Live is Live?
Playback im Fernsehen - seit Jahren regt sich schon keiner mehr darüber auf. Doch jetzt schreien die Freunde des ehrlichen Musikerschweißes zu Recht auf: Bei Konzerten von Madonna, Janet Jackson, Milli Vanilli und Paula Abdul kommt die Lead-Stimme vom Tonband.Der Star wird zum Pop-Poser, zum Lippen-Akrobat. Verrat? ME/Sounds-Redakteur Peter Wagner meint: Das ist erst der Anfang.
Ein Cassetten-Multi fragt: „Ist es live, oder ist es Memorex?“ Die Antwort finden wir bei Madonna, Janet Jackson, Paula Abdul und Milli Vanilli: Es ist Ampex, das meistverwendete Band-Material für professionelle Tonbandmaschinen.
Wann immer diese Acts auf den Bühnen stehen, läuft die Ton-Konserve synchron mit, ihre Playbacks ergänzen den Live-Sound – eine Technik, die mittlerweile auch mehr als drei Viertel der tourenden Rock-Bands einsetzen.
Sogar Acts der härteren Gangart wie ZZ Top und Aerosmith benutzen Tonbandmaschinen und Computer-Sampler mit konservierten Musik-Passagen (z.B. Bläser-Sätze, Orchester-Parts), und auch Bon Jovi veredeln ihren Live-Sound. indem sie etliche Chor-Passagen aus der Konserve – so der Fachjargon – „einfliegen“ lassen. Ziel: Die Songs sollen live klingen wie auf Platte. Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied jedoch trennt diese Rockbands von den Pop-Acts der Madonna-Klasse: Billy Gibbons, Steven Tyler und Jon Bongiovi singen ihre Lead-Stimmen selber.
Im Fernsehen (mit immer weniger Ausnahmen)seit vielen Jahren die Regel, sorgte die Verwendung von Voll-Playbacks in diesem Sommer bei den aktuellen Tourneen von Madonna, Janet Jackson. Paula Abdul und Milli Vanilli für große Aufregung in den amerikanischen Medien. Den Stein ins Rollen brachte 1989 ein Auftritt der New Kids On The Block in Boca Raton, Florida. Die Kids sollten den versammelten Managern der internationalen CBS-Tochtergesellschaften als der große Act der Zukunft präsentiert werden, als die Bühnentechniker versehentlich nicht das Tonband mit den Voll-Playbacks, sondern nur die Instrumental-Konserve ohne Gesang einspielten. „Die Jungs halten die Augen weil aufgerissen vor Panik“, erinnert sich ein Besucher, „der Lead-Sänger krächzte kurz ins Mikro, wurde knallrot im Gesicht und rannte von der Bühne.“ Inzwischen können sich die New Kids das Wohnzimmer mit goldenen Schallplatten tapezieren.
Frühjahr 1990. Eine weibliche Pop-Kollegin der Kids probt für ihre anstehende Welttournee. „Du kannst nicht singen?“ fragt Madonna den Tänzer, der auf ihrer „Blonde Ambition“-Tour den Part des Dick Tracy übernehmen soll. „Baby, das ist völlig in Ordnung. Ein Haufen Leute, die nicht singen können, machen Platten.“ Sprach’s, schiebt das Mikro zur Seite und beginnt mit den Proben von „Now I’m Following You“. dem einzigen Song der Show, bei dem das Lip-Syncing offiziell zugegeben wurde.
Vielleicht entschied sich Madonna von Konzert zu Konzert, immer größere Teile ihres Gesanges lieber vom Band einzuspielen, oder es wurden nur die Sinne der beobachtenden Kritiker schärfer, die in jeder Stadt mehr Songs aus der Konserve gehört haben wollten als beim Gig vorher. Daß bei nicht unerheblichen Teilen ihrer Show Madonnas Gesang vom Band kam. ist inzwischen allerdings unbestritten. Das bestätigt auch ihr deutscher Tourveranstalter (siehe Kasten Seite 14). Fraglich ist nur, wieviele Songs vom Band kamen. Im letzten Tour-Drittel jedenfalls schien sie nur noch „Holiday“ voll live zu singen, was vor allem deshalb unangenehm auffiel, weil dies der einzige Song mit schmerzlich falschen Gesangs-Tönen war. wogegen der Rest der Show richtig gut klang. Wie von der Platte.
Allerdings nicht von der Fest-Platte, wie der Live-Betreuer der Firma „New England Digital“ (NED). Hersteller des Synclavier. versichert. Denn ein Synclavier, den gigantischen Musik-Computer, der sich als einziges System live für die Einspielung der kompletten Leadvocals vom Festplattenspeicher einsetzen läßt, hatte Madonna jedenfalls nicht dabei. Das bleibt den Größten unter den Großen vorbehalten – Michael Jackson schleppte auf der „Bad“‚-Tour gleich drei Synclaviere rund um den Erdball. Ein kleineres (180.000 Dollar) im Hotelzimmer zum Komponieren, zwei große Systeme zu je 400.000 Dollar standen hinter der Bühne. „Die ganz hohen Kieckser und Stöhner hat er von der Harddisk eingespielt“, erinnert sich der NED-Mann. Die hochversicherte und anfällige Superstar-Stimme sollte von den am stärksten belastenden Vokal-Eskapaden verschont bleiben. Dabei sang Michael tatsächlich fast alles live, „nur ein einziges, extrem schwer zu singendes Stück kam vom Synclavier.“ Welches, will uns der NED-Betreuer nicht verraten. Im übrigen hofft er. daß „es unsere Kunden nicht nötig haben, die gesamten Leadvocals vom Playback einzuspielen. „
Auch Madonna hatte es nicht nötig, ihren Gesang vom Synclavier einfliegen zu lassen – ihr genügte eine herkömmliche Tonbandmaschine. Ob Madonna und ihre lippenbewegenden Pop-Kollegen das Gesangs-Playback auf der Bühne wirklich nötig haben, ist sowieso ziemlich unerheblich. Und selbst wenn Rob Pilatus, eine Hälfte des playback-gestählten Duos, bei der „Grammy“-Verleihung protzt. Milli Vanilli sei für die Musik genauso wichtig wie früher Bob Dylan. liegt er damit gar nicht so falsch. Schließlich geht es all diesen Acts nicht darum, daß musikalisches Handwerker-Ethos verletzt oder gar der Rock n‘ Roll verraten wird. Es geht um Show, sehr viel Geld und vor allem um eine Entwicklung der Pop-Musik, in der an allen Fronten die Grenzen zwischen Leben und Retorte sowieso immer fließender werden. Auch wenn das gestandenen Rock „n‘ Rollern, wie zum Beispiel Marius Westernhagen. sauer aufstößt, der Künstler mit Live-Playback schlicht „undiskutabel“ fmdcl Oder Tote Hosen-Chef Campino, der nach dem Besuch eines Madonna-Konzertes wetterte: „Die könnte ja gleich als Kinofilm auf Tour gehen. Aber hat Madonna eine Ehre? Hat sie den Anspruch, eine ehrliche Musiker-Seele zu sein?“
Madonna hat natürlich ganz andere Ansprüche. Sie und ihre großen Pop-Berufsgenossen erfüllen nichts anderes als die Erwartung ihres Publikums an eine perfekte Show. Und dazu gehört nun mal ein choreographischer Aufwand an puste-zehrenden Tanzeskapaden, der es den Sängern und Sängerinnen physisch unmöglich macht, dazu auch noch live zu singen. Campinos Rock-Bruder Billy Gibbons von ZZ Top reagierte darauf nach einer Madonna-Show gelassener: „Ich weiß nicht, was daran falsch sein soll. Die Musik ist doch ziemlich nebensächlich bei ihrer Show. Da geht es doch um die Tanzerei, und dabei kommt sie völlig außer Atem. Das einzige, was ich mir gewünscht hätte: ihr Keuchen live zu hören.“
Und damit trifft er genau das Argument, mit der sich die Hintermänner der Plastik-Poser gegen die Vorwürfe der Schweiß ’n‘ Live-Fraktion verteidigen. Bestes Beispiel: Milli Vanilli, Frank Farians deutsche Speerspitze mit Welt-Erfolg und Vorreiter in Sachen Tanz-Overkill auf Live-Bühnen. Rob & Fab. seit Bestehen des Duos von Vorwürfen verfolgt, sie würden noch nicht einmal auf Platte selber singen, haben jetzt sogar ein Dutzend Journalisten in Farians Studio in der Nähe von Frankfurt eingeladen. Die Reporter sollen sich bei den Aufnahmen zur kommenden Vanilli-LP (erscheint im Frühjahr 19S) 1) davon überzeugen, daß die beiden Langzopf-Träger tatsächlich selber singen. Noch während der Frage, ob sie das auch auf ihrer geplanten Welt-Tournee nächstes Jahr machen werden, verdreht Ingrid Segith, rechte Hand von Frank Farian, die Augen: „Das Thema geht uns langsam auf den Nerv. Natürlich singen sie teilweise vom Band.“ Wer jemals versucht hat. während eines 4000-Meter-Laufes ein munteres Liedchen zu singen, weiß Bescheid: „Das machen doch alle Tanz-Gruppen. Wenn sie wie die Wilden über die Bühne rasen – wie sollen die dabei auch noch singen? Milli Vanilli machen das auch – bei den Tanz-Nummern kommt der Gesang vom Band, die langsameren Stücke singen sie live.“ Fragen wir lieber noch einmal nach: Singen sie einige Songs wirklich live? „Das würden sie psychologisch gar nicht aushalten“, bestätigt Ingrid Segith, „überhaupt nicht zu singen und immer nur so zu tun. Klar – die ruhigeren Nummern singen sie alle mit.“
Ein Stichwort, daß inzwischen weit mehr Acts betrifft als nur die großen Pop-Balette – „Mitsingen“. Jon Bongiovi läßt sich den einen oder anderen Refrain-Gesang zu den Live-Vocals einfliegen. damit seine Stimme an diesen Stellen so fett klingt wie auf Platte und auch ein alternder Sänger wie Robin Gibb läßt die hohen Kopfstimmen-Passagen, Markenzeichen seiner Bee Gees, inzwischen vom Band einspielen. Sebastian Bach von Skid Row prahlt gar: „Die einzigen Hardrock-Bands, die keine Tonbandmaschinen hinter der Bühne stehen haben, sind Guns n’Roses, Metallica und wir.“
Hinter den Playback-Einspielungen steckt vor allem der Versuch, die mit immensem technischen Studio-Aufwand produzierten Platten-Sounds live auf die Bühne zu bringen. Und das trifft naturgemäß die stimmlich versierten Rock-Frontleute weniger hart als die eher aufgrund von Optik, Glamour und Image erfolgreichen Pop-Sänger. Moderne Sampling-Systeme, allen voran wieder das Synclavier, machen es möglich, daß ein Sänger noch nicht mal einen einzigen richtigen Ton im Studio singen muß. Sein orales Elaborat wird auf Computer-Festplatte aufgezeichnet und die „Pitch Correction“-Funktion des Sample-Computers sorgt dafür, daß jeder falsche Ton korrekt in die Melodie hineingebogen wird, ohne daß der Plattenkäufer von dieser Fieselei irgendetwas mitbekommt.
Live ist allerdings dieses Pitch-Correcting ebenso unmöglich wie die handgespielte Reproduktion der bis zu 64 Instrumental-Spuren, die auf Platte zu hören sind.
„Um das zu bringen, müßten sich auf der Bühne sechs Kevboarder rings um eine Drum-Maschine setzen. Dann kommt ein Mann in Arbeiter-Klamotten dazu, der den Hauptschalter des Computers umlegt“, scherzt Pop-Produzent Davitt Sigerson. Noch ein Nachteil: „Wenn du eine Show mit Playbacks auf den Bruchteil der Sekunde durchplanst, haben die Musiker, die live zum Playback spielen, überhaupt keine Freiheit mehr. Sie müssen genauso maschinell spielen wie der Computer und wenn der Gitarrist in Ekstase sein Solo vier Takte zu lange spielt, bricht der Song sofort zusammen, “ Das ist auch der Grund, warum sich Deutschlands Vorzeige-Punkrocker Live-Playbacks nicht leisten können: „Wir spielen viel zu ungenau“, gesteht Campino. „bei uns wackelt dauernd das Tempo. Aber andersherum kann ich mir das schon vorstellen: In ein paar Jahren stehe ich hinter der Bühne und singe, während vorne einer meine Rolle mimt, der besser und jünger aussieht und noch nicht so viele Falten im Gesicht hat.“
Alle Acts, bei denen Aussehen mindestens so wichtig ist wie die Musik, müssen ihre musikalischen Defizite auf der Bühne anders ausgleichen. Mit Licht-Show, Choreographie, Video-Einspielungen, Pyrotechnik, kurz: mit allem, was die zumeist sehr jungen Fans von einem „Konzert“ ihres Stars erwarten. Und genauso funktioniert Milli Vanilli live – egal, wie viel oder wenig sie selber singen. Ingrid Segith: „Ich weiß nicht, ob die zehn- bis 15jährigen Kids bei Konzerten von Milli Vanilli oder New Kids On The Block überhaupt daran interessiert sind, daß die Jungs gerade live singen. Die wollen doch vor allem ihre Stars aus der Nähe sehen. Wenn ich nachher ins Toto-Konzert gehe, fände ich es schon seltsam, wenn der Gesang vom Band käme. Aber bei den Rock ’n‘ Roll-Cruppen hat man ja auch andere Erwartungen als bei Pop-Stars.“
Bösen Kontakt mit diesen Erwartungen bekamen auch die Soul „n“ Rock-Meister der amerikanischen Kapelle Was (Not Was). Sie waren letztes Jahr gemeinsam mit Paula Abdul. Milli Vanilli und Tone Loc auf der „Club MTV Tour“. Naturgemäß bedienten die drei anderen Acts das musikvideofreudige, sehr junge Publikum mit aufwendigen Shows, untermalt von Konserven-Musik, während Was (Not Was) alles live spielte. Bittere Erfahrung: Die meisten Kids nutzten die Was-Show, um draußen im Foyer eine Cola zu trinken. David Was ist heute schlauer: „Die gehen nicht zu Konzerten, um sich an musikalischer Qualität zu erfreuen. Sie suchen nur die Nähe zu ihren Stars. Die Tour war eigentlich nur die 3-D-Imitation einer Tournee. Die Lichter gehen an, der Saal lobt, und dabei müssen die Sänger noch nicht einmal ihre Lippen bewegen. Diesen Kids könnte man auch bunte Hologramme auf die Bühne projezieren. Vielleicht ist das die Konzert-Form der Zukunft: Die Musiker bleiben zu Hause, auf Tour gehen die Computer und Disketten.“
Was das alles noch mit einem Konzert zu tun hat? Nicht mehr viel, meinen zumindest einige amerikanische Politiker. In den US-Bundesstaaten New York. Kalifornien und New Jersey wird schon überlegt, ob man eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht erlassen soll. Dann müßte auf den Tickets der Aufdruck stehenr „Bei diesem Konzert werden die Lead-Vocals vollständig oder teilweise von Tonträgern eingespielt.“ Veranstalter, die Tickets für Konzerte, in denen diese Playback-Technik eingesetzt wird, ohne diesen Hinweis verkaufen, müßten dann mit einem Bußgeld bis zu 50.000 Dollar rechnen. „Völliger Blödsinn!“, wettert Ossy Hoppe vom deutschen Konzert-Riesen Marek Lieberberg. „Das wäre eine schlimme Zensur. Die freie Entfaltung und Entwicklung der Musik muß auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil unseres demokratischen Systems bleiben.“
„Zensur“ will wahrscheinlich keiner, noch nicht einmal die Anti-Playback-Hardliner unter den US-Politikern. Was jedoch spricht gegen die korrekte Information der Konzertbesucher? Einige deutsche Tour-Veranstalter (Rieger, Jahnke, Hammer) sind uneingeschränkt für eine entsprechende Kennzeichnungspflicht der Tickets. Joachim Klautzsch vom Konzertbüro Sunrisegeht noch einen Schritt weiter: „Wir verstehen, daß den sehr tanzorientierten Acts die notwendige Puste für einen guten gesanglichen Vortrag fehlen mag. Wir sind aber grundsätzlich der Meinung, daß ein Konzertbesucher Anrecht auf die tatsächliche stimmliche Präsenz des Künstlers auf der Bühne hat. Trigger-, Sampler- und Sequenzertechnik sowie all die anderen Effekte sind schon genug dafür verantwortlich, daß viele Auftritte zu synthetisch erscheinen.“
Mag sein, daß der Konzertbesucher ein Anrecht darauf hat, daß sein Star auf der Bühne auch wirklich live singt. Die Tournee-Erfolge der Pop-Poser sprechen eine andere Sprache – was nützt das beste Recht, wenn keiner es in Anspruch nimmt? Live is live, und wer das Nudelgericht aus der Dose, die Gemüsesuppe aus der Tüte, den Hamburger aus der Plastikbox „irgendwie echt lecker“ findet, der wird auch nichts dagegen haben, wenn seine Stars auf der Bühne die eine oder andere Gesangs-Konservendose aufreißen. Diese Fruchtzwerge („… mit lebenden Kulturen …“) des Pop sind für ihre Fans so wertvoll wie ein kleines Steak. Und Fleisch-Fressen paßt ohnehin nicht so recht in den Stil der neuen Zeit.