Propaganda: Agit-Prop
Mit technokratischen Gruselklängen stürmte Propaganda vor fünf Jahren die Charts. Heute hat Dr. Mabuse ausgemetzgert. Neue Leute, neue Songs und neues Label - die Konzeptgruppe aus Düsseldorf agitiert mit Schmusesongs und Tanzmusik musikalischer denn je. ME/Sounds-Mitarbeiterin Martina Wimmer besuchte das Propaganda-Ministerium.
Propaganda 1983. Ein Bankangestellter, ein klassischer Musiker, eine Goldschmiedin und eine halbprofessionelle Sängerin finden auf der heimischen Couch die gemeinsame musikalische Ebene. Die ersten Demos des teutonischen Elektro-Sounds rufen Trevor Hörn und den Journalisten Paul Morley auf den Plan. Erfolgsproduzent und Schreiber-Papst basteln gerade am eigenen Label ZTT und machen Propaganda zu ihrem zweiten Reißbrett-Baby nach Frankie Goes To Hollywood. Drei Single-Hits, „Dr. Mabuse“, „Duel“, „P. Machinery“ und euphorisches Lob für ihr Album-Debut A SECRET WISH machen den plötzlichen Erfolg ihrer klanglichen (Alp-) Traumvisionen zwischen Kühlschrank und Zauberkiste zwei Jahre später perfekt. „Aus dem Wohnzimmer in die Charts,“ grinst Gründungsmitglied Michael Mertens. „Ich war damals eigentlich der einzige richtige Musiker in der Band.“
Propaganda 1990. Heute ist Michael Mertens der einzige Überlebende Propagandist. Seine neue Begleitung: Derek Forbes und Brian McGhee, zwei Schotten aus dem Nachlaß der Simple Minds an Baß und Schlagzeug, und als neue Propaganda-Stimme die Amerikanerin Betsy Miller.
Internationale Vielfalt statt streng-deutscher Kühle und entspannt melodiöse Tanzrhythmen auf der neuen Single „Heaven Give Me Words“ zeugen von einer musikalischen Frischzellenkur nach schwerer Krise.
Diese „Krise“ kennt die Welt besser aus Schlagzeilen über Label-Kollegen Frankie Goes To Hollywood. Brav gemäß den Gesetzen des Marktes sollte nach der ersten Live-Tour 1986 die nächste Propaganda-LP entstehen. Doch in zwei erfolgsverwöhnten Jahren hatten die ZTT-Betreiber Pioniergeist und Idealismus auf der Strecke zur ersten Million gelassen. „Die haben nur noch Zahlen gesehen, das war für uns genauso frustrierend und enttäuschend wie für Frankie Goes To Hollywood. Wir waren sehr blauäugig damals, dachten das wären altes Freunde dort. Und dann haben sie uns für die zweite LP Konditionen gestellt, mit denen wir einfach nicht arbeiten konnten.“ Beide Bands kehrten damals ZTT den Rücken, doch Finanzlöwen Hom und Morley konnten vor allem im Fall Propaganda eine ganze Weile lauter brüllen als die deutschen Gegner. „Ich habe damals eine Menge über das antiquiert-feudalistische Rechtssystem im lieben England gelernt. Wer das Geld hat, sitzt da erstmal am längeren Hebel. “ Der Hebel hieß in Sachen ZTT gegen Propaganda „Einstweilige Verfügung“. 14 Monate konnte Propaganda „als Band eigentlich gar nichts machen. „
Die Auseinandersetzung mit ihrem Label forderte von der Viererformation aus Düsseldorf schmerzlichen Tribut. Sängerin Claudia Brücken hatte das Lager gewechselt, beschloß weiter J für ZTT zu arbeiten und die deutsche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ohne Sängerin, dafür mit der musiktherapeutischen Unterstützung von Forbes und McGhee, die vom Lohnarbeiter auf der ’86er Tour schnell zum festen Line-Up avancierten, begab sich Michael Mertens auf die Suche nach der neuen Identität. Und fand sie in Betsy Miller.
Das Märchen am Rande: die gebürtige Amerikanerin frönt ihr Mädchenleben als Kellnerin in Münchner „Szene“-Läden, nebenbei singt sie in ihrer Freizeit mit Hobby-Musikern. Betsy: „Die wollten alle keine Popstars werden.“ Susanne Freytag (die ehemalige Propaganda-Zweitstimme bastelt jetzt an ihrer Karriere als Goldschmiedin) schaffte für Betsy den Kontakt zum Rest der Band. „Sie war optisch genau der Typ Frau, den wir wollten. Ich dachte mir nur, „Hoffentlich kann sie singen‘.“
Betsy kann singen, die Wärme ihrer Stimme und ihre freundlich-natürliche Art sind es, die Propaganda in den Neunzigern eine viel menschlichere Note verleihen. Für Betsy war damals das Abenteuer perfekt. Heute, nach zwei Jahren intensiver Arbeit an der LP 1-2-3-4 sieht sie ihren neuen Job etwas abgeklärter: „Es ist besser als Kellnern, oder?“
Doch bestimmt nicht weniger Arbeit. Für Michael Mertens war beim Neustart mit Betsy auf jeden Fall klar: „Propaganda entwickelte sich von einer Konzeptidee zur Band.“
Eine echte Band wollen sie jetzt sein, und so gibt es auf 1-2-3-4 neben dunklen Elektronik-Schatten aus der 85er Vergangenheit auch viel Live-Klänge der Rhythmus-Sektion zu hören. „Brian und ich liefern das klassische Rock ’n‘ Roll-Set-Up, wir schrammeln los wie Status Quo, haha“, frozzelt Bassist Derek in breitem Schottisch. Alles Lüge: Propaganda ist in seinen Klangexperimenten weicher, melodiebetonter geworden, liefert traumhafte Schmachtharmonien zwischen gewohntem Paranoia-Pop. Doch warum bekommt eine neue Band keinen neuen Namen? „Wir haben uns doch nie aufgelöst. ZTT hat das Gerücht in die Welt gesetzt, doch wir fanden es überflüssig, das zu dementieren. Das beste Dementi ist unser neues Album“.