Schauspieler
Beide sind für die Bühne geboren, beide brauchen Plattform und Publikum. Als sie unlängst im Video zu "Dancing In The Street" erstmals gemeinsam vor der Kamera agierten, konnte man aber auch charakteristische Unterschiede feststellen: hier Jagger, der offensive, extrovertierte Selbstdarsteller — - dort Bowie, der seine Unsicherheit kaum kaschieren kann, wenn er keine vorgegebene Rolle zu spielen hat. Die unterschiedlichen Charaktere und schauspielerischen Talente kann wohl keiner besser beurteilen als Julien Temple (r.). Der Londoner Regisseur setzte Jagger und Bowie nicht nur in diversen Videos in Szene, sondern arbeitete nun auch mit beiden an umfangreicheren Projekten: mit Bowie im (schon jetzt hochgejubelten) Spielfilm "Absolute Beginners" — mit Jagger in dem einstündigen Konzept-Video "Running Out Of Luck". "Wer ist der bessere Schauspieler?" wollten wir wissen. Temples Antworten dazu sind bemerkenswert.
Howling out around the world: Are you ready for the breand new beat?“ Da blitzen Bowies Augen, da sprüht frivoler Charme von Jaggers legendären Prachtlippen. Und dann — Auge in Auge: „Summers here and time is right for dancing in die street'“
„Dancing In The Street“, jener mitreißende Clip, den Bowie und Jagger für Live-Aid drehten, ist in seiner Schlichtheit geradezu ein Fremdkörper in der sonst so kapriziösen Video-Geschichte. Keine Tricks, kein technischer Aufwand —- einzig und allein, nackt und ungeschminkt, stehen die beiden Persönlichkeiten im Mittelpunkt.
Bemerkenswert aber ist „Dancing In The Street“ nicht nur deswegen, sondern auch auf Grund seiner cineastischen Premieren-Funktion: Stehen in Bowie und Jagger doch zwei ambitionierte Schauspieler zu einem ersten Schulter an Schulter-Vergleich vor der Kamera.
Und wer ist nun der Bessere? Der kühle Meister der Masken oder der aufgedrehte Stones-Dynamo? Offensichtlich ist wohl zunächst einmal, daß Jagger die dominierende Figur ist, allzeit der Konzentrations-Magnet. Und das nicht nur, weil er ständig zwei Schritte vor Bowie steht, um die eklatante Größendifferenz zu kaschieren. Aber heißt das automatisch, daß Mick auch der bessere Schauspieler ist?
Julien Temple meint „ja“ ad eins, aber ein striktes „nein“ ad zwei. Und Temple muß es schließlich wissen. Der Anarchist unter den Videoregisseuren, der einst mit dem Sex Pistols-Streifen „The Great Rock ’n“ Roll Swindle“ den Underground-Mythos demontierte und später mit seinen Videoclips die gängigen Klischees von Sex und Sekt, von Glamour und Südseeträumen ad absurdum führte, hat schon mit beiden gedreht. Nicht nur das 2üminütige Jazzing For Blue Jean“ mit David Bowie und nicht nur den Clip für Jaggers erste Solo-Single „Just Another Night“. Nein. Julien Temple hat mit beiden schon abendfüllende Celluloid-Epen realisiert.
Bowie spielt einen Lead-Part in Juliens kommendem Kultfilm „Absolute Beginners“, und Jagger ist der Hauptdarsteller von „Running Out Of Luck“, einem einstündigen Abenteuer-Spektakel mit Drehort Brasilien, das ursprünglich als PR-Beigabe zu Micks Solo-LP SHE’S THE BOSS gedacht war.
Julien ist also qualifiziert genug, um sagen zu können: „David Bowie ist der bessere Schauspieler!“ Und er darf sich auch erlauben, das „Dancing In The Streef‘-Video offen zu kritisieren. Schließlich war er selbst die erste Wahl von David und Mick für den Regiesessel —- und hätte die Offerte auch dankbar angenommen, wenn ihm „Absolute Beginners“ dazu Zeit gelassen hätte.
Julien hätte den Set von „Dancing In The Street“ übrigens ähnlich aufgebaut, ganz ohne Kulissen, ausschließlich auf die Persönlichkeiten der beiden Partner zugeschnitten. „Klar, daß Mick in so einem Sei dominiert“, findet Julien. „Es wurde ja überhaupt keine Schauspielerei verlangt, sondern nur Selbstdarstellung!“
Auf diesem Gebiet hat Exhibitionist Jagger tatsächlich mehr Erfahrung als Bowie, der die „Ziggy Stardust“-, „Thin White Duke“- und „Aladdin Sane“-Egos nach Bedarf über- und wieder abstreifte.
Immer schon war Jagger der Mann, der sein Image akribisch aufbaute und seine Spuren auch in Klatschspalten und Intim-Meldungen hinterließ. Bowie hingegen hält sein wirkliches Ich, sein geheiligtes Privatleben bis heute hinter einem Sicherheits-Wall von Informationssperren verbarrikadiert.
Jagger ist der geborene Selbstdarsteller. Bowie, der Celluloid-Artist, der keine gesteigerte Mühe hat, sein eigenes Ego abzuschütteln und in ein neues zu schlüpfen. Temple dazu: „Mick ist sehr talentiert. Er hat nur ein Problem beim Schauspielen: Er hat dieses grelle, kreischende Sexsymbol Mick Jagger kreiert — eine Rolle, in die er automatisch schlüpft, sobald er an die Öffentlichkeit tritt. Privat ist er wirklich ganz anders. Aber wenn er ans Schauspielen denkt, wird er automatisch zu Mick Jagger, dem monströsen Bühnen-Geschöpf. David hingegen hat seit mehr als zehn Jahren ernsthaft daran gearbeitet, sich als Darsteller von anderen Charakteren zu verbessern!“
Richtig, da war er schon 1966 bei seinem Kameradebüt ein überzeugendes Leckermäulchen, das in der „Lyons Maid Ice Cream‘-Werbung verblüfften U-Bahngästen einen Eislutscher unter die Nase hielt. Da war er ein Jahr später -— von der Agentur noch als David Robert Jones vermittelt -— in „The Image“ ein dämonischer Teenager-Jüngling, der seinen Porträt-Maler liquidiert. 1972 funktionierte er sein Wohnzimmer zum Filmstudio um und trainierte mit Videokameras und selbst gemalten Kulissen. Dann war er „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Er war der Vampir-Bräutigam in „Begierde“ und agierte in „Just A Gigolo“ als Partner von Marlene Dietrich — hier allerdings wenig überzeugend. „Merry Christmas Mr. Lawrence“ schließlich war die Krönung seiner cineastischen Ambitionen, das gelungenste Zeugnis seines mimischen Talents.
David weiß auch warum: „Vor Oshimas ,Merry Christmas‘-Projekt habe ich mich bei Dreharbeiten immer gelangweilt. Mit ihm war es das erste Mal möglich, ausschließlich nach groben Anhaltspunkten zu arbeiten, vom Skript abzuweichen und die Szenen selbst mitzugestalten!“
Und was hat Mr. Jagger als Leinwand-Reputation zu bieten? Seine Ausflüge aufs Celluloid sind wesentlich karger. Einmal spielte er den 19jährigen Unterweltler „Ned Kelly“, der zwischen australischer Großstadt und Aborigines-Wildnis mit Justizirrtümern und Diskriminierungen kämpft. Ein anderes Mal mimte er in „Performance“ einen Mann namens Turner, einen quengeligen Superstar, der — eingelullt in Rauschgift und seinem Dreiecksverhältnis mit zwei exotischen Schönheiten — plötzlich mit Gewalt konfrontiert wird.
„Lange Zeit konnte ich mir ‚Performance‘ nicht anschauen. Es kotzte mich regelrecht an“, resümiert Jagger heute. „Der Film war auch nicht besonders erfolgreich. Andererseits muß ich als Schauspieler wohl erfolgreich gewesen sein. Denn ich bin nicht dieses verzogene Monstrum von Turner! Aber alle Leute dachten natürlich: Jagger spielt sich selbst. Und das ist es schließlich, was Schauspielerei ausmacht: die Leute glauben machen, daß du es bist. „
Jaggers Ambitionen als Schauspieler sind völlig konträr zu denen Bowies.
Mick liebt es, gesehen zu werden, sich zu produzieren wie ein Ausstellungsstück. Plakativ, monströs, schnell.
„Theater? Kommt gar nicht in Frage. Ich würde es nie so lange an einem Ort aushalten“, bekundet er sein Desinteresse an der Bühne. Bowie hingegen konnte sich 1980 monatelang nach Chicago zurückziehen, dort jeden Abend ohne Masken oder Requisiten den verkrüppelten „Elephant Man“ darstellen —- und obendrein noch Spaß daran haben! Perfektionist Bowie will jeden Teilaspekt der Schauspielerei durchexerzieren, testete als Teenager Lindsay Kemps Pantomimenschule und zierte das Cover von HUNKY DORY mit der sarkastischen Bemerkung: „Poduced by Ken Scott, assisted bv the actor!“
Anvisiert hatte er damals allerdings schon ein gänzlich anderes Ziel: „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meine Schauspielerei überhaupt ernst nehmen will. Was ich will, ist die notwendige Erfahrung, um vielleicht später einmal als ernsthafter Regisseur anerkannt zu werden. Das zählt mehr als alles andere!“
Derartige Plane hatte er in Gegenwart von Temple wohl kaum erwähnt; eine gestellte Aufgabe nimmt nämlich auch der Schauspieler Bowie stets ernst.
„Bei Absolute Beginners‘ hat er oft unglaubliche Ideen zur Regie beigetragen“, erinnert sich Temple. „David hat nicht nur zwei Titel für den Soundtrack geschrieben, sondern beispielsweise auch die Idee geliefert, die Kulissen mit Spiegeln auszukleiden — eine Szene, die jetzt zusammen mit der Musik und Choreografie eine unglaubliche Intensität besitzt. „
„Absolute Beginners“, das britische Pendant zur „Westside Story“, ein bezauberndes Tanzmusical auf den Spuren von Romeo und Julia, ganz im Stil von damals, als Swinging Hollywood noch die Traumfabrik war und Fred Astaire sich die Seele aus dem Leib tanzte, folgt folgendem Handlungsfaden: Colin, jugendlicher Tanzathlet, verliebt sich in Suzette (gespielt von Eight Wonder-Lady Patsy Kensit). Suzette, zuckersüßer Sproß einer betuchten Familie, zieht einen älteren Galan vor. Colin befreit Suzette, die versehentlich in die Klauen diverser Jugendbanden geraten ist, Dankbarkeit. Mitleid, Finale. Tusch: Colin hat sie zurückerobert!
Ein Herr namens Vendice Partners ist der drahtziehende Manipulant in „Absolute Beginners“ — Chef einer Werbeagentur, profitgierig, kalt. Sein Opfer: Colin. Sein Ziel: dem Jungen die Tanzkarriere auszureden und ihn statt dessen als skrupellosen Assistenten für Werbefotos aufzubauen. Vendice Partners: „Mann mit dämonischer Ausstrahlung“, stand in Julien Temples Drehbuch — die Paraderolle für David.
Auf dem Set ist Bowie —- je nach Bedarf -— witziger Charmeur im Umgang mit den Kollegen, bissiger Zyniker, wenn etwas schiefläuft und beinharter Profi, wenn die Kameras erst einmal surren. „David hat ein unglaublich gutes Gedächtnis, hat ständig exakte Script-Kenntnis und arbeitet mit viel Phantasie. Wenn ich eine neue Idee hatte, haben wir sie immer zusammen zur endgültigen Szene weiterentwickelt. Mick dagegen weicht oft wie selbstverständlich vom Drehbuch-Dialog ab —- aber nur deshalb, weil er vergißt, was er vorher gelernt hat!“
Wenn Jagger auch (aus Mangel an Erfahrung und Gelegenheit) noch weit von Bowies schauspielerischer Souveränität entfernt ist —- Julien Temple meint, daß Jagger ein Filmstar werden könnte, würde er nur konsequenter arbeiten: „Mick war in Brasilien zunächst sehr nervös und übertrieb Aktionen und Sprache. Es war der verkrampfte Versuch, sein eigenes Ego zu verstecken. Schauspielen ist aber eine Kunst, die gerade durch minimale Aktion viel sagen kann.
Ich habe dann mit Mick immer wieder trainiert, wir haben in der Kantine die Leute beim Essen beobachtet und nachgeahmt, damit er ein Gefühl für natürliche Bewegungen bekommt. Gegen Ende der Dreharbeiten hatte er es dann heraus -— da war er dann wirklich gut!“
Mit „Running Out Of Luck“ ergänzt Jagger seine beiden Leinwand-Gehversuche (Die Dreharbeiten zu „Fitzcarraldo“ brach er ja bereits nach wenigen Wochen ab) erst jetzt zum Hattrick. Anstatt per Video über TV-Schirme zu flimmern, spult nur eine Filmrolle die (um fünf Songs von SHE’S THE BOSS gerankte) Story 1 auf Kinoleinwände ab. Ein Umstand, der Julien Temple nicht sonderlich euphorisch stimmt: „Im Kino ist ‚Running Out Of Luck‘ sicher nur zweitklassig. Diese Art von Story ist halt typischer Video-Stoff. „
„Diese Art von Story“ ist, wie Temple es so sehr liebt, eine Persiflage auf das Rockbusiness. Jagger spielt einen schon widerwärtig eingebildeten Rockstar („Nicht sich selbst, eher einen Rod Stewart-Typ“), der partout darauf besteht, sein neues Video in Brasilien zu drehen. Grund: Dort bieten die Girls und Groupies einen aufreizend-brillianten Service. Der Angetrauten von Mr. Superstar (tatsächlich gespielt von Jarry Hall) allerdings mag seine Koketterie mit den langbeinigen Rio-Schönheiten so gar nicht gefallen. Sie macht ihm eine Szene, er flüchtet — nicht ohne in seiner maßlosen Gier gleich drei Verehrerinnen abzuschleppen.
Mr. Superstar hat Pech. Er hat ein Transvestiten-Trio erwischt, wird vergewaltigt, in einem Kühlwagen gekidnappt und in der Wüste ausgesetzt. Noch einmal Pech: Als Landstreicher ohne einen Groschen Geld landet er bei der Zwangsarbeit: am Tag in den Feldern seiner Herrin — in der Nacht in ihrem Bett (Die Parade-Szene für den Song „She’s The Boss“). Aus einem Befreiungsversuch mit Glücksspiel resultiert auch nur ein Kerker-Urlaub. Und das ist denn schon die letzte Station von Mr. Superstars Radikalkur gegen blasierte Arroganz.
„Ich hasse die Art, wie in den meisten Videos Stars kreiert werden, von einer Aura umrahmt, die völlig unnatürlich ist“, kommentiert Autor Temple das „Running Out Of Luck“-Script. „Ich liefere mit meiner Arbeit dazu gerne die Gegen-Statements!“ Vorzüglich mit Mick Jagger und David Bowie. denn die beiden „haben nicht nur Talent, sondern auch Humor“. Und — „sie brauchen sich nicht darum zu sorgen, nächste Woche immer noch berühmt zu sein „.