Tangerine Dream
Tangerine Dream steht an einem Wendepunkt. Gut zehn Jahre nach ihrer Gründung will die auf vier Köpfe angewachsene Berliner Band neue Sound-Ebenen für den elektronischen Rock erschließen und mit ihrer Bühnenshow im wahrsten Sinne des Wortes in die nächste Dimension vorstoßen. Am 17. Februar startete Tangerine Dream zu einer großen Deutschland-Tournee, in deren Verlauf die hochfliegenden Pläne zum erstenmal in die Tat umgesetzt werden sollen. Noch vor Tourneebeginn reiste Hermann Haring nach Berlin, um mit Edgar Froese, Christoph Franke, Klaus Krieger und Steve Jolliffe über ihre jüngsten Ideen und über ihre Erfahrungen aus dem ersten Jahrzehnt nach Erfindung des Synthesizer zu sprechen.
Unbefangen kann man mit Leuten wie Froese oder Franke nicht reden. Schon gar nicht, wenn man vor dem Gespräch das Pech hatte, ihr Übungsstudio besichtigen zu dürfen. Der Bau, der grob gesagt die Form eines großen Kinos hat, liegt in einer düsteren Berliner Gegend und hat eine noch düstere Vergangenheit. Dort, wo jetzt die synthetischen Synthesizer-Klänge durch den hohen Saal wogen, sahen sich im Dritten Reich die Nazi-Größen die jeweils neuesten Propaganda-Filme und -Wochenschauen an. Den Atem von NS-Verbrechern wie Joseph Goebbels spüren die Tangs indes nicht im Nacken Edgar Froese lobt die Akustik und den Bewegungsspielraum und freut sich wohl im stillen, daß Journalisten um Überbleibsel aus der schaurigen deutschen Vergangenheit so gut wie nie einen Bogen machen. Wenn die Tangs nicht auf Tournee sind, steht hier im alten Kino ihr Kapital: vornehmlich Synthesizer und Zubehör, aufgebaut zu Altären des elektronischen Zeitalters. Wer als Laie mal ins Cockpit eines Jumbos kommt, wird sich hüten, mit dem Flugkapitän oder dem Bordingenieur zu fachsimpeln. Über was also redet man mit den Keyboard-Leuten von Tangerine Dream, wenn man keinen Dr.
Moog als Berater zur Seite hat? Die Gitarre hat sechs Saiten, und wer ein paar Barregriffe beherrscht, kann schon ein gutes Stück der Rockgeschichte rekonstruieren. Die jüngsten Ausgaben der großen Synthesizer sehen dagegen aus wie Geräte vom Jupiter. Man steht beklommen davor und denkt nur eins: Was ist es doch für ein Sakrileg, aus so einem Wunderwerk solch einen billigen Blödsinn wie „Magic Fly“ herauszukitzeln!
Die jüngsten Erfolge von Synthesizer-Sounds in den internationalen Hitparaden Space, Jean Michel Jarre, Giorgio haben auch Tangerine Dream nicht kalt gelassen. Denn die zu simplen Themen zurechtgestutzten Sphärenklänge, die jüngst sogar einem Donna-Summer-Titel so eine Art Flair der Peter Stuyvesant-Generation verliehen, sind nicht mehr und nicht weniger als Abfallprodukte jener Experimente, mit denen ganz früher die Pink Floyd und später vor allem Bands wie die Tangs aus dem traditionellen Bereich der Rockmusik ausbrachen. Juckt es nicht auch den Berlinern zuweilen in den Fingern, mit solch schnell zurechtgezimmerten Eintagsfliegen einen Haufen Geld zu verdienen? „Wenn wir wollten“, meint Edgar Froese, „könnten wir jede Menge Songs vom Kaliber ‚Magic Fly‘ auf den Markt werfen! Was meinst du, auf was für todsichere Dinge wir im Laufe unserer langjährigen Arbeit mit dem Synthesizer schon gestoßen sind!“
Aber keine Angst: die Band hat absolut keinen Bock, ihr künsterisches Renommee vordergründigen Erfolgserlebnissen zu opfern. „Solange wir noch mit unserer Art von Musik genügend Geld verdienen“, sagt Christoph Franke, „steht so etwas überhaupt nicht zur Diskussion.“
Durchbruch auf dem Markt für schwarze Amerikaner
Ein wenig kommerzieller wollen sich die Tangs gleichwohl geben. Nachdem sie in den vergangenen ein, zwei Jahren überraschenderweise und ähnlich wie auch Kraftwerk auf dem gewinnträchtigen Plattenmarkt der schwarzen Amerikaner Fuß fassen konnten, ist ihre Neigung gewachsen, ihre Ideen in durchsichtigere, eingängigere Formen zu gießen. Kreativität und Entwicklungsarbeit sollen dabei jedoch auf keinen Fall zu kurz kommen; daß dieser Vorsatz tatsächlich ernst gemeint ist, beweist wohl gerade auch der jüngste, spektakuläre Besetzungswechsel bei Tangerine Dream.
Sechseinhalb Jahre bestand die Band in der Besetzung Edgar Froese, Peter Bauman und Christoph Franke. Daß Baumann jetzt ging, um sich auf seine Soloprojekte zu konzentrieren, beruhte wohl gleichermaßen auf künsterlischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe wie auch auf menschlichen Problemen. „Es lagen Grundsatzfragen auf dem Tisch, die nicht mehr geklärt werden konnten“, betont Edgar Froese.
Die Tangs 1978: Keine Revolution, aber interessante neue Experimente
Kein Kurswechsel, aber klarere Strukturen und mehr Abwechslungsreichtum lautet jetzt die Devise bei der neuen Formation von Tangerine Dream. Drummer Klaus Krieger kann besonders Edgar Froeses Intentionen unterstützen, wieder häufiger Gitarre zu spielen. Den Synthesizern mit einem strammen Beat sozusagen Beine zu machen, ist allerdings nicht seine Absicht. Er hat sich eine Reihe ungewöhnlicher Schlaginstrumente gebaut und möchte zum Beispiel ausloten, welche Möglichkeiten er in seinem Bereich hat, mit behutsamen Soundverschiebungen Spannung zu erzeugen und Klangbilder aufzubauen. Genau in dieser Art haben Froese und Franke all die Jahre auch mit ihren Synthesizern gearbeitet, ähnlich will auch der zweite neue Mann, der Multiinstrumentalist und Sänger Steve Jolliffe seine Stimme einsetzen. Die Revolution ist also nicht bei Tangerine Dream ausgebrochen, wohl aber eine neue Phase interessanter Experimente angesagt.
Edgar Froese selbst meint immerhin, daß in der langen Geschichte der Berliner Gruppe noch nie so einschneidende Veränderungen auf der Tagesordnung standen wie im Augenblick. Und das, obwohl es, wie Froese ebenfalls sagt, wohl keine Gruppe gibt, die sich bislang so weit in die Zukunft der Rockmusik vorgewagt habe wie Tangerine Dream. „Da können wir es uns doch leisten, mit einem Schlagzeuger zu spielen“, denkt er laut nach. „Wir leisten uns das eben.“
Es habe einfach wenig Sinn, eine halbe Million Mark in ein elektronisches Instrument zu investieren, um hinterher festzustellen, daß man mit seiner Musik niemanden mehr erreicht, erklären die Tangs übereinstimmend. „Wenn wir die Musik machen würden, die nach unseren Erfahrungen machbar ist“, so Christoph Franke, „dann würden wir vielleicht 1000 Platten verkaufen. Unsere Erkenntnisse aus den letzten vier, fünf Jahren über Elektronik, Hörpsychologie und so weiter in Musik umzusetzen, wäre eine wahnsinnig interessante Sache, aber unverkäuflich auf dem Markt, auf dem wir Platten vertreiben! Und es hat keinen Sinn, den Leuten jahrelang zu erklären, was man alles entwickelt hat; man muß irgendwie auch mal darauf Rücksicht nehmen, daß nicht jeder in der Lage ist, sehr viel Geld in Elektronik zu stecken und damit zu zaubern. Fairerweise soll man daher den Kontakt zu demjenigen wiederherstellen, der das, was wir an Musik machen, in seinen Gehörgängen verarbeiten muß.“
Schau an: die Parallelen zwischen grob gesagt Space-Rock und Weltraumfahrt sind hier unübersehbar. Ähnlich wie Amerikaner und Russen nach ersten euphorischen Ausflügen zum Mond und in die Tiefen unseres Sonnensystems sich jetzt auf eine erdnahe, praxisorientierte und gewinnbringende Weltraumforschung konzentrieren, ziehen Sphären-Bands wie Tangerine Dream freiwillig ihre Flügel ein und richten sich danach, ob das, was sie da in ihren Köpfen und Synthesizern ausbrüten, dem breiten Rockpublikum überhaupt etwas gibt — sei es nun Unterhaltung, Lustgewinn oder ein geistiger Kick. Und respektable Plattenumsätze muß die Band mit der Zeit auch erzielen wovon sonst soll die immer aufwendigere, sündhaft teure Elektronik sonst bezahlt werden.
Nach der Lehrzeit im Schlepptau des unglückseligen kosmischen Kuriers und selbsternannten Führers der deutschen Rockszene, Rolf Ulrich Kaiser, nach den anschließenden Jahren intensiver kreativer Arbeit im Schöße der englischen Plattenfirma „Virgin“ war Tangerine Dream 1977 an einem Punkt angelangt, an dem die musikalischen Experimente der Band begannen, zum Selbstzweck zu werden. „Die Entwicklung“, so Froese, „ging ja in den letzten Jahren rasend schnell. Da sind Sachen erprobt und entwickelt worden, da konnte man vor einem Jahrzehnt nur von träumen.‘ Aus dieser Einsicht über die breiter werdende Kluft zwischen der Potenz der elektronischen Instrumente und der Aufnahmebereitschaft des Publikums entschieden sich Froese und Franke zur Kurskorrektur. Sie wollen nicht zurückstecken, sondern weiterexperimentieren allerdings näher am Hauptstrom der Rockmusik. Neuland gibt es auch da noch genug besonders im Multi-Media-Bereich.
Mischung aus optischen und akustischen Reizen
Die Sinne der Zuhörer mit einer gradiosen Mischung von akustischen und optischen Reizen zu fesseln, ist nun das nächste Ziel von Tangerine Dream. Deshalb die dreidimensionale Laser-Show aus Los Angeles, die momentan auf der Deutschland-Tournee zum ersten Mal eingesetzt wird (der ME wird darüber im nächsten Heft berichten). Angst, daß aus solchen Versuchen eine in Science Fiction-Romanen oft mit warnendem Unterton beschriebene betörende Scheinwelt entstehen kann, in der die Leute ausflippen und über die Probleme des Alltags hinweggetäuscht werden, haben die Musiker von Tangerine Dream nicht. Noch nicht.