Wie uns die Alten sungen


Im ersten Teil der Soul-Story grub Norbert Hess nach den Wurzeln der aktuellen schwarzen Musik. Er stieß auf Blues, K&B und Gospel, die sich in den 50er Jahren langsam, aber sicher näherkamen. Die 60er verstärkten diesen lYend — Pioniere wie Kay Charles schreckten nichlmal davor zurück, erz-weiße Country-Songs zu spielen. Gleichzeitig war draußen auf den Straßen die Hölle los: Wenn die Argumente ausgingen, wurde geschossen. Auf Kennedy. Und auf Martin Luther King.

Müßte man das Datum für den Beginn der Soul-Ära festlegen, so würde sich der 19. Januar 1955 anbieten — jener Tag. als Ray Charles‘ ,.lc Got A Woman“ in der Billboard Rhythm & Blues Hitparade auftauchte und bis auf Platz 2 kletterte. „Ls war die perfekte Vereinigung all jener Elemente, deren Verbindung ihm bis dahin nicht gelungen war“, schrieb Peter Guralnick im Rolling Stone. „Mit seinem vollkehligen Krächzen, plötzlichen Durchbrüchen, schrillen hdsettschreien und einer wilden Unbändigkeil löste sich Charles total von der gefälligen, sinsamen Musik, die er in der Vergungenheil gemacht hatte.“ Guralnick spricht von der „Herausbildung einer völlig neuen Zeil für die schwarze Musik.“

Rhythm & Blues und Soul war. wie jede kulturelle Form (Musik. Literatur. Film und Malerei), ein Ausdruck von ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt. Aus diesem Grunde halte ich jenen I. Dezember 1955 für ein wichtiges Datum in der Geschichte der Soulmusik, als die 43jährige Näherin Rosa Parks in Montgomery Alabama sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizumachen. Bis dahin mußten Schwarze hinten im Bus sitzen, getrennte Toiletten benutzen, aus getrennten Wasserhähnen trinken, durften nicht in“.weißen“ Restaurants essen. Dieses auf den ersten Blick unscheinbare trotzige Verhalten von Mrs. Parks löste einen einjährigen Busboykott aus, der weltweit für Schlagzeilen sorgte und in dem sich der 1929 geborene Baptistenpfarrer Dr. Martin Luther King profilierte.

Nun gab es natürlich schon Proteste und lokale Aufstünde, seit die ersten Sklaven importiert worden waren, aber erst in den 50er Jahren wurde daraus eine Massenbewegung. Zum einen erkannten die Schwarzen, daß sie im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg zwar für ihr „Vaterland“ kämpfen durften, sich für sie seihst aber nichts änderte.

Zum anderen gab es jetzt auch Medien, die eine überregionale Verbreitung ihrer Proteste und ihrer Kultur ermöglichten. Durch schwarze Zeitungen wie „Ebony“ und „Defender“ (beide Chicago).“.Sentinel“ (Los Angeles) oder die“.Amsterdam News“ (New York) konnten Literaten und Politiker Geschehnisse aus den schwarzen Ghettos auch in ländliche Gegenden verbreiten. Der in Memphis operierende Rundfunksender WD1A war zwar in weißem Besitz, das Programm wurde aber von Schwarzen gemacht.

Ende der 40er Jahre war B. B. King dort Discjockey mit einer eigenen Show, die dann Rufus Thomas übernahm. Ihre Sendungen waren zwar unpolitisch, aber in den Nachrichten konnte natürlich ein Ereignis wie der Busboykott genausowenig totgeschwiegen werden wie der Einsatz der Nationalgarde in Little Rock (Arkansas). Die Staatspolizei mußte dort 1957 die ersten neun zugelassenen schwarzen Studenten vor ihren weißen Kommilitonen schützen. Anfang des Jahres 1957 formierte sich die“.Southern Christian Leadership Conference“ in New Orleans und wählte Martin Luther King zu ihrem Vorsitzenden. Die Bürgerrechtsbewegung, zu der auch viele progressive Weiße gehörten, wurde ein unüberhörbarer Faktor in einer amerikanischen Gesellschaft, gegen deren Werte auch die weiße Jugend mit ihren Idolen Elvis Presley und James Dean protestierte. Martin Luther King propagierte am 23. Juni 1963 in Detroit den „gewaltlosen Widerstand“: „Wenn ein Mann nichts gefunden hat, wofür er sterben wurde, dann hat er auch nichts, wofür er lebt.“

Präsident John F. Kennedys Gesetzeserlaß von 1962 zur Abschaffung von Benachteiligung Schwarzer bei Wohnbauprojekten und Vermietern wurde von den farbigen Minderheiten mit Wohlwollen aufgenommen, von den Baufirmen und Maklern aber umgangen. Trotzdem glaubten die Schwarzen, in Kennedy erstmals einen Präsidenten zu haben, der sich wenigstens teilweise für sie einsetzte.

Die Ermordung Kennedys am 22. November 1963 war ein Schock. Rassenunruhen überall, die „Nation des Islam“ unter Leitung von Elijah Muhammad verbreitete die Doktrin der „schwarzen Überlegenheit“. Malcolm X. einer der Wortführer, trennte sich von dieser Doktrin und wurde 1965 von drei Schwarzen erschossen. Stokely Carmichael, einer der Führer des „Student Nonviolent Coordinating Commitee“. schuf zur gleichen Zeit den Begriff „Black Power“.

Musik im Zeichen der „Black Power“

Einige Schwarze fingen an. atrikanische Kleider zu tragen und gaben sich moslemische Namen: Aus Art Blakey wurde Abdullah Ihn Buhaina, Joe Tex nannte sich Yusuf Hassiez. Cassius Clay hieß seit dem 28. Februar 1964 Muhammed Ali. Alle entglätteten ihre Haare, der Afro Look war angesagt.

Muhammed Ali verweigerte am 28. April 1967 den Kriegsdienst und wurde am 25. Juli 1967 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Am 15. Oktober 1966 gründeten in Oakland (Kalifornien) Bobby Seale und Huey P. Newton die „Black Panther Party For Seif Defense“. Im August 1965 brannte Watts, das Ghetto im Süden von Los Angeles: 34 Tote. Der R&B-Musiker Johnny Otis, der als einziger Weißer dort frei herumlaufen konnte, schrieb in seinem Buch „Listen To The Lambs“ gar von einem „Holocaust“. In Newark (New Jersey) formierte sich am 20. Juli 1967 die „National Conference On Black Power“ nur vier Tage nach einem Massaker, bei dem über zwei Dutzend schwarze Tote auf den Straßen liegen blieben.

Der tödliche Schuß vom 4. April 1968 auf Martin Luther King in Memphis hatte in fast allen Städten die schwersten Krawalle zur Folge: mindestens 46 Tote. Und während sich der Ku Klux Klan wieder aktivierte und weiße Rassisten auf Hakenkreuz-Transparenten fragten: „Who needs Niggers?“, benutzten die Olympiasieger im 200-m-Lauf, Tommie Smith und John Carlos, am IX. Oktober 1968 in Mexico City die Siegerehrung mit gehallten Fäusten zu einer eindrucksvollen Demonstration.

Schwarze Komiker stellten sich nicht mehr länger als Dauertölpel hin. Richard Pryor zog mit spitzer Zunge über das weiße Establishment her und Dick Gregory bewarb sich 1968 als unabhängiger Kandidat um das Präsidentschaftsamt. Schriftsteller wie James Baldwin und Lcroi Jones (Imamu Amiri Baraka) wurden mehr denn je gelesen. Filme mit Schwarzen zeigten diese nicht mehr als tumbe Köchinnen. Fahrstuhlführer oder Schuhputzer, sondern als gleichwertige Menschen.

In diesem Klima der Mitt-6l)er änderten auch einige Rhythm & Bluesund Soul-Sänger ihr Vokabular. Natürlich hatten Blues-Leute gelegentlich aktuelle politische Themen aufgegriffen, aber es blieben unausgegorene Versuche — Blues-Sänger waren eben keine hochschulgebildeten Intellektuellen. Wer über Korea und Kuba sang, kritisierte nicht die Geschehnisse dort, sondern bejammerte das ganz persönliche Schicksal, von seinem „Baby“ getrennt zu sein.

„Respect“ wird zum politischen Schlagwort

Die Ermordung Kennedys wurde voller Wut und Enttäuschung von Dutzenden Bluessängern in Liedern kommentiert. Bei den R&B- und Soul-Sängern aber kamen die kritischen und fordernden Texte erst 1965. Wenn Otis Redding „Respect“ verlangt, dann war das Achtung für sich, also eigentlich nur ein Song über zwischenmenschliche Verhältnisse. Und doch wurde“.Respect“ von den immer selbstbewußter werdenden Schwarzen als politisches Schlagwort gedeutet.

Andere „Lieder mit Botschaft“ (message songs) waren 1965 „A Change ls Gonna Come“ von Sam Cooke, „Together We Stand“ von Joe Tex. Curtis Mayfields Komposition „People Get Ready“ und der Nr.-1 -Hit „We’re Gonna Make It“ von Little Milton. Im Jahr darauf forderte James Brown erstmals Engagement in „Don’t Be A Drop Out“. 1968 hatte Nickie Lee mit „Black Is Beautiful“ nur einen Mini-Hit, während „We’re A Winner“ von den Impressions (aus der Feder von Curtis Mavfield) und „Sav 1t Loud — rm Black And Tm Proud“ von James Brown beide auf Platz 1 der R&B-Charts stiegen.

Nun wurde in vielen Artikeln über Soul-Musik oft behauptet, daß Soul eigentlich nichts anderes sei als rassebewußte Politsongs oder „verbale Sexorgien“. Beides trifft nicht zu. Denn bis auf ein paar wenige Lieder wie etwa den „Vietnam Blues“ von Junior Wells artikulierten die schwarzen Musiker kaum handfeste Agitation.

„Die Bedeutung von Soul ging über (Ins rein Musikalische hinaus: Soul war das Medium eines breiten, aktiven Bemißiseimwiimlels“, schrieb der weiße Jazzpianist Ben Sidran in dem Buch „Black Talk“. „Zu Zeilen politischer Krisen besitzt Aufrichtigkeit eine hohe Anziehungskraft. Fragt man. wie und warum schwätze Musik zu einem wesentlichen Faktor für radikale weiße Amerikaner wurde, muß man den Aspekt des Lustgcwinns in ihr berücksichtigen. Ray Charles‘ .What’d I Stay‘ f/959) enthielt Passagen von sexueller Eindeutigkeit, ohne obszön zu sein. Die Stärke lag in der Natürlichkeil, die mit der Triebunterdrückung der puritanischen Ethik brach.“

Diese lange Einleitung war notwendig, um die Ära der 60er Jahre verständlich zu machen, in der die Soul-Musik ihre Blütezeit erleben sollte. Überall tauchten kleine Plattenfirmen auf, die dieses neue Lebensgefühl auf Platte festhielten: Motown in Detroit, Okeh. Vee-Jav und Chess in Chicago.

Hi in Memphis. Duke/Peacock in Houston, Minit in New Orleans und Hunderte anderer Indie-Labels.

Zwei Firmen aber hatten für kurze Zeit das Monopol auf die Form der Soul-Musik, den sogenannten „Southern Soul“ jener Sänger/innen, die aus den Südstaaten, hauptsächlich aus Georgia, Alabama, den Carolinas und Tennessee, kamen: Atlantic in New York und Stax in Memphis.

Die Firma Atlantic leistet Pionierarbeit

Ahmet Erteeun. Sohn des türkischen Botschafters, lieh sich 1(1000 Dollar und gründete 1947 zusammen mit dem studierten Zahnarzt Herb Abramson die Plattenfirma Atlantic, um ihrem Hobby nachzugehen: Jazzplatten nicht nur zu sammeln, sondern selbst zu produzieren. Bald schon erkannten sie. daß Blues und R&B mehr gefragt war. und im Frühjahr 1949 gelang ihnen mit“.Drinkin‘ Wine. Spo-Dee-O-Dee“ von Stick McGhee ein Hit, der auf Platz 3 der Billboard „Top 15 Best Selling Race Records“ kam. Mit dem Profit bauten Ertegun und Abramson ihr eigenes nationales Vertriebssystem auf und konnten fortan mit den etablierten „Majors“ (Columbia. RCA, Decca) konkurrieren. Anfang der 50er Jahre war Atlantic bereits das führende Rhythm & Blues-Label mit Ruth Brown („Teardrops From Mv Eves“, „Mama, He Treats

Your Daughter Mean“). Big Joe Turner („Chains Of Love“. „Shake, Raule & Roll“) und den Clovers („One Mint Julep“. „Lovey Dovey“).

1953 wurde Abramson zum Militär eingezogen und Jerry Wexler kam als Produzent zu Atlantic. In diesem Jahr übernahm Atlantic von der Pleite-Firma Swing Time den Vertrag für den blinden Pianisten Ray Charles Robinson. „Ray Charles war ein gewaltiger Jazz-Pianist“, erinnert sich Jerry Wexler, „er kam zu uns bereits mit einer Fusion aus Jazz und R&Ii Es gab da keine Trennung, denn eigentlich war alles dieselbe Musik. „

Nach einigen kleineren Hits hatte Charles 1955 mit J’ve Got A Woman“ seinen Durchbruch, bis Mitte 1%() folgten die Epoche-machenden Stücke „Drown In My Own Tears“.“.Lonely Avenue“, und“.What’d 1 Say“. Nicht einmal ein Jahr nach diesem einflußreichen Meisterwerk verließ Charles Atlantic, wechselte zu der Firma ABC-Paramount und schockierte sein Publikum ausgerechnet mit Modern Sounds In Country And Western Music- aber „Unchain My Heart“ und „I Can’t Stop Loving You“ erreichten auch in den schwarzen R&B-Charts Platz 1! Ray Charles hatte also nicht nur die angeblichen Gegensätze von kirchlichem Gospel und weltlich-profanem Blues fusioniert, sondern auch noch die angeblich so konservative Country-Music geschmackssicher integriert.

Solomon Burke schaffte seinen Durchbruch mit seiner ersten Atlantic-Veröffentlichung — dem Country-Song Just Out Of Reach“. Burke war in den frühen 60er Jahren neben den Drifters und Ben E. King der bestverkaufte Sänger für Atlantic mit Xry To Me“. „If You Need Me“. „Evervbody Needs Somehodv To Love“.“.Got To Get You Oft My Mind“ und „Tonights The Night“. Er wurde der „King Of Rock ’n‘ Soul“ genannt, lange bevor sich der Begriff Rock etablierte.

Der schon damals schwergewichtige Burke kam mit Königsrobe und Krone auf die Bühne — und die Anekdote, wie James Brown ihn l%5 in Chicago für 10(100 Dollar für seine Show- engagierte, damit Burke seine Krone öffentlich auf der Bühne an Brown übergibt, gehört sicher zu den amüsantesten in der Soul-Geschichte. Erst vor gut einem Jahr rückte Burke. ein Cousin von Screamin‘ Jay Hawkins. mit Sam Cookes „A Change Is Gonna Come“ wieder ins Bewußtsein des Publikums.

Einige der anderen Stars auf Atlantic: Clyde McPhatter. von 1950 bis ’52 Leadsänger bei Billy Ward & The Dominoes auf Federal Records und ab 1953 als Gründer der Drifters hei Atlantic, hatte mit „Money Honey“ und „Honey Love“ 1954 zwei Nr.-1-Hits. Nach seiner Militärzeit startete McPhatter eine erfolgreiche Solokarriere mit „Seven Days“. „Treasure Of Love“ und „A Lover’s Question“, bevor er zu MGM und dann Mercury wechselte. 1972 erlag er -Mljährig einem Herzinfarkt.

Chuck Willis aus Atlanta hatte bereits 1952 für Okeh mit „My Story“ einen Hit abgeliefert, als er 1956 zu Atlantic wechselte. Er schrieb einige tolle Songs, hatte seinen größten Erfolg aber mit einer Neuauflage des alten Ma Rainey Blues „C. C. Rider“, der dann von Elvis. Charlie Rieh und Jerry Lee Lewis kopiert wurde. 1958 starb der einflußreiche Sänger an einem Magengeschwür — er war nur 30 Jahre alt.

LaVern Baker war neben Ruth Brown der zweite weibliche Kassenschlager für Atlantic, als sie von 1955—65 über ein Dutzend Hits ablieferte. Unvergessen bleiben“.Tweedlee Dee“ und“.I Cried A Tear“.

Das Gesangstuartett The Coasters dürfte zwar eher bei Rock ’n‘ Roll als Soul einsortiert werden, aber mit „Searchin'“. „Yakety Yak“, „Charlie Brown“ und „Poison lvy“ gehörten sie in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu den umsatzstärksten Künstlern für Atco. ein Atlantrc-Sublabel.

Der Produzent rückt in den Vordergrund

Das Bemerkenswerte war der geniale Humor der Songs, die das weiße Team Jerry Leiber & Mike Stoller für die Gruppe maßschneiderte. Leiber & Stoller waren die ersten von Atlantic angeheuerten unabhängigen Produzenten, aus deren Feder Songs wie „Hound Dog“, „I’m A Woman“. Jailhouse Rock“ und“.Kansas City“ stammten und die in den 60er Jahren für Atlantic einige der größten Hits ablieferten:“.On Broadway“ und ,.Ruby Baby“ für die Drifters. „Stand By Me“, „Spanish Harlem“ und „I (Who Have Nothing)“ für Ben E. King. „Love Potion No. 9“ für die Clovers. „Saved“ für LaVern Baker sowie „Is That All There Is?“ für Leslie Uggams.

Ahmet, sein Bruder Nesuhi Ertegun und Jerry Wexler nahmen nach den ersten Erfolgen von Leiber & Stoller weitere Produzenten unter Vertrag: Bert Berns, Joel Dorn, einen jungen Phil Spector, Arif Mardin. ihren bisherigen Toningenieur Tom Dowd und den Saxophonisten King Curtis. der als“.Hausmusiker“ unzählige Platten eine individuelle Note verlieh und selbst 1967 mit „Memphis Soul Stew“ einen Top-10-Hit landen konnte.

Memphis liegt am ..01′ Man River“ Mississippi in dem Staatendreieck Tenncssee, Mississippi und Arkansas und nimmt für sich gerne in Anspruch, „Home of the Blues“ zu sein.

Der Rundfunksender WDIA war zwar in weißem Besitz, wurde in den Nachkriegsjahren aber ausschließlich von Schwarzen betrieben. Die „Mother Station of the Negroes“ diente als Aufnahmestudio für verschiedene Indie-Labels. In Memphis war Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre viel los: Sam Phillips gründete Sun Records und machte Platten mit Rosco Gordon, RufusThomasjunior Parker und Little Milton. bevor er am 19. Juli 1954 „That’s All Right Mama“ von Elvis Presley veröffentlichte — der Rest ist Geschichte. B. B. King war Discjockey bei WDIA. bis Anfang 1952 sein 3 O’Clock Blues“ in die~R&B-Charts kam und Rutus Thomas seinen Posten übernahm.

Auf der Landkarte der schwarzen Musik wäre Memphis wahrscheinlich nicht mehr beachtet worden, hätte nicht im Sommer 1959 Rufus Thomas seine 17jährige Tochter in den Satellite-Plattenladen geschleppt, um für das gleichnamige Label eine Platte aufnehmen zu lassen. Das Duett .,’cause I Love You“ von Rufus & Carla Thomas verkaufte sich in Memphis l5000mal und weckte genug Interesse bei Atlantic Records, um den nationalen Vertrieb zu übernehmen.

Jim Stewart. Eigentümer von Satellite. produzierte 1957 ein paar obskure Rockabilly-Singles und eröffnete zusammen mit seiner Schwester Estelle Axton in einem leerstehenden Kino ein Tonstudio und zum Geldverdienen einen Plattenladen. Da es bereits eine Firma Satellite gab. mußten Stewart und Axton ihre neue Firma umbenennen. Sie nahmen die ersten beiden Buchstaben ihrer Namen: Stax.

Der nächste Goldsegen kam. als Atlantic einen Vorschuß von eintausend Dollar für die Übernahme von Carla Thomas‘ Solosingle „Gee Whiz“ (1961) an Stax zahlte und somit eine mehrjährige fruchtbare Zusammenarbeit installierte. Bis 1969 konnte Carla noch etliche Hits für Atlantic und Stax abliefern, am bekanntesten wurde“.Baby“. Ihrem Vater Rufus Thomas 1963 ein Volltreffer mit „Walking The Dog“.

Noch 1961 konnte Satellite.’Stax mit „Last Night“ einen Hit auf Platz 2 verbuchen. Die Mar-Keys waren ein weißes (!) Septett mit Wayne Jackson (später Memphis Horns), Duck Dünn und Stever Cropper (beide ah 1962 bei Booker T. & The MGs) und Don Nix. Es war auch der Organist Booker T. Jones mit seinem gemischtrassigen Quartett, der 1962 mit „Green Onions“ der Firma Stax ihren ersten Nr.-1-Hit bescherte.

Otis Redding prägt die klassische Soulballade

Eher zufallig kam der 20jährige Otis Redding zu seiner ersten Platte bei Volt, einem Unterlabel von Stax: Als der Gitarrist Johnny Jenkins im Oktober 1962 nichts Brauchbares aufs Band brachte, ließ Jim Stewart widerwillig Otis Redding die letzten Minuten der Studiozeit singen. „These Arms Of Mine“ war zwar nur eine Woche in den Charts auf Platz 20. markierte aber bereits den“.klassischen“ Soulsound der mittsechziger Jahre.

In den nächsten vier Jahren wurde Otis Redding zum Soul-Sänger schlechthin, wenngleich er nie die Quantität der Chartpositionen von James Brown erreichte. Er verlangte „Respect“ von seiner Liebschaft — und diese Forderung wurde synonym für die Wünsche der schwarzen Minderheit an die weiße Mehrheit. 1966 coverte er „Satisfaetion“ von den Rolling Stones. er gründete (wie Sam Cooke) seine eigene Produktions- und Plattenfirma, bis seine Karriere am 10. Dezember 1967 ein abruptes Ende fand. als er mit seinem eigenen Flugzeug abstürzte. „(Sittin‘ On) The Dock Of The Bay“ wurde posthum zu Reddings erstem und einzigem Nr.-1-Hit in den R&B- und Pop-Charts — galt für viele aber auch als der Ausklang der Soul-Musik, als das Finale eine Ära. die nur vier Monate später mit der Ermorduni: von Martin Luther King endgültig ein — zumindest vorläufiges — Ende fand.

Weitere Sehlüssclfiguren bei Stax/ Volt: William Bell als Komponist und Sänger — letzteres auf höchstem Niveau, wenngleich auch ohne sensationelle Notierungen in den Hitparaden.

..Hold On. l’m Coming“, hieß die Parole von Sam & Dave, als sie im Frühjahr 1966 die Charts stürmten und nach Otis Redding die bestverkauften Stax-Künstler wurden. Mit „When Something’s Wrong With My Baby“ und „Soul Man“ stand das Duo ganz oben, 197(1 trennten sie sich.

„Knock On Wood“ war einer der großen Schlager 1966. Eddie Flovd war in Detroit ein Mitglied der Gesangsgruppe The Falcons gewesen, zu der auch Wilson Pickett gehörte, und kam zu Stax als Songwriter.

Im Mai 1968 — der Vertriebsvertrag mit Atlantic war ausgelaufen — verkauften Jim Stewart und Estelle Axton Stax an den Filmkonzern Paramount. eine Unterfirma von Gulf + Western. Atlantic riß sich die Mastertapes von Otis Redding und Sam & Dave unter den Nagel. Stax hatte weiterhin Hits mit William Bell. Jonnie Taylor, Eddie Floyd. Carla und Rufus Thomas, den Staple Singers. Albert Kins. Booker T. & The MGs und vor allem Isaac Hayes. einem ihrer Hit-Autoren.

Die ganzen 6(ler Jahre hindurch konkurrierte noch eine Firma mit dem Southern-Soui-Sound mit Stax und Atlantic: Farne in Musde Shoals. einem kleinen Kaff im Nordwesten von Alabama. 1959 bauten die weißen Songschreiber Rick Hall und Billy Sherrill ihr Studio auf. Auch die Hausband, die sich Anfang der 60er Jahre bildete, war weiß: Jimmy Johnson an der Gitarre, der Schlagzeuger Roger Hawkins. Junior Löwe am Baß und Spooner Oldham an den Keyboards.

Ebenfalls in Musde Shoals entstand das Quinvy Studio, wo Ende 1965 Jimmy Hughes‘ Cousin Percy Sledge gleich mit seiner ersten Session die Southern-Soul-Ballade schlechthin aufnahm: „When A Man Loves A Woman“. die im Frühjahr ’66 auf Platz 1 schnellte und zu einem Millionenhit für Atlantic wurde. Jerry Wexler war beeindruckt, und da er gerade im Clinch mit Stax lag, schickte er Wilson Pickett nach Muscle Shoals. Von dem ersten Studiotermin stammte „Land Of 1000 Dances“. Picketts dritter Nr.-L -Hit für Atlantik.

Atlantic Records verbuchte mit Esther Phillips, die bereits 1950 mit Johnny Otis fünf Top-10-Hits hatte, 1965 und ’66 zwei kleinere Erfolge: „And 1 Love Hirn“ und „When A Woman Loves A Man“ waren zwei Antwortlieder auf Songs von den Beatles bzw. Percy Sledge. ihr Trip nach Muscle Shoals im Frühjahr ’67 brachte nur eine einzige Single ohne Publikumsresonanz.

Nur drei Monate zuvor hatte Atlantic zwei andere Künstler nach Muscle

Shoals geschickt. Inncrhalh einer Woche entstanden dort“.Sweet Soul Music“ vcin Arthur Conley und Aretha Franklins Durehliruch mit „I Never Loved A Man (The Wav I Love Youf.

Rassenintegration im Aufnahme-Studio

Aretha Franklin wurde 1942 in Memphis geboren, wuchs in Detroit auf und sang in der Kirche ihres Vaters Reverend C. L. Franklin. Von 1960 an nahm sie für Columbia CBS eine Reihe von Blues-, Gospel- und Jazzplatten auf. aber trotz des erfahrenen Produzenten John Hammond gelangten nur zwei Songs in die R&B-Top-Ten. Ende l%fi gelang es Jerry Wexler. sie für Atlantic unter Vertrau zu nehmen, und er schickte sie mit King Curtis zu Rick Halls Farne Studio in Muscle Shoals. Der erste Song ..1 Never Loved A Man (The Way I Love You)“ (mit einer weißen Rhythmusgruppc!) schoß auf Platz 1 der Charts. Wexlers Rezept hieß: „Wir bringen Aretha wieder zurück in die Kirche“ und bescherte ihr und Atlantic bis 1971 noch weitere zehn Nr.-1-Hits. Danach waren die Hits dünn gesät.

Ihre Rolle als Imbiß-Besitzerin in dem Film“.Blues Brothers“ machte sie und James Brown einem neuen Publikum bekannt. Charts-Erfolge hatte sie aber erst 1986 mit „Freeway Of Love“.

Don Covay wuchs in Washington auf und schloß sich der Gesangsgruppe The Rainhows an. zu der Billy Stewart und Marvin Gaye gehörten. Little Richard produzierte mit Covay 1957 eine Single, die auf Atlantic unter dem Pseudonym „Pretty Boy“ erschien. Covay wechselte von Indie zu lndie. dann übernahm Atlantic seinen Vertrag und schickte ihn im Juni 1965 ins Stax-Studio nach Memphis, wo ihm mit „See-Saw“ sein größter Hit gelang.

Joe Tex stammt aus Texas, begann 1955 seine Plattenkarriere mit Novelty-Songs und Imitationen anderer Sänger und nahm I960 die erste eigenständige Single auf: „All I Could Do Is Cry“. Diese im Predigerstil vorgetragene Ballade auf Anna (einem Label von Gwen Gordy, der Schwester von Motowns Bern Gordy) gilt als erste Rap-Platte. Der internationale Ruhm kam. als Buddy Killen, ein Country-Songverleger in Nashville. extra für Tex das Label Dial ins Leben rief und mit der ersten Single „Hold What You’ve Got“ Anfang 1965 einen Hit auf Platz 2 plazieren konnte. Am Freitag, dem 13. August 1982, erlag der 49jährige Joe Tex einem Herzinfarkt.

„Music Ain’t Got No Colour“. einer von Tex‘ späteren Hits, liefert ein weiteres Stichwort. Der sogenannte „Memphis Sound“ gilt als der schwärzeste der Soul-Ära der 60er Jahre. Nur — kurioserweise lieferten den Sound hauptsächlich Weiße: Die Rhythmusgruppe Booker T. & The MGs war zu 51 Prozent weiß, der Bläsersatz der Mar-Keys ganz weiß, die späteren Memphis Horns gemischtrassig. Die Haushand von Rick Halls Farne Studio in Muscle Shoals war ebenfalls fast ausschließlich weiß, genauso wie die des sich etablierenden Labels Malaco in Jackson (Mississippi), das heute als einziges den Southern Soul noch in Handarbeit herstellt. Von den Plattencovern blicken uns nur schwarze Sänger/innen entgegen — und deswegen erliegen wir leicht dem Trugschluß, daß Soul eine ausschließlich schwarze Ausdrueksform ist. Peter Guralnick ist der erste, der in seinem Buch „Sweet Soul Music“ dieses Phänomen ins Bewußtsein rückt. Viele der beteiligten Musiker praktizierten im Studio Rassenintegration, während in den Straßen der Ghettos mit geballten Fäusten gegen die weiße Mehrheit demonstriert wurde.

Guralnick glaubt, daß der „amerikanische Traum“ funktionieren kann, daß in der Soul-Ära der 6l)er Jahre bewiesen wurde, daß „Schwarze und HWlie ZK.wnim’iuirheiieii“ können.

Im 3. und abschließenden Teil führt die Soul-Reise nach Chicago (Vee-Jay. Okeh und Chess). New Orleans (Minit) sowie nach Detroit (Motown) und Houston (Peaeock). zu zwei Firmen in schwarzem Besitz.