Jerry Harrison – Casual Gods
Konkurrenz belebt das Geschäft: Nur einen Monat vor dem neuen Album der Talking Heads veröffentlicht der Keyboarder der Band seine zweite Solo-LP. Auch in diesem MÜV ist er zweimal vertreten: Mit CASUAL GODS als Musiker — und mit dem Bodeans-Album als Produzent. Knapp vor den Woodentops machte er das Rennen um die "Platte des Monats".
Überschwengliche Vergleiche von der Art „Das ist das beste Heads-Album überhaupt“ weist Jerry Harrison energisch von sich: „Ich würde sagen, es ist eine ganz gute Platte geworden“. Nach seinem ersten Solowerk THE RED AND THE BLACK, das 1981 zwar Kritiker überzeugte, für die Mehrheit der Plattenkäufer aber etwas zu verschroben war, ist Harrison mit CASUAL GODS jetzt auf dem besten Weg, auch als Solist breitere Anerkennung zu finden. Das Multitalent von Milwaukee greift mit seinem neuen Album den Faden wieder auf, den die Talking Heads nach STOP MAKING SENSE niedergelegt haben: zwingende Rhythmen, tanzbare Songs, treibende Melodien mit einem dicken Schuß Ethno-Beat. Allerdings — Harrison mag diese Schublade nicht: „Das Album ist alles andere als ein bewußt auf ethnisch getrimmtes Konzept, ich wollte nur einen absolut zündenden Rhythmus haben. CASUAL GODS ist ein Tanzalbum — in dem Sinne, wie die Talking Heads früher eine Tanz-Combo waren.“
„Gelegenheitsgötter“ — wenn ein derartiger Albumtitel dem intellektuellen Hirn eines Harvard-Absolventen entspringt, erwartet man einen komplizierten Hintergrund. Er dämpft den Interpretationseifer: „Der Name stammt von einem französischen Konzept-Künstler. Er hat so einen bitter-süßen Geschmack und provoziert zum Nochdenken. Und damit erfüllt er seinen Zweck. “ Harrison hat außergewöhnlich lange, mit einigen Pausen fast drei Jahre, an CASUAL GODS gearbeitet und sämtliche Produktionskosten aus eigener Tasche vorfinanziert; nur so konnte er die vollständige Kontrolle über Musik und Produktion behalten. Um einen Deal hat er sich erst mit dem fertig gemischten Band bemüht:
„Den größten Teil habe ich in meiner Heimatstadt Milwaukee aufgenommen. Ich mußte eine Zeit lang nach Hause, weil mein Vater gestorben und meine Mutter krank war. Ich fand ein kleines, preiswertes Studio im Keller eines Bekannten. Das Studio ist inzwischen ziemlich bekannt, ich habe dort THE BLIND LEADING THE NAKED der Violent Femmes, das neue Bo-Deans-Album und eine Single von It’s Immaterial produziert“.
Nachdem die Talking Heads, deren Vollmitglied Harrison weiterhin ist, ihre Aktivitäten auf Studioarbeit beschränkt haben, bleibt dem Gitarristen/Sänger/Keyboarder Zeit, im Frühjahr mit seiner neuen Band Casual Gods auf Europa-Tournee zu gehen.
Mit dabei hat er einige Musiker, die auch auf dem Album mitgewirkt haben: Alex Weir an der Gitarre, Keyboarder Bernie Worell, Ernie Brooks am Baß; der Drummer heißt Rick Jagger und wird später noch durch einen Percussionisten aus der Tina-Turner-Liveband ergänzt. Harrison will nicht der Alleinherrscher sein: „Ich werde mich auf der Bühne nicht als Schmalspur-Mick Jagger aufspielen „.
BIOGRAPHIE
Jerry Harrison begann seine musikalische Laufbahn 1971, ein Jahr vor dem Abschluß in Harvard, mit der von John Cale produzierten Kult-Band The Modern Lovers. Zwischen dem Split der Lovers und seinem Einstieg bei den Talking Heads 1977 nahm er ein paar Semester Architektur mit, arbeitete für die „Cambridge Computer Corporation“ und spielte das Album NICHT LIGHTS mit Elliott Murphy ein.
1977 lernte er David Byrne, Tina Weymouth und Chris Frantz bei einem ihrer spektakulären Auftritte im New Yorker „Ocean Club“ kennen. Der Funke sprang augenblicklich über.
Von Talking Heads 77 bis NAKED (1988) arbeitete Harrison an den zehn Heads-Alben und am Film STOP MAKING SENSE mit. Bei den Konzerten bildete er an Keyboards und Gitarre den ruhigen Gegenpol zu dem ekstatischen Byrne.
Parallel zu den Talking Heads verfolgte ersehe eigenen Projekte, als Musiker und Produzent. Neben den beiden Solo-Alben spielte er u.a. gemeinsam mit Bootsy Collins 1984 den Anti-Reagan-Song „Five Minutes“ ein. Die Single wurde in Amerika nur auf einem Independent-Label veröffentlicht, da der Industrie der Song zu heiß war.
Als Produzent hat sich Harrison in den USA längst einen Namen gemacht. Er kümmerte sich um die Violent Femmes, Nona Hendryx, Elliott Murphy, It’s Immaterial, die BoDeans und die Newcomer-Band Semi-Twang.