Gary Moore: Vorwärts zur Tradition
Da kommt selbst die alte Fransenjacke wieder zu Ehren. Denn auch musikalisch zieht's den irischen Saiten-Gott wieder zu etwas traditionelleren Ufern. Warum das für ihn ein Fortschritt ist, verriet er Philipp Roser in London
London Mitte Januar – Chaos herrscht auf den Straßen, die Underground fährt nur mit beträchtlicher Verspätung, die Züge von und nach London verkehren kaum noch. „Ihr drüben in Deutschland seid auf solche Zustände vorbereitet, während dieses verrückte Wetter für uns hier absolut ungewohnt ist“, lautet der achselzuckende Kommentar Gary Moores zur Begrüßung.
Die paar Schneeflocken, die England lähmen, haben auch seine Aktivitäten mehr oder weniger sabotiert. Das neue Album WILD FRONTIER ist zwar im Kasten, die Preßwerke sind angelaufen – aber der Zeitdruck nimmt zu. Eine weltweite Tournee steht ins Haus, aber die Live-Band steht nicht. Der Drummer fehlt nach Gary Fergusons Abschied immer noch, während Neil Carter an Keyboards und Rhythmusgitarre – „der absolute Rekordhalter in meiner Band, er ist schon länger als zwei Wochen dabei!“ – sowie Baßmann Bob Daisley ihre Plätze beibehalten haben.
Die englische Post dürfte in dieser zweiten Januarwoche ein Riesengeschäft gemacht haben angesichts der zahllosen Telefonate, die in dieser Zeit erforderlich wurden. Die Auditions, durch die Moore seinen neuen Schlagzeuger zu finden hoffte, wurden verschoben, abgesagt, neu angesetzt, wieder verschoben ….. Dabei steht und fällt das neue Live-Programm zumindest bei den neuen Songs, mit den Qualitäten des Drummers. Denn die meisten dieser Stücke habe ich um das Schlagzeug-Arrangement herum geschrieben, Ich habe im letzten Jahr gelernt, Drumcomputer zu programmieren – das war das erste, was ich diesmal beim Songwriting gemacht habe! All diese Details, die bei den neuen Songs in der Schlagzeugarbeit stecken, muß der betreffende Mann bringen, sonst müssen wir die Songs umarrangieren!“
Und Moore will so viele neue Nummern live bringen, wie nur möglich:
„Ich will mich nicht allein auf die alten Hits verlassen, weil das keine Herausforderung wäre!“
Zurück zu seinen Wurzeln ist der Irische Gitarrist bei seiner musikalischen Weiterentwicklung gegangen. „Im letzten Jahr war ich länger wieder in meiner Heimat, und da habe ich festgestellt, wie sehr mich auf einmal wieder die traditionelle irische Musik packte.“
Deren Einflüsse sind auf WILD FRONTIER nicht zu überhören, wie auch der Versuch, den mit RUN FOR COVER einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. „Etwas weiter weg vom Heavy Metal, denn die meisten Heavy-Bands, die ich in letzter Zeit gehört habe, haben mich schlicht gelangweilt. Da gibt’s kaum musikalische Weiterentwicklung.“
Und so kam’s zu einer Mischung aus traditionellem Hard Rock, Heavy-Elementen, irisch-keltischen Einflüssen und dezenten Mainstream-Beigaben, wobei das melodische Moment bei aller ungestümer Energie nie zu kurz kommt.
„Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei, wie ich meine, der Gesang. Mir ist klar geworden, daß ich nicht so hoch singen kann, wie ich lange geglaubt hatte. Also habe ich die Gesangslinien tiefer geschrieben, wodurch das Ganze voller klingt.“
Als Gitarrenhero wird der eigenwillige Ire mittlerweile von einer ganzen Generation von Nachwuchs-Saitenschwingern verehrt – „hoffentlich übe ich da einen positiven Einfluß aus!“ -, seine bei aller Geschwindigkeit stets emotional geladenen Filigrankünste auf den sechs Saiten werden auch diesmal gebührend gefeatured, und dennoch ist sein Gitarrenspiel auf WILD FRONTIER längst nicht so dominant wie auf früheren Alben.
„Für dieses Album mag dieser Eindruck zutreffen, und bei Songs wie ‚Over The Hills And Far Away‘ oder ‚Friday On My Mind‘ sind viele Keyboards zu hören, weil es sich einfach gut machte. Und ich bin sehr froh, daß ich mit Neil Carter jemand in meiner Band habe, der einerseits Keyboards spielen kann, wenn es erforderlich ist, andererseits aber auch ein hervorragender Gitarrist ist. Doch keine Angst, wenn’s auf die Bühne geht, wird die Gitarre wieder vorne sein. Und wer weiß, vielleicht wird meine nächste LP wieder ein all-guitar-Album werden!“
In der Vergangenheit glich Moores musikalischer Werdegang oft einem Zickzack-Kurs. Da wechselte der Gitarrist zwischen Folk pur (als Gast bei Dr. Strangely Strange), melodischem Heavy Rock bei Thin Lizzy, Jazz Fusion-Rock bei Colosseum II bis hin zu klassisch Angehauchtem bei Andrew Lloyd Webbers „Variations“. Auch bei der Realisierung seiner Soloprojekte bediente er sich unterschiedlichster Formationen (Gary Moore Band, G-Force) und Formen bis hin zu eher mainstreamig Gestyltem bei G-Force, ehe er seinen eigenen Weg fand, den er mittlerweile konsequent verfolgt — bis eben zu WILD FRONTIER. Da mußte sogar Pete Smith dran glauben, der Stings DREAM OF THE BLUE TURTLE mitproduziert hatte und in eben dieser Funktion die ersten vier Songs von WILD FRONTIER betreute.
„Nachdem ich die restlichen Songs mit Peter Collins und Jimbo Burton als Produzenten bzw. Coproduzenten gemacht hatte, ließ ich Jimbo diese vier Stücke nochmals neu abmischen, weil ich einen durchgängigen Album-Sound haben wollte. Ich wollte vermeiden, daß derselbe Eindruck entsteht wie bei RUN FOR COVER, wo es so klang, als ob jeder Song einen anderen Produzenten gehabt hätte!“
Sollte er es nun auch noch schaffen, eine kompetente Band zusammenzutrommeln, steht der angekündigten Tournee (Start in Deutschland) eigentlich nichts mehr im Wege. Angesichts eingeschneiter Musiker und unpassierbarer Straßen im winterlichen England aber ist das leichter gesagt als getan.