Jon Lord: „Ich bin ein typischer Engländer!“
Jon Lord ist ein klassisch orientierter Musiker, bekannt geworden als Organist von Deep Purple. Er ist ein rauher, aber freundlicher Junge, der überall sofort Sympathien weckt. Mit offenem Hemd, blass und sehr sicher sass er uns gegenüber und beantwortete mit leiser, sanfter Stimme unsere Fragen. Obwohl er nie ein College besucht hat, ist er Lizentiat an der Königlichen Hochschule für Musik in London; im Alter von neun Jahren begann er, Orgel zu spielen. Es war Jon, der das berühmte „Concerto“ schrieb, das am 24. September ’69 von Deep Purple in Zusammenarbeit mit dem Royal Philharmonie Orchestra uraufgeführt wurde. Zusammen mit seiner Frau und Tochter bewohnt er ein hübsches kleines Haus im Londoner Stadtteil Chelsea und immer, wenn es seine Zeit erlaubt, arbeitet er dort bis spät in die Nacht hinein seine musikalischen Ideen aus.
WIE ENTSTEHEN DEINE KOMPOSITIONEN?
Wenn meine Familie abends schlafengeht, verwandle ich das Wohnzimmer in ein Studio. Dann ist der Fussboden voll mit Notenblättern bedeckt und ich sitze oft bis zum Morgengrauen über der Arbeit. Ich spiele nie ein Instrument, wenn ich komponiere. In dieser Hinsicht unterscheide ich mich wohl von den meisten meiner Kollegen, die ihre Ideen einfach in ihr Instrument diktieren und dann auf Band aufnehmen. Ich habe früher mal versucht, am Piano zu komponieren aber ich habe festgestellt, dass ich mich dann zu sehr aufs Piano konzentriert habe.
Am liebsten schreibe ich, wenn es völlig ruhig ist. Dann kann ich die Ideen, die mir vorschweben, mit Bleistift und Papier ausarbeiten.
WAS INSPIRIERT DICH?
Eigentlich alle Emotionen. Am besten schreibe ich in der ländlichen Abgeschiedenheit von Wiltshire, Cornwall und Somerset. Ich bin ein ganz typischer Engländer. Als ich in Wells war, stand ich stundenlang vor der Kathedrale und dieser Anblick gab mir ein herrliches Gefühl von Melancholie. In Wiltshire sind meine Emotionen besonders stark. Ich kenne ein Stück von Vaughan Williams, das Wiltshire für mich charakterisiert.
SPIEGELN SICH IN DEINER MUSIK AUCH GANZ PRIVATE EINFLÜSSE WIDER?
Eine Nummer, die wir aufgenommen haben, heisst „Chasing Shadows“ und dieses Stück ist so persönlich, dass ich eigentlich nicht allzu gerne darüber rede. Ich schrieb das Lied, nachdem ich einen fürchterlichen Albtraum gehabt hatte. Es war wirklich ein ganz entsetzlicher Traum, ich bildete mir die ganze Zeit ein, hellwach zu sein, während ich in Wirklichkeit schlief, und ich sah all diese schrecklichen Figuren an der Wand … Am nächsten Morgen setzte ich mich hin und schrieb diese Nummer und immer, wenn ich sie höre, ist das für mich ein ganz persönliches Erlebnis. Oft, wenn ich mir Songs anhöre, die ich selbst geschrieben habe, erinnere ich mich an Dinge, die sich vor langer Zeit in meinem Leben abgespielt haben. Dies trifft zum Beispiel auf das Stück „Blind“ zu. Erst viel später, nachdem ich es geschrieben hatte, fiel mir auf, woher ich die Inspiration dafür hatte. Ich erinnerte mich plötzlich an eine Liebesgeschichte, die ich hatte, als ich 17 war. Ich war sehr verliebt in ein Mädchen und war mit ihr am Ufer eines Sees spazierengegangen. Sie bedeutete mir damals sehr viel und die Enttäuschung war gross, als sie mit mir Schluss machte. Wenn ich heute darüber nachdenke, war die Situation sehr simpel. Sie sagte damals: „Ich will nicht mehr mit dir gehen – ich bin verliebt in Harry, den Fleischerjungen!“ Ich weiss noch, dass ich hinterher am Wasser stand, wütend Steine hineinwarf und die Wellen beobachtete … und wenn du dir das Lied anhörst, kannst du die Wellen hören …