Traumtänzer
Verträumte Nachmittage in Utopia versprechen uns ALPHAVILLE auf ihrem neuen Album. Unzufrieden mit dem Hier und Jetzt, glauben Bernhard, Ricky und Marian (v.l.) an die Macht der Phantasie. Mit den Füßen bleiben sie trotzdem auf dem Tanzboden. Thomas Böhm mischte sich unter die Traumtänzer.
Die Sonne brennt sich durch die Luft. Überall an den Hängen des Berliner Kreuzbergs haben sich Leute hingepflanzt, um sich durch den Nachmittag zu dösen. Ein paar Kinder und Hunde jagen den Frisbee-Scheiben nach. Irgendwo dazwischen räkeln sich mehrere Freaks und putzen ihre Sonnenbrillen. Der eine, Marian heißt er, nuckelt am Weißwein. Der andere, Ricky, bastelt den Recorder mit zwei Aktivboxen zusammen.
„Laßt uns den Berg beschallen“, ruft einer. „Und laßt uns plaudern über das neue Alphaville-Album“. ergänze ich. Marian sieht fertig aus. Urlaubsreif.
„Wir hatten keinen Rasierapparat im Studio“, erklärt er sich. „Und dann gestern nacht die Produktionsparty: das hat mir den Rest gegeben. Übermorgen geht’s nach Tunesien in den Urlaub!“
„Und ich fahr morgen nach Sardinien und leg mich mit dem Schlafsack an den Strand‘.“ freut sich Ricky. Ein gewaltiges, chorales Intro fegt die Grashalme zur Seite: „You Can Halt Your Car for An Afternoon in Utopia. We Shall Stop The Wars On Those Afternoons in Utopia.“ Eine programmatische Zeile. Richtungsweisend für die Lyriks von Marian und Schnittpunkt des neuen Konzepts von Alphaville.
Dann folgt das erste Lied „Fantastic Dreams“, sehr amerikanisch angelegt, sehr lebendig und voluminös. „Ein älterer Song. Haben wir ursprünglich für das deutsche ‚Hand für Afrika ‚-Projekt komponiert. „
„Dieser Live-Effekt rührt daher, daß wir mit einem ganzen Stall amerikanischer und englischer Musiker souverän unseren elektronisch modellierten Sound ergänzen konnten. Das waren Profis, von denen wir viel gelernt haben“, fügt Ricky hinzu.
„Pete Walsh, einer unserer Produzenten, ist unheimlich auf unsere Musik eingestiegen und hat eben die Musiker mitgebracht, mit denen er gerne zusammenarbeitet. „
Es folgt ‚Jerusalem‘, ein melancholisches, sehr atmosphärisches Lied. Über den Rand der Weinflasche sehe ich einen nachdenklichen Regenwurm vor der linken Box hinundherschwanken.
„Der einzige Song, den wir mit deutschen Musikern erarbeitet haben. Mann, wir sind so auf Amerika abgefahren; das Angebot, in einem New Yorker Studio zu produzieren, haben wir sofort angenommen!“
Und dann „Dance With Me“, klar der Hit. Flitzt ja auch schon durch die europäischen Radios. Ein Refrain, frisch, leicht und locker wie eine Brise am Strand. Alphaville verbreiten positive Power, ohne mit platten Floskeln herumzuschmieren. Die Mischung aus netter Popmusik und subtilen, assoziativen Texten zeichnet Alphaville aus.
„Wir wollen Leute anregen. Wir verstehen AFTERNOONS IN UTOPIA mit seinen Geschichten über Menschen, die immer nur auf der Suche nach undefinierbaren, von außen vorgegebenen Zielen sind, die dabei aber vor Heimweh umkommen, als Message. Wir möchten die Leute auffordern, einmal anzuhalten, sich zu orientieren, um Glücksmomente erleben zu können. „
Der Titelsong, das Hauptmotiv, fährt unter die Haut. Die Frisbee-Scheiben stoppen ihren Flug, die Käfer hören auf zu krabbeln und lauschen andächtig den Chorälen Klängen. Klassisch, menuettartig intoniert, bombastisch vokalisiert. Ein dickes Ding. Marian, du singst so schön!
„Ach, das ist doch das wenigste“, antwortet der Bescheidene. Eine Mutter schreit in diesem Moment nach ihrem Kind. „Wenn ich mit dieser Frau da eine Woche im Studio arbeiten würde, wäre das auch ’ne eine Sängerin. Jeder Mensch hat Ausdruck in der Stimme, und darauf kommt es an!“
Jetzt wird es flott. Die Boxen schreien nach „Sensations“, dem Groove im Album -— rasant, knackig und mit schwarzem Background.
„Ander Nummer sind wir fast verzweifelt. Hundertmal probiert und gar nix ist passiert. Bis einer von uns mal die Rhythmuslinie wechselte. „
Wart ihr zwischendurch frustriert?
„Doch klar, da flogen schon die Fetzen, aber wir sind alle nicht nachtragend. Jeder von uns hat die Power, im entscheidenden Moment einen Schritt zurückzugehen. Das ist ein Zeichen innerer Stärke. Keiner steht im Schallen der Kreativität des anderen. „
Was ist durch Rickys Mitarbeit anders geworden?
„Die Transzendenz in unserer Musik ist größer, außerdem hat sich, wie du ja hörst, auch der konzeptionelle Rahmen erweitert. Und die Rollen sind anders verteilt: Früher fungierte Bernd als Koordinator zwischen Frank und mir. Jetzt gleicht Rickv zwischen dem Pragmatiker und Theoretiker aus.“
Die Cassette wird gedreht. Es beginnt mit einer sphärischen, science-fictionartigen Messe. Dann schwimmt ein wunderbar weiches Bläsersolo über den Rasen. Zart klingt auf „Voyager“ ein gewisser Bryan Ferry durch.
In „Carol Masters“ besingt Marian das Schicksal einer Eingesperrten, die per Gedankenkraft zum Mars fliegt.
„Das hört sich vielleicht alles ziemlich banal im. Aber für mich sind die Dinge in ihrem Ursprung nie trivial. Sie verkommen erst durch zu häufigem Mißbrauch“, erläutert der Texter.
Dann „Universal Daddy“, die zweite große Pop-Tanz-Nummer. Und dann kommt Lassie nach Hause. Und Elisabeth Taylor weint vor Freude. Alphaville haben die Szene neu vertont, romantisch, eindringlich rühric. die Akustikgitarre treibt mit den Keyboardströmen durch das weite Land.
„Alle Linien auf dem Alben überschneiden sich in diesem Lied, sozusagen der letzte Stein im Mosaik. „
Zum Schluß erzählt ein gewisser A. Einstein die Geschichte einer Frau, die schneller als das Licht reist. Und alles ist mal wieder relativ. Eben nur eine Pop-Scheibe, mehr nicht?
„Wir werden sicherlich politisch nichts verändern, auch wenn wir AFTERNOONS IN UTOPIA als Pamphlet gegen die ganze Scheiße hier verstehen. Aber wir können gewisse Stimmungen in die Wohn- und Kinderzimmer transportieren. So wie es der Grönemeyer und Sting auch geschafft haben. „
Politik nur noch auf Umwegen?
„Sicher, Sachen wie Live-Aid z.B. sind die beste Möglichkeit für Künstler, etwas unmittelbar zu bewirken. Und wir haben alles dafür getan, daß unser erstes Album in Südafrika Platin erreicht. Die gesamten Einnahmen spendeten wir anschließend dem Anti-Apartheits-Fond.
Das mußt du aber nicht an die große Glocke hängen. Das hört sich immer so imagemäßtig an!“