Herzmedizin auf 88 Tasten


»I bin in the right place / but it musta bin the wrong time«. So hat sich der gute DR. JOHN schon vor über fünfzehn Jahren selbst auf die Schippe genomen. DR. JOHN? Der Verrückte mit den bunten Straußenfedern auf dem Kopf, der musikalische Voodoopriester, der pelzbemützte Nighttripper, gibt’s den noch? Malcom John Michael Creaux Rebenack hat eine Katzennatur. Sieben Leben. Sein geschnitzter Stock mit dem Totenkopfgriff liegt ständig in Reichweite und hat ihn vor dem Ärgsten beschützt, bei irgendeinem dieser Sumpfheiligen aus dem Mississippidelta hat er scheinbar einen ganz dicken Stein im Brett. Und jetzt ist das Stehaufmännchen namens DR. JOHN wieder da. »Herrlich altmodisch« ist so ein furchtbar abgenutzter Ausdruck, der viel zu oft und unbedacht verwendet wird. Aber wie soll man es nennen, wenn sich Dr. John mit ein, zwei Handvoll von über jeden Zweifel erhabenen Musikern ins Studio begibt, und ein Album mit Jazzstandards aufnimmt? »In A Sentimental Mood«, seine neue LP, klingt nach drei Uhr morgens, wenn die Stühle schon auf den Kneipentischen stehen, und das einsame Pärchen an der Theke bei einer letzten Zigarette und dem Schlenderschluck durch intensive Blicke die Übernachtungsfrage klärt. Daß das auf »In A Sentimental Mood« nicht zum Kitsch as Kitsch can verunglückt, dafür bürgen DR. JOHNS exquisiter Geschmack bei der Auswahl der Stücke, seine Stimme, die immer noch wie ein »riesiger Ochsenfrosch mit Mandelentzündung« (John Carr im NME) klingt, und sein relaxtes, vollkommen unangestrengles Klavierspiel. Der Doktor ist schon zu lange im Geschäft, um aus Verlegenheit den Griff in die Antiquitätenkiste zu tun, sein eigenes Material gehört teilweise selbst schon zu den zeitlosen Standards, »and there’s more where these came from.« Nein, hier hat sich eine zweihundert Pfund schwere Musikenzyklopädie ganz einfach ans Klavier gesetzt, und mit entspannter Präzision, die sich auch auf die Mitspieler übertrug, neun Klassikern neues Leben eingehaucht. Schon mit dem ersten Titel geht des Doktors Rezept auf: Nach dem Bläsertrio zaubert seine inspirierte Rechte eine Perlenkette aus Ebenholz und Elfenbein aus dem Flügel, »Another bride, another groom …» – im Duett mit Rickie Lee Jones singt DR. JOHN »Makin‘ Whoopee!« Daß vor ihm (neben zwei Dutzend anderen) bereits Count Basie und Ella Fitzgerald mit Louis Armstrong diesen Song über die Nöte des Ehestandes interpretiert haben, braucht DR. JOHN keine Kopfschmerzen zu bereiten. Wer von James Booker und Professor Longhair das Klavierspielen gelernt und deswegen den Ehrennamen »Black Mac« bekommen hat, kann sich ohne eine Spur von Peinlichkeit auch an Lieder wie »More Than You Know« oder »Don’t Let The Sun Catch You Cryin’« wagen, ohne daß er wie die weiße Version von AI Johnson klingt. Obwohl er auch das kann, wird sich DR. JOHN mit »In A Sentimental Mood« bestimmt keinen Spitzenplatz in der Charts erspielen. Aber ganz sicher einen Stammplatz ganz vorn im Plattenregal.