrachten sie die Nacht gemeinsam bei Rolf.
Doch dann kam das Ende ihrer Freundschaft. Zu schnell und unerwartet. Gerd wollte weiter und auch Rolf hatte die Nase voll von der Stadt.
Jeff sah sie schon von weitem. Sie trug schwarze Cordhosen und einen schwarzen Pullover. Es regnete und ihre Haare waren nass.
„Wie sich eine Stadt im Regen verändern kann“, dachte er.
„Alles sieht so grau und unfreundlich aus. Die Menschen haben keine Zeit mehr und laufen wie die Wilden aneinander vorbei.“ Er ging auf sie zu und nahm ihre Hand.
„Was ist los“, sagte sie. „Kommen die anderen nicht?“
„Nein“, sagte er, „sie kommen nicht mehr. Wir haun heute ab.“
Langsam liefen sie durch den Regen und merkte, dass sie nachdachte. „Nimm mich mit“, sagte sie schliesslich spontan. „Ich will nicht alleine hierbleiben. Alles ist so sinnlos ohne dich.“
Er lächelte wehmütig. „Wie kann ich dich mitnehmen, ich weiss selbst nicht, wo ich morgen schlafen werde. Du würdest mir später Vorwürfe machen, weil ich dich aus deiner vertrauten Umgebung herausgerissen habe. Nein, ich geh‘ allein!“ Sie wusste, dass er sich nicht überreden Hess. „Wirst du mir schreiben?“
„Ich weiss nicht“, antwortete Jeff. Mir liegt nicht viel an Briefen. Ich finde, Briefe sind kalt und unpersönlich. Wichtig ist nur, dass ich an dich denke.
..Aber … wirst du an mich denken?“
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. „Natürlich werde ich an dich denken, du Dummkopf“, versuchte er zu scherzen. „Eines Tages bin ich wieder hier und dann nehme ich dich mit. Darauf kannst du dich verlassen!“
Das wiedersehen
Er konnte sie nicht vergessen. So sehr er sich auch bemühte auf andere Gedanken zu kommen, es gelang ihm nicht. Wenn er Rolfs Zeichnung sah, musste er an sie denken. Er nannte sich selbst einen Idioten und nahm es sich sehr übel aber trotzdem musste er sich eingestehen: Er hatte Sehnsucht.
Neun Monate später sah er sie wieder. Eigentlich war es nur Zufall, er wollte sie erst am nächsten Tag anrufen, aber plötzlich stand sie vor ihm. Sie hatte sich nicht veändert und ihm war, als hätten sie sich nie getrennt.
Sie standen auf dem gleichen Platz, auf dem sie sich vor zehn Monaten kennengelernt hatte.
Sie sah ihn an und er spürte, dass sie ihn nicht vergessen hatte.
„Du bist also wirklich zurückgekommen“, sagte sie tonlos und strich sich mit einer müden Handbewegung das Haar aus der Stirn.
„Natürlich bin ich zurückgekommen“, sagte er, etwas unsicher geworden. „Das hab‘ ich dir doch versprochen?“ Sie nickte. „Das hast du, aber ich habe dir nie geglaubt, ich dachte, du hättest mich längst vergessen!“
„Ich konnte dich nicht vergessen“, sagte er und wenn du willst, dann bleiben wir jetzt zusammen. Ich kann mir auch einen Job suchen … Es liegt an dir, entscheide du.“
„Ich hab‘ nicht mehr viel zu entscheiden“, sie lächelte wehmütig. „Der Traum ist aus, mein Lieber, ich bin verheiratet.“ Sie hatte das letzte spöttisch gesagt, so als verspotte sie sich selbst. Dann ging sie.
Er versuchte nicht, sie zurückzuhalten. „Der Traum ist aus“, dachte er. Sie hat recht. Und ich muss mich damit abfinden. Meine Madonna hat einen anderen gefunden, ob sie ihn liebt oder nicht, mir bleibt nichts mehr.“ Er setzte sich zu Rolf und betrachtete noch einmal seine Zeichnung. Rolf, der das Gespräch zwischen ihm und Kim gehört hatte, legte plötzlich seine Kreide aus der Hand. „Was meinst du“, sagte er. „Mir hängt die Madonna schon zum Hals heraus. Soll ich es morgen einmal mit einem anderen Motiv probieren? Schaden kann das nie. Vielleicht sollte ich es einmal mit einem Mann versuchen, mit einem heiligen Mann …“
Jeff lächelte. „Okay, verbannen wir die Madonna aus unserem Gedächtnis. Schliesslich … es gibt noch andere schöne Objekte!“