Die kleinen Giganten
Während der Vinyl-Markt stagniert, floriert die Leer-Cassette fröhlich weiter. Immer rauschärmere Bänder widerlegen das langgehegte Vorurteil, die Cassette könne dem Vinyl nicht das Wasser reichen. Und wenn im nächsten Jahr die digitale PCM-Cassette erscheint, bekommt selbst die hochgelobte Compact-Disc ernstzunehmende Konkurrenz. Band-Aid von Franz Schöler Die Urnsatzzahlen belegen es eindrucksvoll: Die Deutschen sind ein einig Volk von Räubern, wenn es um Musik geht. Sie kaufen noch jährlich für (immerhin) 160 Millionen Mark Spulentonband, aber schon für ein Vielfaches dieses Betrages Leer-Cassetten, um darauf – ganz legal, wie es der Gesetzgeber sieht – Musik für daheim und unterwegs zu speichern. Rund 90 Millionen unbespielte Audio-Cassetten werden derzeit hierzulande pro Jahr gekauft. Programmlieferant für die privaten Mitschnitte sind zu 68 Prozent die ARD-Anstalten, die zwischen Flensburg und Traunstein rund um die Uhr Musik bringen. Nur zu 32 Prozent werden Schallplatten oder vorbespielte MCs überspielt.
Dabei gibt sich der Deutsche mindestens so qualitätsbewußt wie beim Auto. Die Werbung konnte wieder mal einen vollen Erfolg verbuchen. Denn Chromdioxid- bzw. Chromsubstitut-Cassetten aus Fernost liegen in der Käufergunst eindeutig vorn. Die armen Engländer und andere europäische Nachbarn mögen Eisenoxid-Cassetten kaufen, soviel sie wollen. Der deutsche Verbraucher bevorzugt die „Chrom-Klasse“.
Was technisch gesehen nicht mal unbedingt plausibel erscheint. Denn wegen der wenigen Dezibel Rauschabstand mehr, um die man vielleicht besser ist als beim Eisenoxid-Band, muß man auch sorgfältiger aussteuern und den Recorder möglichst auf die magnetischen Eigenschaften des jeweiligen Chrom-Typs abstimmen lassen, wenn man in puncto Frequenzgang und Rauschen optimale Resultate erzielen will.
Der Marktanteil der Reineisen-Cassetten ist vergleichsweise winzig geblieben. Für Qualität zahlt man dann doch nicht jeden Preis. Zwar bietet Sony derzeit mit der „Metal-ES“-Type die meßtechnisch beste Cassette überhaupt an; aber die kostet denn auch gleich zehn Mark mehr als die neue „SA-X“-Chromsubstitut-Cassette von TDK oder die in Tests immer wieder vielgelobten Chrom-Typen von BASF, Fuji, Maxell oder Sony.
Weil nun mal die Deutschen lieber Chrom-Cassetten kaufen, (obwohl es ein Eisenoxid-Band wie die Maxell SL I-S auf dieselben hervorragenden 63,5 Dezibel Rauschabstand ohne Zuschaltung eines Rauschverminderungssystems bringt), sind Fe-Cassetten mit der Zeit .absurderweise teurer geworden als Chrom-Cassetten. Damit erledigt sich für die meisten Berater in HiFi-Studios auch umgehend ihr Dilemma. Eigentlich könnten sie ja für viele Anwendungszwecke das Eisenoxid-Band eher empfehlen als Chrom- oder gar Reineisen-Typen, weil ersteres sehr hohe Qualität mit weniger Problemen verbindet. Aber angesichts des eine bis drei Mark höheren Preises erledigt sich die Diskussion von selbst. Viele Geschäfte führen nicht mal mehr hochwertige Eisenoxid-Cassetten, nur noch solche der „Standardklasse“, wie man vornehm den Ramsch umschreibt.
Tatsächlich erreichen die besten Cassetten mittlerweile einen Rauschabstand zwischen 63 und 66 Dezibel, ohne daß man dbx, HighCom oder das allseits verbreitete Dolby-B oder -C zuschalten müßte. Diese spektakuläre Dynamik, an die man beim Erfinder Philips anfangs ganz sicher nicht mal zu träumen gewagt hatte, nutzt man aber nur aus, wenn man einen entsprechend rauscharm arbeitenden Recorder besitzt. Die Geräte-Industrie freut sich sowieso über jedes halbe dB mehr, das man durch neue Bandbeschichtungen oder Metallmischungen herauskitzelt: Seit geraumer Zeit sind Cassetten-Recorder die absoluten „Renner“ unter den HiFi-Geräten.
Über eines müssen sich eingeschworene Cassetten-Freaks aber im klaren sein: Auch die besten Cassetten(gehäuse) produzieren letztlich mehr Tonhöhenschwankungen als eine gut gefertigte Schallplatte, nämlich von 0,15 bis zu ärgerlichen 0,3 Prozent. Einbußen sind beim Kopieren von Platten und erst recht bei Rundfunk-Mitschnitten unvermeidlich. Die Kopie kann schlicht nicht so gut sein wie das Original, auch wenn manche Hersteller allen Ernstes in der Werbung von „digitaltüchtigen Anaiog-Cassetten“ reden.
Wie gut die Überspielung tatsächlich am Ende ausgefallen ist, zeigt der A/B-Vergleich zur mitgeschnittenen LP oder CD. Da kommt die Stunde der Wahrheit. Für das Rock-Programm mit seiner relativ geringen musikalischen Dynamik bieten die besten Cassetten der renommierten Anbieter inzwischen bei weitem ausreichenden Rauschabstand. Heikel wird’s erst bei kritischem Musikmaterial vor allem auf CD: Die Cassette, auf der man BROTHERS IN ARMS in äquivalenter Qualität hören kann, kommt erst noch.
Nächstes Jahr nämlich, wenn die Elektronik-Giganten im Herbst die ersten Digital-Cassetten-Recorder auf den Markt bringen. In der Einführungsphase werden diese Apparate ganz schön teuer sein, und bis sie nennenswerte Verbreitung finden, vergehen vermutlich einige Jahre. Sollten aber auch hier spektakuläre Preisstürze kommen wie vorher bei CD-Spielern, dann dürfte die PCM-Cassette sich um einiges rascher durchsetzen. Denn einen entscheidenden Vorteil dürfte sie der CD gegenüber auf Jahre hinaus haben: Sie ist wiederbespielbar! Und das fasziniert ja jetzt schon Millionen von Zeitgenossen, die sich „ihr“ Programm zu mehr als zwei Dritteln vom Rundfunk holen.