Aus der Musikexpress-Ausgabe Februar 1988: Die Ärzte – Zwischen allen Stühlen
Unserer Mai-Ausgabe des Musikexpress liegt Teil 3 der Musikexpress-Bibliothek "Die Ärzte 1984-2012" bei. Dieses Buch enthält auf knapp 200 Seiten alle Artikel, Interviews, Plattenbesprechungen und Live-Reviews, die je im ME erschienen sind. Aus unserem Februar-Heft 1988 lesen sie hier einen Artikel von Ingeborg Schober.
Junge Mädchen lieben sie, vergreiste Kritiker ignorieren sie, verbissene Staatsanwälte jagen sie. Was als Scherz begann, ist plötzlich bitterer Ernst geworden. Ingeborg Schober bricht eine Lanze für die Ärzte.
Historischen Überlieferungen zufolge hat der ideale Rockmusiker jung, schön und rebellisch zu sein, frech, respektlos und unbequem, schlagfertig und provozierend, er muß sich von unten hochgetingelt haben und den Autoritäten auf der Nase herumtanzen. Das sind die Privilegien der Jugend, seit Elvis The Pelvis „That’s Alright, Mama“ schluckaufte. die Ingredienzen, mit der kulturelle und gesellschaftliche Vergreisung kuriert wird.
In den 60er Jahren gab es plötzlich Musiker, die gesellschaftliche und politische Bezüge herstellten – und gerade hierzulande manifestierte sich der Irrglaube, Rockmusik sei automatisch Gesellschaftskritik und politische Agitation. Gleichzeitig bestand und besteht die Hoffnung, es möge doch endlich mal musikalisch lockerer und frischer werden in diesem unserem Land.
Da hatten wir ein bisschen Neue Deutsche Welle – und dann: Die Ärzte. Doch die Ärzte sind doof – da sind sich (fast) alle einig, da herrscht eine verdächtige Solidarität zwischen ansonsten unvereinbaren Kritikern und Medienfraktionen. Die Ärzte, die alle Kriterien der ungeschriebenen Rockgesetze erfüllen, als Buhmänner der Nation?
Bela B: „Wir waren weder die Erneuerung oder die Rettung des Rock ’n‘ Roll, noch hallen wir so eine illustre Vergangenheit wie z. B. Rio Reiser.“
Ihre ersten Konzerte gaben sie in den besetzten Häusern von Berlin, doch bald war ihnen das Punk-Gehabe „zu ernsthaft, fast schon Deutschrock. Die Punks standen genauso wie Herbert Grönemever mit erhobenem Zeigefinger auf der Bühne“.
1983 gewannen sie den Rockwettbewerb des Berliner Senats, veröffentlichten zuerst die EP „Uns geht’s prima“ im Eigenverlag und ein Jahr darauf die erste LP bei der Industrie:
DEBIL. Alles schien bestens. Die Kritiker schrieben Hymnen, im ME/Sounds wurde das Album die „Platte des Monats“.
Jetzt, drei Jahre später, steht es wegen der Lieder „Claudia hat ’nen Schäferhund“ und „Schlaflied“ auf dem Index der Bundesprüfstelle und darf an Personen unter 18 Jahren nicht verkauft werden. Das selbe Schicksal ereilte die dritte LP DIE ÄRZTE von 1986, diesmal wegen „Geschwisterliebe“. Als die Band daraufhin die Steine des Anstoßes auf der Mini-LP „Ärzte über 18“ in den Handel brachte – na, was wohl? Verboten.
Die bundesdeutsche Presse hat’s entweder ignoriert oder verdreht. Farin Urlaub: “ Wir werden als unmündig erklärt, so nach dem Motto: Die Ärzte hatten eine Idee, wie man viel Geld verdient mit schmutzigen Texten. Daß wir die meist-indizierte Band der westlichen Welt sind, weiß kaum einer. Um jemanden ernst zu nehmen, muß man ihn erst einmal wahrnehmen.“
Die seriösen Medien tun sich da wohl schwer. Seit 1984 die Jugendpostille BRAVO die Band für ihr Sommerloch entdeckte (und seitdem fast wöchentlich über Die Ärzte berichtete), gelten die Jungs als hirnlose, dümmliche, dumpfe Schmuddelkinder. In bestimmten Kreisen kann man ihre Musik allenfalls unter der Bettdecke genießen. Die Ärzte als proletarische Mario Simmels?
Verkehrte Welt – Teenager-Idole sind heute coole Showbiz-Stars mit erwachsener Spießer-Eleganz, sind emotional abgeklärt wie Frank Sinatra und parlieren ausgewogenes Medienkauderwelsch. Wenn Die Ärzte doof sind, dann gehören auch T.Rex, Sweet, Trio usw. in den Müll.
Wird Rockmusik 1988 nur noch nach ihrem Etikett beurteilt?
Bela: „Rockkonzerte sind fast vergleichbar mit einer bestimmten Modemarke, die man anzieht. Es gibt in Deutschland zwei Kategorien von Bands, die guten und die bösen – und zu den bösen gehören wir.
Die Toten Hosen wiederum, die ja Ähnliches machen, sind sehr beliebt, weil die sich als ehrliche Jungs von der Straße verkaufen. Wir halten uns in dieser Beziehung zurück. Und als uns beim Münchner Konzert ein dummer Spruch über Barschel rauschgeruischt ist, hieß es sofort, das ist den Ärzten in ihrer Dumpfheit aus Versehen passiert.“
Farin: „Wir regen uns natürlich auch übers politische Zeitgeschehen auf; diese Barschel-Affäre z.B. kann man doch nur lächerlich finden. Immerhin geben wir inzwischen untereinander verfeindeten Gruppen ein gemeinsames Feindbild. „
Auf ihrer letzten Tournee, in Fulda und Regensburg, wollten sowohl CDU als auch die Grünen Ärzte-Konzerte verhindern, nur der SPD-Bürgermeister war auf ihrer Seite: seine Begründung: „Bei den Karnevalsliedern ist Schlimmeres dabei“.
In Fürth marschierte eine Grüne Frauengruppe mit Flugblättern an, auf denen auszugsweise der Text von „Helmut K. schlägt seine Frau“ so abgedruckt war, daß aus der Politpersiflage ein Aufruf zur Gewalt gegen Frauen wurde.
Kann man nach derartigen Mißverständnissen und Anfeindungen überhaupt noch unbefangen arbeiten, setzt da nicht die Schere der Selbstzensur im Kopf ein?
Farin: „Im Gegenteil, für unsere neue LP sind erstmals Stücke entstanden, die sich konkret mit diesem Lande auseinandersetzten. Es wird kein zweites ,Geschwisterliebe‘ geben, das hat es ja schon gegeben. Und bei neuen Titeln können wir nicht voraussehen, wie die Medien reagieren.
Live gehen wir jedenfalls keine Kompromisse mehr ein. Da rutschen einem halt auch mal so Entgleisungen raus wie die in München. Aber dafür nehmen wir auch die Verantwortung auf uns.“
Daß sie all den Arger bewußt provoziert haben, um kostenlose Publicity zu bekommen, weisen sie weit von sich: „Selbst die Plattenflrma hatte bei den Texten keine Bedenken. Vielleicht hätten wir es gelassen, wenn wir wirklich gewußt hätten, was da alles auf uns zukommt. Denn verkaufen tun wir aufgrund der Indizierung logischerweise eher weniger.“
Trotzdem sind inzwischen über 250000 Ärzte-LPs unters Volk gekommen; bei ihrer letzten Tournee waren rund 40000 Fans unterwegs. Darunter überdurchschnittlich viele Mädchen, die an den Texten nichts Anstößiges finden, sondern offensichtlich die Selbstironie begreifen, die den humorlosen Autoritäten verschlüsselt bleibt.
Ihre altersbedingte Faszination für Mädchen, Sex und Crime erklärt Farin so: Es gibt doch nichts, was an Sex und Crime herankommt, außer vielleicht noch Musik und Motorradfahren. Intensive Gefühle und Nervenkitzel, das muß ein Medium wie Rock ’n‘ Roll wiedergeben, wie es eben ein guter Thriller oder Horrorfilm tut.
Diese Moralwächter haben einfach überhaupt keinen Humor. Wir versuchen doch in unseren Konzerten, die guten Seiten des Lebens rüberzubringen. Die gibt es ja auch noch. Wenn’s dem Publikum gut geht, haben wir eigentlich alles erreicht, was eine Band erreichen kann.“
Man sollte froh sein, daß sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn spontan noch Dinge sagen, die andere allenfalls noch denken. Das Fehlen mediengerechter Ausgewogenheit ist noch lange kein Indiz für Unreife – schon eher eins für gesunden Menschenverstand.
Wach, offen und ohne Larmoyanz und Märtyrertum gewinnen die Ärzte selbst dieser Lage noch Positives ab: „Eigentlich sind wir in der glücklichen Lage, weder Kuhgruppe noch Hitparadenfutter zu sein.“
Der aktuelle Musikexpress mit dem beigelegten Buch „Die Ärzte 1984-2012“ ist seit 12. April am Kiosk erhältlich.
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